Abriss als Exporthit

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit wird ein ganz besonderes Stück DDR-Geschichte abgewickelt: Der Rückbau des Atomkraftwerks Greifswald ist das weltweit größte Abrissprojekt dieser Art - und Kompetenzsprung für einen internationalen Markt.

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Von
  • Reimar Paul

Abriss als Exporthit (7 Bilder)

Breite Perspektive: Neben dem Abriss des AKW Greifswald (hier die Blöcke 3 und 4) haben die EWN die Verschrottung dreier weiterer AKW und russischer Atom-U-Boote in Angriff genommen. (Bild: Thomas Meyer/Ostkreuz)

Dieser Text ist der aktuellen Print-Ausgabe 07/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genau wie ältere Ausgaben hier online portokostenfrei bestellt werden.

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit wird ein ganz besonderes Stück DDR-Geschichte abgewickelt: Der Rückbau des Atomkraftwerks Greifswald ist das weltweit größte Abrissprojekt dieser Art - und Kompetenzsprung für einen internationalen Markt.

Mit Fotos von Thomas Meyer.

Der Zug von Greifswald verkehrt schon lange nicht mehr auf den Gleisen, die nach Osten hin im Nirgendwo enden. Auch der Bus nach Anklam macht hier nur alle paar Stunden Halt. Und während gut gebräunte Ostsee-Urlauber auf der Strandpromenade von Lubmin vom Aufschwung der Tourismusbranche künden, ist hier, ein paar Kilometer weiter südlich in der Lubminer Heide, Zerstörung angesagt: Mehr als zwei Millionen Tonnen Stahl und Beton müssen abgetragen, zerlegt, dekontaminiert werden – Hülle und strahlende Innereien des Atomkraftwerks Greifswald.

Der "Rückbau" des Kraftwerks, wie Insider den Abriss im Jargon der Branche nennen, ist der größte einer kerntechnischen Anlage weltweit. Wenn die Schweißgeräte und Sägen 2013 nach 18 Jahren verstummen, wird das Projekt über drei Milliarden Euro gekostet haben. Vielleicht aber auch wesentlich mehr: Schon mehrmals musste die Kalkulation nach oben revidiert werden. Den ursprünglichen Plan, sämtliche Gebäude abzureißen und das 450 Hektar große Areal wieder zur Wiese zu machen, ließ die Bundesregierung deshalb bereits fallen. Nur noch die Innereien des Kraftwerks sollen ausgebaut, wenn möglich dekontaminiert und weggeschafft oder vor Ort eingelagert werden.

Das AKW Greifswald war einmal das größte der DDR. Seine fünf Reaktorblöcke produzierten zeitweise rund zehn Prozent des in Deutschland Ost benötigten Stroms. Doch weil nach dem Atomunfall in Tschernobyl die sowjetischen Reaktoren nicht länger als sicher galten, beschloss die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung, das AKW vom Typ WWER stillzulegen und abzubauen. Der Bau von drei weiteren, fast fertigen Blöcken wurde gestoppt. Fünf Jahre später begann in der Lubminer Heide der Abriss, der wenigstens einem Fünftel der ehemaligen AKW-Belegschaft bis auf Weiteres den Arbeitsplatz sicherte.

Denn die Ausschreibung für die Demontage des Atomkomplexes gewann der frühere Betreiber: Die Energiewerke Nord (EWN) sind der Rechtsnachfolger des "Volkseigenen Kombinats Kernkraftwerke Bruno Leuschner". Weil das Bundesfinanzministerium jetzt alleiniger EWN-Gesellschafter ist, muss der Steuerzahler für die immensen Abrisskosten aufkommen. In der Lubminer Heide sind von einstmals bis zu 5000 Beschäftigten des Kombinats derzeit noch 850 bei den EWN in Lohn und Brot, weitere 160 arbeiten am Rückbau des zweiten abgeschalteten DDR-Atomkraftwerks Rheinsberg. "Die meisten sind natürlich nicht mehr in ihren alten Jobs tätig", sagt der Öffentlichkeitsarbeiter Armin Lau, der 1977 im Kernkraftwerk Nord eine Lehre als Elektrotechniker begann und heute Fachbesucher und Journalisten durch das Labyrinth der Gänge und Hallen führt. Viele seiner Kollegen haben sich umschulen lassen oder studiert und zusätzliche Qualifikationen erworben wie er selbst.

Wäre es nach Lau gegangen, der jahrelang als Schichtleiter die Einspeisung des erzeugten Stroms ins staatliche Netz überwachte, würden die Reaktoren in der Lubminer Heide wohl noch heute Uran spalten. Auch in Reaktorblock 6, der bei der Wende 1989 kurz vor der Fertigstellung stand und später für die Expo 2000 zum Besucher-Kraftwerk umfunktioniert wurde. Aus seiner Sicht und der vieler Kollegen kam die Entscheidung für den Abriss des Atomkraftwerks zu schnell und zu unbedacht. Dabei, meint Lau, hätte man die sowjetischen 440-Megawatt-Reaktoren vom Typ WWER durchaus nachrüsten können, "ein modernes Leitsystem, neue Brandabschottungen, vielleicht eine Runderneuerung der Pumpen und Rohrleitungen – fertig". Aber die westdeutschen Stromversorgungsunternehmen hätten kein finanzielles Risiko eingehen wollen.

Inzwischen hat er sich mit dem Abriss arrangiert, der ihm jetzt das Auskommen sichert. "Als Erstes mussten die Brennelemente aus den Reaktoren raus", erzählt Lau. Die Brennstäbe wurden zunächst in einem Wasserbecken zwischengelagert, um dort einen Teil ihrer Radioaktivität und Zerfallswärme abzustoßen. Zeitgleich begann der Bau eines Trockenzwischenlagers. Die Brennelemente wurden in Castorbehälter verpackt, allein ihre Umladung in die neue Halle dauerte von 1999 bis 2006. Auch die Castoren aus Rheinsberg wurden in dieser Zeit hierher transportiert.

Das "Zwischenlager Nord" ist ein eigener Hochsicherheitsbereich direkt auf dem Kraftwerksgelände: Wachleute mit Hunden patrouillieren rund um die Uhr an der Umzäunung. Wer überhaupt bis hier durchgelassen wird, muss sich peniblen Kontrollen unterziehen, immer wieder neue Schleusen und Sperren passieren, bekommt ein Dosimeter umgehängt und muss in weiße Schutzkleidung schlüpfen. An der Farbe der Overalls sind die Besucher leicht zu erkennen. Die Schlosser tragen braune, das Strahlenschutzpersonal grüne Overalls. Die Männer, die in den Dekontaminierungskammern arbeiten, haben gelbe Vollschutzanzüge und Masken an.

Das Zwischenlager selbst, 200 Meter lang und 15 Meter breit, ist in acht kleinere Hallen unterteilt. Am Eingang zu Halle 8, in der sich die Castorbehälter mit den verbrauchten und stark strahlenden Brennelementen befinden, öffnet sich durch eine unsichtbare Hydraulik getrieben noch einmal eine dicke Stahltür. Innen misst ein Gerät an der Wand die Temperatur und Luftfeuchte. Dicht an dicht stehen die 62 blauen Behälter vom Typ Castor 440/84 senkrecht auf dem blank geputzten Boden. Jeder enthält 84 hoch radioaktive Brennelemente. "Alle Behälter haben ihren festen Platz, sie dürfen ohne Genehmigung nicht bewegt werden", erläutert Lau. Langsam geht er auf einen der gusseisernen Container zu und legt seine Hand kurz auf die Kühlrippen. "Ist ganz warm", sagt er, "wollen Sie auch mal?" Bis zu 40 Jahre dürfen die Castoren laut Genehmigung im Zwischenlager aufbewahrt werden. Danach müssen sie in ein unterirdisches Endlager, wahrscheinlich nach Gorleben, meint Lau.

Wie eine Flotte havarierter U-Boote liegen in Halle 7 des Zwischenlagers die aus den Kraftwerksblöcken ausgebauten Dampferzeuger. 160 Tonnen wiegt jedes dieser Ungetüme. Nachdem sie einen Teil ihrer Strahlung abgeben haben, werden sie in hermetisch abgetrennten Kammern, sogenannten Caissons, zersägt, in immer kleinere Teile geschnitten und in verschiedenen Arbeitsgängen dekontaminiert.

Nächste Station, Blockwarte 5: "Vier Leute pro Schicht haben von hier aus das Kraftwerk gefahren." Der Öffentlichkeitsmitarbeiter Thomas Hetzel deutet auf eine Wand mit Hunderten von Schaltern, Lämpchen, seltsam antiquiert anmutenden analogen Zeigerinstrumenten und massigen Bildschirmen – längst überholte Leitwartentechnik wie aus einer Sechziger- Jahre-Fernsehserie: Hier war der Knopf für die Schnellabschaltung, daneben leuchten noch immer zwei rote Lämpchen wie ein gespenstischer Gruß aus der Vergangenheit.

In der nächsten Halle zeigt Armin Lau erstmals Nerven. "Nichts anfassen", warnt er. "Auf dem gekennzeichneten Weg bleiben, kann sein, dass sonst kontaminierter Staub aufgewirbelt wird." Hier stehen die wuchtigen Reaktordruckgefäße, auch aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Obrigheim in Baden-Württemberg wurden zwei dieser stählernen Kolosse angeliefert. Die Druckgefäße müssen während des Betriebs im Atomkraftwerk extreme Strahlenbelastungen aushalten, sie werden dadurch aktiviert, strahlen also selbst. Das Ausnehmen der kontaminierten Innereien und ihr Abtransport zählen deshalb zu den riskantesten Tätigkeiten beim Rückbau. Nur durch dicke Panzerglasscheiben können Besucher einen Blick in die Caissons werfen. In einer der Kammern zertrennt eine überdimensionale Bandsäge dickwandige Metallzylinder. Männer mit Schneidbrennern zerlegen sie zu kleinteiligem Schrott.

Mit ihren Plastikvisieren, Schutzhauben und Anzügen wirken die Schweißer wie Astronauten. Die schwach und mittel radioaktiven Abfälle sowie andere Reststoffe passieren zunächst die "Zentrale Aktive Werkstatt" (ZAW). Während des Kraftwerksbetriebs diente die knapp 3000 Quadratmeter große Halle als Reparaturwerkstatt für defekte Bauteile. Jetzt werden hier Kraftwerkskomponenten zerlegt und durch Abschrubben, Abspritzen, Laugenbäder sowie verschiedene chemische und thermische Prozesse so weit von radioaktiven Verschmutzungen, Korrosionen und Belägen gereinigt, bis eine "Freimessung" möglich wird. Gelingt der Nachweis, dass die Teile strahlungsfrei sind, auch in mehreren Durchgängen nicht, muss das Material für die Zwischenlagerung in Fässer verpackt werden. Letzte Ruhestätte für den schwach strahlenden Schrott ist das Endlager Schacht Konrad.

Für die Arbeiten in der ZAW steht ein imposantes Arsenal an Maschinen und Werkzeugen zur Verfügung: elektrische, thermische und hydraulische Sägen und Scheren, die 20 Zentimeter dicke Stahlplatten zerschneiden wie Kuchenteig; Hochdruckwasserstrahl-Reinigungsanlagen mit Wasserdrücken bis zu 2000 bar, chemische und elektrolytische Dekontaminationswannen mit Stromstärken zwischen 1000 und 2000 Ampere. "So gut wie wir ist kein Unternehmen auf der Welt ausgerüstet", sagt Armin Lau.

Das hat sich als nützlich erwiesen: Mit ihrem Know-how als nuklearer Abrissexperte konnten die EWN expandieren – 2003 zunächst in Richtung Westen. Sie übernahmen die "Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH" (AVR) in Jülich sowie die "WAK Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe Rückbau- und Entsorgungsgesellschaft mbH" als Tochterfirmen. Im Forschungszentrum Jülich steht eine Miniaturausgabe des mit Thorium gekühlten Hochtemperaturreaktors (HTR). Der vier Milliarden Mark teure Prototyp wurde später in Hamm gebaut, er brachte es nach etlichen Pannen aber nur auf rund 400 Betriebstage.

Nachdem auch Südafrika kürzlich seinen Verzicht auf den Bau eines HTR erklärt hat, gilt die Reaktorlinie weltweit als gescheitert. Die Anlagen in Jülich und Hamm müssen nun abgerissen, die kugelförmigen, grafitummantelten Brennelemente sicher verwahrt werden. Auch für die kleine Pilot-Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) im Forschungszentrum Karlsruhe gibt es keinerlei Verwendung mehr, der Bau einer kommerziellen WAA scheiterte in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren.

Die Karlsruher Anlage arbeitete insgesamt etwa 200 Tonnen Kernbrennstoffe auf, 1991 wurde dort der Betrieb endgültig eingestellt. Im "Projekt Murmansk" leiten die EWN zudem seit 2007 die Verschrottung von etwa 120 abgewrackten atomgetriebenen U-Booten der ehemals sowjetischen Nordmeerflotte. Unter der Regie der deutschen Ingenieure ist in der Saida-Bucht mit dem Bau eines Langzeitzwischenlagers begonnen worden, nächstes Teilprojekt ist auf der russischen Nerpa-Werft die Zerlegung der bis zu 170 Meter langen U-Boote in kleine Komponenten. EWN-Geschäftsführer Dieter Rittscher ist sichtlich stolz auf dieses Projekt: "Unser Unternehmen hat mit der Entsorgung von Atom-U-Booten Neuland betreten."

Den Kraftwerksstandort in der Lubminer Heide wollen die EWN unterdessen zu einem "wichtigen Energie- und Technologiestandort" entwickeln. Die Infrastruktur wie Straßen, ein kleiner Industriehafen sowie die Anbindung des Areals an die Schaltanlage und das Hochspannungsnetz von Vattenfall Europe sind bereits vorhanden. Hier sollen neue Kraftwerke auf der Basis von Gas und Kohle entstehen. Im früheren Maschinenhaus des Kraftwerks herrscht reger Betrieb, hier tragen die Arbeiter nur Bauhelme und Staubmasken. Die rund einen Kilometer lange, fast 50 Meter breite und 30 Meter hohe Halle, die früher die riesigen Generatoren und Turbinensätze des Kernkraftwerks beherbergte, wurde nach der Räumung an andere Unternehmen vermietet. In einer Hälfte fertigt die Modul- und Anlagenbau GmbH Schiffssegmente und Krananlagen. Im anderen Hallenteil baut die Firma Liebherr Schwimmkräne. "Die Löcher da unten, das waren die Eintrittsöffnungen für das Kühlwasser", sagt Thomas Hetzel. Rund einen Meter Durchmesser haben die jetzt zugemauerten Auslassungen.

Hinter dem Maschinenhaus ist ein kleiner Jachthafen mit Winterlager für die Sportboote entstanden. Der Anleger mit bescheiden maritimem Flair wirkt wie eine Versöhnungsgeste in Richtung Lubmin. Denn das Ostseebad setzt ganz klar auf die Trumpfkarte Tourismus. "Weite Strände, Kliffküsten sowie malerische Kiefernwälder bieten Natur pur", wirbt der Ort aktuell auf seiner Homepage. Da passen gigantische Kraftwerksanlagen nicht so recht ins Bild. Zu DDR-Zeiten hatten Urlauber nichts gegen Kühltürme und Reaktorkuppeln, Kernkraftwerke galten als Symbol des technischen Fortschritts. Gegen das geplante Kohlekraftwerk macht jetzt eine Bürgerinitiative mobil. (bsc)