"Es genügt nicht zu schauen, ob eine Zelle am Ende tot ist"

Wie giftig sind Nanoteilchen? Der Bremer Verfahrenstechniker Lutz Mädler über die Wechselwirkungen an Nano-Bio-Schnittstellen, Konzepte für schnelle Testverfahren und die Frage, ob die Forschung dem Nanotech-Fortschritt hinterher hinkt.

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Von
  • Niels Boeing

Seit einigen Jahren werden die potenziellen Risiken von Nanomaterialien kontrovers diskutiert. Über ihre Auswirkungen auf biologische Systeme wie Bakterien oder Zellen in Organen weiß man bislang noch recht wenig. Lutz Mädler, Verfahrenstechniker an der Uni Bremen, hat kürzlich gemeinsam mit acht weiteren Forschern in Nature Materials den Stand der Forschung zusammengefasst und die Grundlagen für eine Strategie zur Untersuchung von Nanomaterialien herausgearbeitet. Technology Review sprach mit Mädler über die Wechselwirkungen an Nano-Bio-Schnittstellen, Konzepte für schnelle Testverfahren und die Frage, ob die Forschung dem Nanotech-Fortschritt hinterher hinkt.

Technology Review: Herr Mädler, was weiß man inzwischen über die Auswirkungen von Nanomaterialien auf biologische Systeme?

Lutz Mädler: Man muss differenzieren: Nanoteilchen verhalten sich nicht alle gleich. Ganz wichtig ist, dass man sie nicht "nackt", sondern immer in einer bestimmten Umgebung betrachtet, beispielsweise im Zellmedium oder in der Lungenflüssigkeit. Denn die Umgebung beeinflusst die Partikel und damit ihre Wirkung ebenfalls.

Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass die Umgebung bestimmt, wie schnell sie sich lösen oder gar auflösen. Es geht jetzt darum, verschiedene wissenschaftliche Paradigmen für solche Wechselwirkungen zu formulieren.

TR: Was meinen Sie mit Paradigmen?

Mädler: Eines dieser Paradigmen betrifft die Löslichkeit von Nanoteilchen. Sie ist in reinem, destilliertem Wasser anders als in einem Zellmedium, obwohl der pH-Wert in beiden etwa gleich ist. Im Zellmedium gibt es viele Proteine und damit Proteinwechselwirkungen, die das Nanomaterial beeinflussen. Ein anderes Beispiel ist die so genannte frustrierte Phagozytose von Nanotubes: Die Kohlenstoffnanoröhren sind häufig zu lang für die Phagozyten, also die Fresszellen, die Fremdstoffe transportieren.

TR: Welche Bedeutung hat dabei die Nanoskaligkeit von Materialien?

Mädler: Je kleiner Partikel sind, desto größer wird die spezifische Oberfläche, also die Oberfläche pro Masse. Sehr viele Studien zeigen, dass die Wirkungen mit der angebotenen Oberfläche skalieren. Deswegen können auch kleinere Mengen denselben Effekt haben wie größere, wenn ihre Gesamtoberfläche genauso groß ist. Eine wesentliche Rolle spielt außerdem, dass Nanopartikel kleiner sind als Zellen. Deshalb können sie von diesen aufgenommen und weiter transportiert werden.

TR: Welche Untersuchungstrategie ergibt sich aus diesen Erkenntnissen?

Mädler: Wir müssen zunächst die Strukturveränderungen in einer Zelle oder einem Bakterium untersuchen. Wenn in der Gegenwart von Nanopartikeln zum Beispiel der Kalziumfluss durch die Zellmembran verändert ist, stellt sich die Frage: Was hat der Kalziumfluss mit den Nanopartikeln und deren Löslichkeit zu tun? Das ist die Forschung, die wir jetzt machen.

Dann versuchen wir so genannte quantitative Strukturaktivitätsbeziehungen herzustellen: Wie ist die physikalische und chemische Struktur eines Partikels in einer bestimmten Umgebung, und welcher Signalweg wird dadurch in der Zelle angeschaltet? Es genügt nicht, zu schauen, ob eine Zelle am Ende tot ist oder noch lebt. Wir müssen wissen, welche Proteine, welche Enzyme exprimiert werden.

Die nächste Frage ist dann, mit welchen Leuchtmarkern diese Signalwirkung ausgelesen werden kann, um sie in einem High-Throughput-Screening nachzuweisen. Das Verfahren besteht aus vielen Proben, in die das Nanomaterial hineingegeben wird. Je nach Wechselwirkung leuchten die Proben dann in verschiedenen Farben auf. Und dieses Muster versuchen wir zu interpretieren.

Das ist nicht trivial. Das setzt ein grundlegendes Verständnis der Bio-Nano-Wechselwirkungen voraus, das auch Inhalt unseres Artikels in Nature Materials ist.

TR: Muss man solche Tests für jede einzelne Wechselwirkung vornehmen?

Mädler: Wir versuchen, die bereits erwähnten Paradigmen für mehrere Wechselwirkungen zusammenzufassen. Dafür versuchen wir dann ein High-Throughput-Assay zu konstruieren, das natürlich aus mehreren Tests besteht.

TR: Müsste man dann nicht auch verschiedene Größenklassen durch das Verfahren schicken? Beispielsweise Titandioxid-Teilchen mit 5, 10 oder 20 Nanometern Durchmesser?

Mädler: So weit sind wir noch nicht. Wir kennen bereits verschiedene Leuchtmarker. Man müsste die Tests auch für verschiedene Medien durchführen, also für die Lungenflüssigkeit, wenn Partikel eingeatmet werden, oder für die Umgebung im Grundwasser.

TR: Welche Nanomaterialien sollten zuerst untersucht werden?

Mädler: Eine Priorität sind Materialien, die bereits in großer Menge hergestellt werden, also Titandioxid, Industrieruße, Zinkoxid oder Ceroxid. Da sollte man ansetzen.

Ganz wichtig ist: Wenn sich unsere Paradigmen als richtig erweisen, bekommen wir auch Informationen, wie wir die Materialien modifizieren können, so dass sie bestimmte Prozesse erst gar nicht in Gang setzen.

TR: In der Debatte ist immer wieder zu hören, Nanopartikel gebe es in der Natur seit jeher, es gebe also keine neue Problematik.

Mädler: Auch hier muss man differenzieren. Wir machen heute Materialien, die anders sind als die, die in der Natur vorkommen. Sie werden hergestellt, um zum Beispiel als Katalysatoren zu wirken.

Allerdings werden solche Nanopartikel schon länger hergestellt. Die Nanotoxikologie ist eine Toxikologie, zu der es bisher keine richtige Krankheit gibt. Man sollte deshalb auch nicht übertreiben.

TR: Umweltorganisationen kritisieren, die Bemühungen der Nanotoxikologen kämen eigentlich sehr spät und würden hinter der Realität herlaufen. Wie sehen Sie das?

Mädler: Ich denke nach wie vor, dass wir in einem frühen Stadium der Forschung sind. Die Frage ist, was man alles unter "nano" versteht, und ob es um einen Teilaspekt geht, der da in irgendeiner Membran betrachtet wird, dem man nicht mehr ansieht, dass hier ein Nanomaterial im Spiel war. Wir entdecken mehr und mehr, dass gewisse Dinge nano sind, über die wir vorher unter diesem Aspekt nicht nachgedacht haben.

Die Nano-Bio-Interaktion muss aber erst mal nicht schlecht sein. Bei Medikamenten schaut man ja auch, welche Wege sie in der Zelle nehmen. Wie kann man diese für positive Effekte ausnutzen? Wenn dann die Proteine an den Oberflächen interagieren, was passiert dann? Kann ich neue Synthesewege finden, neue Heilmethoden? Auch das sind Fragen, die jetzt auf uns zukommen.

Unsere Arbeit dient dazu, eine gemeinsame Terminologie zu entwickeln. An ihr waren Biologen, Chemiker, Physiker, Mediziner, Chemieingenieure beteiligt, Leute verschiedener Disziplinen, die versuchen, eine Sprache zu sprechen. Wir wollen damit auch eine Grundlage schaffen für alle, die mit Hilfe der Nanobiologie in der Medizin aktiv werden, die zum Beispiel bioverträgliche Materialien für Implantate machen wollen.

Anhang

Die wesentlichen Kräfte, die die Wechselwirkung zwischen Nanomaterialien und biologischen Systemen bestimmen
Kraft Ursprung und Eigenart Reichweite in nm Mögliche Auswirkung an der Nano-Bio-Schnittstelle
Hydrodynamische Wechselwirkungen Konvektion und Brownsche Bewegung von Molekülen werden in den Nano-Zwischenräumen zwischen Nanopartikeln und Zelloberflächen behindert 100 - 1.000.000 Die Stöße zwischen Nanopartikeln und Zelloberflächen, die Moleküle transportieren, nehmen zu
Elektrodynamische Wechselwirkungen Van-der-Waals-Kräfte zwischen Partikeln, Molekülen und Zelloberflächen 1 - 100 In wässrigen Medien anziehende Wirkung, in biologischen Medien und Zellen allerdings wegen des hohen Wassergehalts abgeschwächt
Elektrostatische Wechselwirkungen Elektrische Oberflächenladungen ziehen Ionen an oder stoßen sie ab, wodurch sich eine elektrostatische Doppelschicht bilden kann 1 - 100 Elektrostatische Doppelschichten wirken im allgemeinen abstoßend, da die meisten Materialien in wässrigen Medien negative Ladungen aufnehmen
Wechselwirkungen durch Lösungsmittel Schwer lösliche Materialien interagieren kaum mit Lösungsmittelmolekülen 1 - 10 Materialien neigen dann zur Verklumpung an Schnittstellen
Sterische (räumliche) Wechselwirkungen Polymere, die sich an anorganischen Teilchen anlagern, oder Biopolymere an Zelloberflächen wirken wie winzige Federn, die andere Oberflächen wegdrücken 1 - 100 Sie können die Aufnahme von Stoffen durch die Zellmembran behindern
Wechselwirkungen durch Polymerbrücken Polymere, die sich an anorganischen Teilchen anlagern, oder Biopolymere an Zelloberflächen mit elektrisch geladenen Molekülgruppen können Oberflächen, auf denen entgegengesetzte Ladungen sitzen, anziehen 1 - 100 Sie fördern Verklumpung oder Ablagerung von Materialien, vor allem dann, wenn es sich bei den Molekülgruppen um Carbonsäuren in einem wässrigen Medium mit Kalzium-Ionen handelt

Quelle: Nature Materials

Das Paper: Andre Nel et al., "Understanding biophysicochemical interactions at the nano–bio interface", Nature Materials, Vol. 8, Juli 2009, doi: 10.1038/nmat2442. (nbo)