"Das Betriebssystem des Gehirns"

Henry Markram ist Gründer des Brain Mind Institute in Lausanne. Seit 2005 arbeitet er im "Blue Brain"-Projekt daran, das Hirn von Ratten Neuron für Neuron im Computer zu simulieren. In zehn Jahren will er das auch mit dem menschlichen Gehirn tun.

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Inhaltsverzeichnis

Henry Markram ist Gründer des Brain Mind Institute in Lausanne. Seit 2005 arbeitet er im "Blue Brain"-Projekt (dazu auch TR 1/2006) daran, das Hirn von Ratten Neuron für Neuron im Computer zu simulieren. In zehn Jahren will er das auch mit dem menschlichen Gehirn tun. Das Interview erscheint gekürzt in der Print-Ausgabe 06/09. Das Heft ist ab dem 20.5. am Kiosk oder portokostenfrei online bestellbar.

Technology Review: Professor Markram, Sie sind Hirnforscher, wir befinden uns aber auf einem Kongress über Informations- und Kommunikationstechnologie. Was tun Sie hier?

Henry Markram: Die ultimative Form von Informationsverarbeitung und Kommunikation findet im Gehirn statt.

TR: Heute morgen haben Sie in Ihrem Vortrag von "Wissenschaft im industriellen Maßstab" gesprochen. Können Sie erklären, was das bedeutet?

Markram: Nun, die Informations- und Kommunikationstechnologie muss sich darüber klar werden, vor welchen Anforderungen Sie demnächst stehen wird. Und das wird eine Flutwelle an Daten sein – ein Tsunami. Diese Welle wächst, sie ist riesig. Unter anderem wegen dem, was ich Wissenschaft im industriellen Maßstab nenne. Wir haben Gensequenzierer mit hohem Durchsatz. Stellen Sie sich vor, wir würden das Genom jedes Menschen auf der Erde sequenzieren: Drei Milliarden Basenpaare pro Mensch. Wie werden diese Daten gespeichert? Verarbeitet? Wie stellen Sie Korrelationen fest? WIe sollen diese Daten geschützt werden? Das sind Fragen, die die Informatik beantworten muss. Es geht nicht nur um die Hardware – es geht auch um die Software, die Algorithmen und Strategien.

TR: Betrifft das nur die Biologie?

Markram: Nein. Denken Sie nur an den Klimawandel. Ich glaube, das es nicht genügt, Modelle zu erstellen. Was wir machen müssen, ist eine Art Reverse Engineering des gesamten Planeten. Dafür brauchen Sie eine Menge Daten.

TR: Sie leiden anscheinend nicht unter einem Mangel an großen Ideen. Sie wollen nicht nur das menschliche Gehirn simulieren, sondern auch den ganzen Planeten?

Markram: Nein, will ich nicht. Ich habe das Beispiel nur angeführt, weil Sie mich gefragt haben, ob das Problem der industrialisierten Wissenschaft nur die Biologie anginge. Wovon wir hier reden sind komplexe Systeme. In komplexen Systemen ist es per Definition sehr schwierig zu verstehen, wie die Komponenten zusammenspielen. Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit in den Griff zu bekommen ist Bottom-Up-Modelle laufen zu lassen, um so die Basis der Komplexität zu verstehen. Tatsächlich hängen die Lebenswissenschaften dabei weit zurück. Die Biologie hat erst angefangen, das Potenzial von simulationsbasierter Forschung zu erkennen.

TR: Mit dem Blue Brain-Projekt gehören Sie ja zu den Pionieren dieser Art von Forschung. Wie ist der Status des Projektes mittlerweile?

Markram: Wir haben 2005 begonnen. Die ersten drei Jahre haben wir mit dem Aufbau einer Infrastruktur zugebracht.Einer Infrastruktur, mit deren Hilfe wir unser Modell konstruieren können. Es ist also mehr als ein Modell – es geht um die Infrastruktur. Wir können jetzt, wenn wir die notwendigen Daten bekommen, innerhalb einer Woche ein Modell fertig stellen. Das Modell ist so genau, wie die Daten, die Sie hineingeben.

TR: Das bedeutet konkret?

Markram: Wir haben 10.000 Neuronen modelliert. Wir haben 400 verschiedene Sorten von Neuronen – das entspricht der Zahl an Neuronentypen, die wir in unseren Proben tatsächlich gesehen haben, Wir haben 30 Millionen Synapsen, die sich in sechs verschiedene Klassen unterteilen lassen. Und wir haben eine Art Rezept, wie wir diese Neuronen miteinander verbinden müssen, um eine kortikale Kolumne zu erhalten: Nimm drei von dieser Sorte, dann fünf von dieser und so weiter. Und wenn wir dieses Modell analysieren, verhält es sich sehr ähnlich zu seinem biologischen Vorbild.

TR: Was bedeutet sehr ähnlich? Wie messen Sie das?

Markram: Wir wiederholen Experimente in unserer Simulation. Wir nennen das "in Silico"-Experiment – es ist eine beschleunigte Form von Wissenschaft: An einem Tag können wir Experimente durchführen, für die Biologen vielleicht drei Jahre gebraucht haben. Bisher konnten wir alle Experimente reproduzieren, die wir in der Literatur gefunden haben. Und wir können diese Experimente nicht nur reproduzieren. Weil wir hier ein Modell haben, können wir jederzeit überall hinschauen. Deswegen sind wir in der Lage, Dinge zu sehen, die man im Experiment nicht sehen konnte. Und Wir können jetzt Experimente machen, die bisher in der Realität noch nicht durchgeführt worden sind.

TR: Was haben Sie bisher gelernt?

Markram: Wir haben eine Theorie darüber, wie die kortikale Kolumne funktioniert – wie das Betriebsystem des Gehirns aussieht. Wir haben eine Theorie darüber, wie Information in der Kolumne repräsentiert wird, wir verstehen, wie Information gespeichert wird. Wir sind dabei, all diese Erkenntnisse auszuwerten, und schreiben an den entsprechenden Veröffentlichungen. Die werden im Laufe des nächsten Jahres veröffentlicht werden – dann können Sie all das nachlesen.