Die Formel gegen den Absturz

Konjunkturprognostiker haben die Wirtschaftskrise bis zuletzt nicht kommen sehen. Könnten Computersimulationen und neue mathematische Verfahren helfen, die in den letzten Jahren zur Vorhersage von Börsenkursen entwickelt wurden?

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Von
  • Ralf Grötker

"Der Aufschwung geht in die Verlängerung" meldete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) noch im vergangenen Sommer. Das nicht minder renommierte Hamburger Weltwirtschaftsinstitut sprach in einer Mitteilung vom 16. September – unmittelbar nach der Pleite des US-Finanzdienstleisters Lehman Brothers – von einem "Abklingen der Finanzkrise" in den USA und bescheinigte der deutschen Wirtschaft gute Chancen, 2009 die zwischenzeitliche Konjunkturflaute zu überwinden. Alles falsch, und wie! Heute rechnen die Wirtschaftsforscher allein in Deutschland mit einem Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts von sechs Prozent – mit entsprechenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Weltweit gilt die hereinbrechende Krise als schlimmste seit der großen Depres- sion in den dreißiger Jahren.

Mit der üblichen Fehlermarge von plus/minus ein Prozent ist ein solches Prognoseversagen kaum zu erklären. In Krisenzeiten gelten offenbar andere Regeln. Ähnlich wie bei der Wettervorhersage extreme Lagen nicht exakt prognostiziert werden können, tun sich auch die Konjunkturforscher schwer damit, ein plötzliches Auf oder Ab im Voraus zu bestimmen. Ein Grund dafür: Aufgrund der vergleichsweise wirksamen staatlichen Stabilisierungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg gab es für Krisen-prognosen wenig Bedarf. Dachte man. "Die momentane Krise ist aber auch eine Krise unserer Wissenschaft", räumt Christian Dreger ein, der die Konjunkturprognose am DIW in Berlin verantwortet. Sein Institut veröffentlicht erstmals für 2010 keine Zahlen. Braucht es vielleicht eine "neue Mathematik" um solche Phänomene zu erklären?

In der klassischen Wirtschaftswissenschaft gibt es kein Instrumentarium, um "wilde Märkte" zu verstehen. Dabei ist es selbst für den Laien offensichtlich, dass diese Realität sind. "Ökonomen sollten in ihrer Ausbildung mehr Naturwissenschaften lernen", polemisierte Ende letzten Jahres der französische Finanz-Physiker Jean-Philippe Bouchaud in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Nature", "die Physik hat verschiedene Modelle entwickelt, mit denen man nachvollziehen kann, wie kleine Bewegungen zu großen Turbulenzen führen".

Bereits in den Sechzigern hatte der Mathematiker Benoît Mandelbrot vorgeführt, wie sich extreme Börsenschwankungen mithilfe der Fraktalgeometrie erklären lassen. Wenig später formulierte der Finanztheoretiker Hyman Minsky seine "Financial Instability Hypothesis", der zufolge es im Finanzsystem auch ohne äußere Einwirkungen regelmäßig zum Crash kommt.

Auf den ersten Blick erinnert das vielleicht an einen reichlich schrägen Filmplot wie den des US-amerikanischen Science-Fiction-Thrillers "Pi" von Darren Aronofsky aus dem Jahre 1998: Die Geschichte dreht sich um einen paranoiden Mathematiker, der eine Struktur in der irrationalen Kreiszahl Pi findet – was zur Folge hat, dass er von Börsenmaklern, Geheimdiensten und einer obskuren Endzeitsekte gejagt wird, die ihm sein Geheimnis entreißen wollen. Doch hinter der Polemik von Bouchaud oder der Analyse von Mandelbrot steckt eine durch und durch rationale Idee: Im gegenwärtigen Verhalten vieler Systeme steckt bereits die Signatur zukünftiger Ereignisse. Denn auch Börsianer agieren nicht unabhängig voneinander. Im schnellen Spiel von Kaufen und Verkaufen gibt es eine starke Tendenz zur Nachahmung – in der Beschreibung der Physik einen sogenannten nichtlinearen Rückkopplungsmechanismus. Aus kleinen Schwankungen in der Gegenwart müsste sich also, so das Prinzip, die Natur dieser Wechselwirkung analysieren lassen, um katastrophale Ereignisse in der Zukunft vorhersagen zu können.

Didier Sornette, Professor für Entrepreneurial Risks der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, ist der führende Experte auf dem Feld einer solchen "Börsenphysik". Er glaubt, dass auch die Finanz- und Wirtschaftskrise im Grunde nicht durch äußere Ereignisse wie die Spekulationen am US-Immobilienmarkt verursacht wurde, sondern vom Wirtschaftssystem aus sich heraus erzeugt worden ist. Seit fünfzehn Jahren arbeitet der Physiker, der früher über die Prognose von Erdbeben geforscht hat und der danach an der Abschätzung der Bruchgefahr von Raumraketen-Konstruktionsmaterial beteiligt war, an der systematischen Erforschung von extremen Situationen auf dem Finanzmarkt.

Das Ergebnis dieser Arbeit ist eine kühne These: Lässt sich an den Zeitreihen von Börsenwerten ein Wachstum beobachten, das nicht um einen festen Betrag ansteigt, sondern exponentiell (also mit einer Steigerungsrate von zwei, vier, acht usw.) und stärker, liegt es nahe, dass eine "Blase" aus sich gegenseitig hochschaukelnden Erwartungen vorliegt. Der immer steilere Kurvenverlauf im Krisengeschehen hat die generelle Form eines "Phasenumschwungs", wie sie sich beim plötzlichen Gefrieren von Wasser beobachten lässt oder beim Entstehen einer "kritischen Masse", die es etwa braucht, damit eine soziale Bewegung in Schwung kommt.

Über den mehr als exponentiellen Anstieg hinaus weist der Kursverlauf im Fall einer Blase noch eine weitere Eigenschaft auf: Er oszilliert – schwingt – in immer kürzeren Abständen zwischen Maximum und Minimum. Auch dies erklärt sich dadurch, dass die Anleger immer gleichförmiger agieren – und somit jede kleine Kurskorrektur sofort auf die ganze Gruppe durchschlägt. Betrachtet man die Datenreihen in logarithmischer Darstellung, verschwindet der Effekt; die Oszillationen erscheinen hier gleichmäßig. Daher auch der Name der Methode: log-periodische Analyse. Beides zusammen, die Untersuchung sowohl des steilen Anstiegs wie der Oszillationen, bezeichnet Sornette als "Log- periodic Power Law"(LPPL)-Analyse. Die Methode wird inzwischen von Forscherteams in Belgien, Brasilien, Polen, den USA und China verwendet. Auch einige Banken und Analysten, darunter die WestLB, Fortis und Scor, arbeiten mit dem Ansatz. Vor Kurzem hat Sornette zudem ein eigenes "Finanzkrisenobservatorium" eingerichtet, in dem neun Personen damit beschäftigt sind, die Kurse von mehr als tausend Aktien in den USA und bald auch Europa und Japan fortwährend zu verfolgen, um anhand der Beobachtungen Prognosen auszusprechen.

Die Erfolgsaussichten der Methode zu beurteilen ist indes nicht einfach: Denn wenn man durch die Brille der LPPL-Methode blickt, ändert sich die Definition der "Blase". Gemeinhin geht man davon aus, dass eine Blase sich vor allem durch den auf einen steilen Anstieg folgenden Crash auszeichnet. Sornette und seine Kollegen sehen das anders. Ihrem Modell zufolge sind auch solche Kurs-Höhenflüge Blasen, die in einer sanften Landung enden.

Eine Blasenwarnung, die aufgrund einer LPPL-Analyse ausgesprochen wird, bedeutet deshalb nur einen langfristig zu erwartenden Kurswechsel, nicht unbedingt einen plötzlichen Crash – ein Unterschied, der für Anleger entscheidend sein kann. Sornette meint zeigen zu können, dass seine Formel mit 99-prozentiger Sicherheit nicht nur Börsencrashs, sondern auch andere "Regimewechsel" erkennen kann – vom Boom des Hongkonger Aktienmarktes Mitte der Neunziger über den New- Economy-Hype und die Höhenflüge auf dem chinesischen Aktienmarkt bis zum Ölpreis-Hoch im vergangenen Jahr. Damit wäre seine Methode nicht nur relevant für Anleger, sondern sogar noch spannender für Regierungen und Regulierungsbehörden. Regelmäßig veröffentlicht Sornette seine Prognosen, mit denen er oft richtig liegt, manchmal aber auch daneben.

"Eine rigorose statistische Analyse von der Art, die es bräuchte, um die Effekte zu untermauern, hat bislang noch niemand vorgelegt", kritisiert James Feigenbaum, Ökonom an der Utah State University, der sich seit Jahren mit dem LPPL-Ansatz befasst. Er arbeitet derzeit an einem eigenen log-periodischen Modell zur Analyse von Börsen-Trendwechseln, ist aber nicht sehr optimistisch, dass sich damit zukünftige Börsencrashs vorhersagen lassen werden. Stanislaw Drozdz vom physikalischen Institut der Universität Rzeszów in Polen, der seit Ende der neunziger Jahre mit Sornettes Methode arbeitet, meint hingegen, es gebe Situationen, in denen man mit fast hundertprozentiger Sicherheit eine Blase identifizieren kann. "In anderen Fällen, wenn verschiedene Marktbewegungen übereinander gelagert sind, sprechen die Daten eine weniger klare Sprache."

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hätte sich mittels LPPL jedoch kaum direkt vorhersagen lassen: Zum einen, weil die Realwirtschaft den Finanzmärkten nicht immer folgt, zum anderen, weil der Zusammenbruch des Bankensystems die Börsenflaute erst auslöste. Dennoch: "Prognostiker könnten vieles von diesen Methoden lernen – über Kollektivverhalten, Clusterbildung und Effekte, die darauf hindeuten, dass der Markt ein Gedächtnis hat und aus vergangenen Ereignissen lernt", meint der belgische Physiker Marcel Ausloos, der sich ebenfalls lange Zeit mit LPPL befasst hat. "Bisher haben wir uns nicht an die Makroökonomie herangewagt, weil die Datenlage hier so viel unübersichtlicher ist." Aber prinzipiell steht der Anwendung des Analyseverfahrens auch auf die Gesamtwirtschaft nichts entgegen. "Hauptsache es lässt sich eine periodische Struktur ausmachen." Außerdem müsse man die relevanten Akteure, die jene typischen Oszillationen erzeugen, erst herausfiltern – sonst gingen diese in dem allgemeinen Rauschen unter.

Eine solche Art Filter, der die relevanten Aspekte des Wirtschaftsgeschehens herausgreift, hat Sornette nun in seiner neueren Arbeit angelegt. Darin zeigt er auf, wie die gesamte wirtschaftliche Entwicklung der letzten fünfzehn Jahre eine Aufeinanderfolge von gleich mehreren "Blasen" darstellt: des New- Economy-Hype, der Immobilienschimäre, des Marktes für neue Arten von Krediten und Hedgefonds, der steigenden Aktien-kurse der Jahre 2004 bis 2007 und des Ölpreis-Hochs 2008. Bedingt ist die Super-Blase seiner Ansicht nach nicht nur durch eine universale "econophysische" Gesetzmäßigkeit, sondern durch die Verkettung einer Vielzahl von einzelnen Ereignissen in Politik, Technologie und Innovation auf dem Finanzmarkt.

Dennoch gibt es ein klar erkennbares allgemeines Muster. So zeigt sich etwa das Verhältnis von Löhnen und Konsumausgaben in den USA, Europa und Japan in der Zeit zwischen 1985 und 2008 im Diagramm als eine sich öffnende Schere. Der gleiche Eindruck stellt sich ein, wenn man Sparverhalten (sinkend) und Profitraten (steigend) miteinander vergleicht. Beides, glaubt Sornette, sind Indizien dafür, dass das Wachstum der letzten Jahre auf Pump basierte. "Die Ursache sowohl für den Boom der vergangenen Jahre wie für die gegenwärtige Krise war vor allem der Glaube an ein Geld ausspuckendes Perpetuum mobile."

Wirtschaftsprognostiker wie Christian Dreger vom DIW halten wenig von solchen statistischen Gegenüberstellungen. "Wir gehen von der Story her an die Prognose", sagt er. Ihm fehlen in Sornettes ökonomischer Luftaufnahme "die Mechanismen im Detail", zum Beispiel eine Erklärung dafür, wie die Konsumentwicklung mit den Finanzmärkten zusammenhängt. "Im Gegensatz zu den USA ist hierzulande der Konsum eher abhängig vom gegenwärtigen Einkommen. Statt auf Erspartes zurückzugreifen, um einen Durchhänger zu überbrücken, schraubt man lieber seinen Lebensstil herunter", so Dreger.

Deshalb könne die Vermögensschmelze, die durch die Talfahrt auf dem Finanzmarkt ausgelöst wurde, eigentlich nicht der Grund für eine Abnahme im Konsum sein. Auch eine fehlende Nachfrage aus den USA sieht der DIW-Ökonom nicht als Erklärung für die Krise. Nach seinen Modellen hätte das amerikanische Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozent sinken müssen, um einen Rückgang der Weltproduktion um ein Prozent zu verursachen. "Tatsächlich aber ist die Weltproduktion um sechs Prozent gesunken."

Zweifellos steckt das Projekt, mithilfe statistischer und physikalischer Methoden nicht nur Aussagen über Aktienmärkte zu machen, sondern auch über die Gesamtwirtschaft, noch in den Kinderschuhen. "Absolutes Neuland", meint Thomas Lux, der an der Universität Kiel den Lehrstuhl für Geld, Währung und Internationale Finanzmärkte vertritt. "Wir müssen herausfinden, wo die Gesamtwirtschaft durch neue Finanzprodukte effizienter wird und wo nicht." Bisher gingen die Ökonomen davon aus, dass ein wachsender Finanzmarkt ganz ohne Einschränkung auch der Realwirtschaft hilft. "Was die Entwicklung in den letzten Jahren betrifft, gibt es dafür aber keine Beweise."

Tatsächlich, meint der Kieler Wirtschaftsforscher, lehre die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit, dass es sogar politisch sinnvoll sein könne, in Boom-Phasen dem allzu starken Wachstum einzelner Sektoren gezielt entgegenzuarbeiten. Eine starke These! Was Indizien dafür sind, ob im konkreten Fall ein gesteigertes Wachstum etwa im Bereich Finanzen der Gesamtwirtschaft nützt oder schadet? Lux lacht. "Gute Frage. Die wären zu entwickeln. Aber eine Antwort habe ich doch: Indem man in Experimenten solche Dinge sozusagen wie in einem Windkanal austestet."

Mit seinem Team in Kiel hat Lux Modelle mit künstlichen "Agenten" erstellt, die sich genauso verhalten wie reale Aktienmärkte und in denen – ähnlich wie bei Sornettes log-periodischer Power-Law-Analyse – selbst verstärkende Effekte eine besonders große Rolle spielen. Eine Frage, der man mit solchen Modellen nachgeht, ist, inwiefern Prozesse sich verändern, wenn sie in verschiedenen Größenordnungen ablaufen. Vieles deutet darauf hin, dass etwa die Krisenanfälligkeit des Finanzsektors mit dem Grad gegenseitiger Vernetzung exponentiell zunimmt – sodass dieses System am Ende durch eine winzige weitere Veränderung zum Kippen gebracht werden kann. Gegenwärtig geht es jedoch vor allem darum, die Modelle realistischer zu machen: "Wir brauchen Modelle, die Erkenntnisse über individuelles Verhalten aus Biologie und Sozialforschung zugrunde legen und zeigen, welche Effekte dies auf der Makroebene mit sich bringt", sagt Lux. Mit anderen Worten: Eine Voraussetzung für gelungene Modelle ist eine realistische Abbildung des tatsächlichen Marktverhaltens. Hier haben die Ökonomen vermutlich ebenso versagt wie bei der Prognose. Genau jene Praktiken, die von den Finanzmathematikern erfunden wurden, um Risiken auf viele Schultern zu verteilen und somit vermeintlich zu minimieren, sind in der Praxis von Investoren dazu missbraucht worden, Risiken und somit Profite zu steigern, betont ein Bericht einer Arbeitsgruppe des Dahlem Workshop 2008, die sich mit dem "systemischen Versagen der Wirtschaftswissenschaften" angesichts der Krise befasste.

Um Praktiken dieser Art und somit die Finanz- und Wirtschaftskrise besser verstehen zu können, bräuchte es eine bessere Verfügbarkeit von Finanzdaten für die Wissenschaft – "ähnlich wie in der Genomforschung, wo auch sensible Daten in geschützter Form einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden", meint der österreichische Physiker Stefan Thurner, der sich mit dem Systemtheoretiker und Finanzanalysten Doyne Farmer vom Santa Fe Institute sowie dem Yale-Ökonomen John Geanakoplos in einer groß angelegten Agentensimulation mit der Auswirkung von Hedgefonds auf den Finanzmarkt beschäftigt.

Auf den Webseiten der Wissenschaftsorganisation Edge diskutieren Forscher bereits darüber, wie ein neues "Manhattan Project" – analog zum Codenamen des Atombombenprogramms der USA im Zweiten Weltkrieg – aussehen könnte, das die Anstrengungen zur Erneuerung der Wirtschaftsforschung zusammenführt. Die etablierten Wirtschaftsprognostiker sehen für neue Ansätze keinen Bedarf. "Extremereignisse sind definitionsgemäß selten. Für unsere Modelle, die auf normale Zeiten ausgelegt sind, spie- len sie keine Rolle", meint DIW-Chefprognostiker Dreger. Aber welche Zeiten sind schon normal? (bsc)