Kooperation auf Wegwerfbasis

Im dänischen Kalundborg haben Unternehmen ein Verwertungsnetz aus Lieferanten und Abnehmern von Müll gebildet - ein Vorbild für Industrieregionen weltweit.

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Von
  • Uta Deffke

Der folgende Text ist der Print-Ausgabe TR 04/2009 entnommen. Das Heft kann online nachbestellt werden.

Im dänischen Kalundborg haben Unternehmen ein Verwertungsnetz aus Lieferanten und Abnehmern von Müll gebildet - ein Vorbild für Industrieregionen weltweit.

Oben auf dem Abwasserreaktor, 20 Meter über dem Grund, weht eine steife Briese. Gut so, sonst zöge einem der faulige Gestank der Kläranlage in die Nase und würde den Genuss der weiten Aussicht trüben: eine Kleinstadt samt Kohlekraftwerk, Raffinerie und Stadtwerken, umgeben von Feldern und Meer. Kalundborg, 20000 Einwohner, 100 Kilometer westlich von Kopenhagen, hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Und das Klärwerk des Enzymherstellers Novozymes ist ein Teil davon.

In der dunklen Brühe acht riesiger Stahlreaktoren verrichten Bakterien ihr Werk und reinigen das Abwasser von zwei Biotech-Unternehmen, bis es nur noch so schmutzig ist wie gewöhnliches Haushaltsabwasser. Dann kommt es in die kommunale Kläranlage. Dort ist es hochwillkommen, denn: "Unser Abwasser ist besonders", sagt Peder Mathiesen, Manager für Umweltangelegenheiten von Novozymes. "Es hat eine erhöhte Temperatur." 30 Grad Celsius das ganze Jahr über. Das beschleunigt den Klärprozess der Stadtwerke.

Früher reinigten Novozymes und der Insulinproduzent Novo Nordisk, damals noch ein gemeinsames Unternehmen, ihr Abwasser komplett selbst und leiteten es dann ins Meer. "Als die Umweltrichtlinien verschärft wurden, entschied man sich, die Endstufe des Klärprozesses dem kommunalen Klärwerk zu übertragen", berichtet Mathiesen. Es profitiert von den hohen Temperaturen, und das bekommen alle Bürger zu spüren: durch niedrigere Abwasserkosten. Natürlich stellt Novozymes eine Reinigungsrechnung an Novo Nordisk und entlohnt seinerseits die Stadtwerke. Die wiederum können einen Teil ihres Klärschlamms an den Bodensanierer RGS 90 verkaufen. Denn das Unternehmen hat erkannt, dass geringe Mengen davon die Aktivität jener Bodenbakterien anregen, die Ölreste und Schwermetalle vertilgen sollen.

Über Beziehungen wie diese ließe sich zuhauf berichten aus Kalundborg. Nicht nur das Abwasser verbindet die Unternehmen der Stadt. In Kalundborg wird mit jeglicher Art von Rückständen gehandelt. Getreu dem Motto: Des einen Abfall ist des anderen Rohstoff. Die Flugasche aus dem Kraftwerk landet in der Zementfabrik, die Abgase werden zu Gips entschwefelt und im Gipskartonwerk verarbeitet, Biomasse aus der Enzymproduktion von Novozymes düngt die Felder in der Umgebung, Dampf aus der Kraft-Wärme-Kopplung des Kraftwerks treibt Prozesse in der Raffinerie und den Biotech-Firmen voran. "Industrielle Symbiose" haben die Dänen ihr Modell mittlerweile getauft und spielen damit auf das ressourcenoptimierte Zusammenleben natürlicher Organismen an.

Oben vom Klärwerk aus ist nichts zu sehen von den symbiotischen Verflechtungen. Auch die Unternehmen selbst waren sich derer lange Zeit nicht bewusst. Erst ein Schulprojekt zur Untersuchung der regionalen Wirtschaft deckte im Jahr 1989 die Strukturen auf, und die Schüler machten sie in einem dreidimensionalen Pappmodell sichtbar. "Das ist alles organisch gewachsen und beruht auf bilateralen Geschäftsbeziehungen", sagt Jorgen Christensen, ehemaliger Produktionsleiter von Novo Nordisk und nun Berater in Diensten der Symbiose. "Die Manager kannten sich und trafen sich im selben Rotary-Club", erzählt der Ingenieur. Und da tauschte man sich auf informeller Ebene über Probleme aus und fand Lösungen, von denen beide Seiten profitieren konnten. "Einer der Schlüssel für den Erfolg der Symbiose ist diese Art persönlicher Beziehungen", meint Christensen. Technisch ist das oft keine große Sache – ein paar Pipelines, Pumpen oder Lkw, manchmal werden die Abfälle auch ein wenig aufbereitet für den neuen Nutzer.

Mittlerweile unterhalten acht Unternehmen 24 Stoffströme, darunter einige auch zu Firmen, die nicht aus der Region stammen. Die wichtigste Triebfeder des Systems ist das Geld, nicht der Umweltschutz. SUVs sind hier als Gefährt ebenso beliebt wie in Deutschland, beim Sprung in den Supermarkt bleibt der Motor eingeschaltet, Novozymes bietet den Kaffee in Plastikbechern an – in Kalundborg leben auch keine besseren Menschen als anderswo. "Geld ist die einzige Sprache, die Unternehmer verstehen", sagt John Kryger, Direktor des Symbiose-Instituts. Jährlich sparen die Unternehmen dank der Symbiose erhebliche Ressourcen: 1,9 Millionen Kubikmeter Grundwasser, eine Million Kubikmeter Oberflächenwasser, 200000 Tonnen Naturgips, 20000 Tonnen Öl und 240000 Tonnen CO2. Dass die Umwelt profitiert, ist ein angenehmer Nebeneffekt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Technology Review-Ausgabe 4/2009. Das Heft, das einen Schwerpunkt zum Thema Recycling enthält, kann hier portokostenfrei nachbestellt werden.

Inzwischen hat sich in Kalundborg so etwas wie ein Sinn für die Symbiose entwickelt. Entscheidend dazu beigetragen hat das Symbiose-Institut, ein Zwei-Personen-Betrieb, der 1996 als Zentrale des Netzwerks gegründet wurde. "Wir sammeln Informationen und sind Anlaufstelle für den Austausch zwischen den Unternehmen", erläutert John Kryger. Es gibt einen Umweltclub, in dem sich Techniker treffen, und die halbjährlichen Meetings der Manager. "In erster Linie kümmern wir uns aber um die Kommunikation nach außen und betreiben Consulting", sagt Kryger.

Seit der Entdeckung der Symbiose-struktur ist Kalundborg eine regelrechte Pilgerstätte für Anhänger einer regionalen Kreislaufwirtschaft – oder solche, die es werden wollen. "Wir bekommen jede Woche Besuch aus allen Teilen der Welt", erzählt Kryger. Heute ist es eine Gruppe aus Südkorea – Professoren, Ingenieure, Manager. Sie touren durch Europa auf der Suche nach Ideen für ihren Industriepark mit Photovoltaik-Fokus, der in Chungbuk entstehen soll. Berlin, Freiburg, Zürich lauten ihre Reiseziele – und Kalundborg. "Für uns ist es interessant zu sehen, dass so vielfältige Stoffströme zwischen den Unternehmen möglich sind und dass so unterschiedliche Betriebe auf freiwilliger Basis zusammenarbeiten", sagt Soo-Hee Lee, Präsident des Chungbuk Research Institute. Vielleicht wird sich der künftige Industriepark ein Beispiel daran nehmen.

"Ob Nachahmung tatsächlich möglich ist, ist eine spannende Frage, die wir bisher noch nicht abschließend beantworten können", sagt Ralf Isenmann vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. Erfahrungen mit ähnlichen Projekten – etwa den Eco-Industrial-Parks in den USA seit den 1990er-Jahren – zeigen, dass sich viele von außen initiierte Kooperationen nicht verselbstständigen und nach Auslaufen der Förderzeit einschlafen. "Wir enttäuschen die Besucher oft, weil wir unser Netz eben nicht systematisch geplant haben", sagt Christensen. Die Voraussetzungen waren einfach günstig in dieser Kleinstadt: mittelgroße Firmen mit verschiedenen Produkten und Abfällen, keine Konkurrenz untereinander, dafür eine offene Geisteshaltung und Kommunikationsbereitschaft.

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es vergleichbare Netzwerke, die erfolgreich sind oder es zumindest eine Weile waren. Dazu gehören Heidelberg-Pfaffengrund und das Verwertungsnetzwerk Steiermark. Letzteres hat viele Ähnlichkeiten mit Kalundborg, wenngleich es sehr viel größer ist. Auch hier haben sich auf organische Weise rege Stoffströme zwischen ursprünglich 32 beteiligten Unternehmen entwickelt, darunter Firmen der Stahlindustrie, Kraftwerke, ein Zementwerk als klassischer Materialverbraucher, aber auch Steinmetzbetriebe und Molkereien. Angeregt von der Diskussion um die Kalundborger Symbiose wurden die Kooperationen 1994 und 2004 in einer Studie der Universität Graz untersucht. "Sie laufen sehr erfolgreich", resümiert Alfred Posch vom Institut für Innovations- und Umweltmanagement. Allerdings mit weniger Publicity als in Dänemark.

Einen Schritt weiter als Kalundborg und Steiermark will das deutsche Modellprojekt "Zero Emission Park" gehen, das von 2008 bis September 2009 unter anderem vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gefördert wird. In vier Industrie- und Gewerbegebieten – in Kaiserslautern, Bottrop, Bremen und Eberswalde – mit jeweils ganz unterschiedlichen Voraussetzungen soll ein Stoffstromnetzwerk aufgebaut werden. Unter "Zero Emission" verstehen die Initiatoren aber im Sinne von CO2-Einsparung und Nachhaltigkeit weit mehr als nur Stoffaustausch: Die Kooperationen zwischen den Unternehmen soll auch Transport und Infrastruktur umfassen, es werden städteplanerische und soziale Aspekte einbezogen wie etwa Wohnanlagen für die Mitarbeiter oder Kindergärten.

"Das ist ein sehr ambitioniertes Projekt", findet der Fraunhofer-Forscher Ralf Isenmann, der daran beteiligt ist. Denn durch die vielen Parameter wird es in dem Beziehungsgeflecht nicht nur Win-win-Situationen geben. Investitionen in Kindergärten oder in eine regenerative Energieversorgung zahlen sich nur sehr langfristig aus.

Für eines der weltweit interessantesten Projekte hält Jorgen Christensen das National Industrial Symbiosis Programme in Großbritannien. In dieser nationalen Initiative hat die britische Regierung eine Menge Geld in die Hand genommen und Managementgruppen installiert, die in allen zwölf Regionen des Landes die Vernetzung der Unternehmen fördern sollen. Die Liste der seit 2005 erfolgreich auf den Weg gebrachten Kooperationen ist lang. Wie lang sie dauern, wird sich zeigen.

Auch in Kalundborg will man die Entwicklung künftig systematischer vorantreiben. Im Laufe dieses Jahres soll sich das Netzwerk um ein bis zwei Unternehmen erweitern. Eine Biospritfabrik der zweiten Generation, die Stroh zu Ethanol verarbeitet, wird im April mit Dampf aus dem Kraftwerk die Produktion aufnehmen und Biomasse zurückliefern. Gewisse Umweltstandards müssen erfüllt sein sowie die Bereitschaft, Ressourcen einzubringen oder aufzunehmen. Über die Möglichkeit, regenerative Energiequellen wie Solaranlagen oder Geothermie an das Netz anzuschließen, denkt John Kryger auch schon nach. Aber das, gesteht er, sei doch noch eher Zukunftsmusik. (bsc)