Wo das Web blockiert ist

Das neue Online-Angebot Herdict zeichnet auf, in welchen Regionen der Welt die Freiheit des Netzes besonders stark gefährdet ist.

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Von
  • David Talbot

Internet-Zensur kommt weltweit aus unterschiedlichen Gründen vor, doch die genauen Dimensionen des Problems ließen sich bislang nur schwer dokumentieren. Ein neues Online-Projekt namens Herdict, das an der Harvard Law School entstanden ist, versucht nun seit Ende Februar, der Sache durch die Mithilfe von Nutzern auf den Grund zu gehen – per Crowdsourcing in aller Welt soll ein Echtzeitbild aktueller Netzblockaden entstehen.

"Wir hoffen, eine ständig aktualisierte und zunehmend feinere Karte von Internet-Sperren auf der ganzen Welt erstellen zu können – und zwar live", erläutert Jonathan Zittrain, Juraprofessor an der Fakultät und Mitbegründer des renommierten Berkman Center for Internet and Society. Es gehe dabei nicht nur darum, dass Regierungen, die unliebsame Inhalte loswerden wollten, Websites blockierten, sondern auch um Firmen, die das Netz ihrer Angestellten filterten. Erfassen wolle das Projekt außerdem Content-Löschungen aus anderen Gründen, etwa wegen möglicher Urheberrechtsverletzungen.

Herdict erweitert damit die Arbeit der bestehenden OpenNet Initiative (ONI), einem Gemeinschaftsvorhaben, das von Wissenschaftlern an Harvard University, University of Toronto, University of Oxford und University of Cambridge koordiniert wird. Die ONI hat sich zum Ziel gesetzt, Web-Filtermaßnahmen in der ganzen Welt zu dokumentieren. Derzeit sind die Bemühungen aber noch sehr arbeitsintensiv: Forscher bitten dazu normalerweise Freiwillige in bekannten Zensurländern, den Zugriff auf Websites mit bestimmten sensiblen Informationen zu prüfen. Diese Methode trug zu einer Studie namens "Access Denied" bei, die vor drei Jahren eine Karte hervorbrachte, die dokumentierte, dass das Internet in rund 40 Nationen weltweit regelmäßig gefiltert wird.

Das Projekt soll weitergehen, wird nun aber durch Berichte von Nutzern ergänzt und auf Herdict dargestellt. Der Projektname ist eine Abkürzung für "Verdict of the Herd" – das Urteil der Herde, wie Zittrain erklärt. Gemeint sind damit User auf der ganzen Welt. Die Website sammelt Berichte und stellt sie als Trendlinien über längere Zeiträume dar, zeigt an, welche Sites in welchen Ländern blockiert werden und wurden.

Herdict ist derzeit allerdings nur dafür vorgesehen, anzuzeigen, dass ein Angebot blockiert ist – warum das geschieht, wird nicht ermittelt. So lässt sich auch nicht feststellen, ob ein Zugriffsproblem tatsächlich mit Zensur zu tun hat, durch den Filter eines Internet-Providers hervorgerufen wurde oder an Server- und Leitungsstörungen lag. Die Forscher gehen aber davon aus, dass sich entsprechende Rückschlüsse durch die Beobachtung langfristiger Trends ziehen lassen. "Derzeit arbeiten wir dabei noch vollständig im Dunkeln. Gleichzeitig passieren diese Dinge vollkommen sichtbar, weil jeder Einzelne ja seine eigenen Erfahrungen mit der Zensur machen kann." Theoretisch könnte das Herdict aber auch dafür verwendet werden, um die Servicequalität eines Internet-Anbieters zu überprüfen.

In eine Zwickmühle könnte das Projekt allerdings geraten, sobald die Seite selbst blockiert wird. Deshalb soll das Angebot laut Zittrain auch noch auf anderen Wegen erreichbar sein, etwa durch den Kommunikationsdienst Twitter: "Wenn wir blockiert werden, wäre das quasi unser erster Meilenstein: Wir haben genug getan, um es wert zu sein, zensiert zu werden!", sagt der Juraprofessor.

Wer in China und anderen Zensurstaaten unterwegs ist, für den hat Hal Roberts, Wissenschaftler am Berkman Center, unterdessen mehrere Tipps parat: In einer Untersuchung bekannter Umgehungswerkzeuge wie Ultrareach, Psiphon, Tor, Dynaweb und Anonymizer stellte sich vor Ort in Peking, Shanghai und Hanoi heraus, dass alle mehr oder weniger ihren Dienst taten. "Wenn man in einem Internet-Café in China sitzt und eine bestimmte Seite sehen will, geht das schon." Hauptproblem solcher Werkzeuge sei aber die teilweise sehr knappe Bandbreite. Die schnellste Lösung, Ultrareach, sei acht Mal langsamer gewesen als das reguläre Netz. (bsc)