"Riesengroße Kiste"

Die Zukunft des Bahnfahrens könnte aus Paderborn kommen: Mit einem neuen Verkehrskonzept will ein Professor den Individualverkehr auf die Schiene bringen.

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Von
  • Karsten Schäfer

Es war so etwas wie ein Ritterschlag: Malcolm Buchanan, Geschäftsführer des weltweit tätigen Ingenieurbüros Colin Buchanan and Partners in London, feierte euphorisch eine Erfindung aus der ostwestfälischen Provinz. Was ihm da präsentiert wurde, so der weltweit anerkannte Gutachter für Verkehrsplanung, sei „um ein Vielfaches besser als alles, was bisher zur Verfügung steht“.

Was den Fachmann von der Insel dazu bewogen hat, seine britische Zurückhaltung aufzugeben, sieht aus wie aus einem Science-Fiction-Film – und soll den Personennahverkehr revolutionieren. Sein Erfinder ist der 68- jährige Joachim Lückel, Professor für Mechatronik an der Universität Paderborn.

Der Tüftler, der Ende der 60er- Jahre die Schwebetechnik des Transrapids mitentwickelt hat, will allen Ernstes den Individualverkehr auf die Schiene holen. Bahnreisende sollen künftig in Schienenkabinenwagen – sogenannten RailCabs – für acht bis zehn Passagiere über die Gleise flitzen. Mit 160 Kilometern pro Stunde wären sie zwar nicht so schnell wie ein ICE. Dafür aber ließe sich eine wesentlich höhere Durchschnittsgeschwindigkeit erreichen, als es derzeit im deutschen Schienennetz möglich ist. Denn die RailCabs nehmen die kürzeste Route und fahren ohne Zwischenstopp vom Start zum Ziel. Für Gutachter Buchanan sind die Gefährte denn auch „in der Lage, mit dem Auto und dem Straßengütertransport zu konkurrieren“.

Tüftler Lückel ist ein Pionier auf seinem Fachgebiet – und mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet: „Das ist ähnlich revolutionär wie die Erfindung der Glühlampe.“ Seit er vor gut 35 Jahren am Institut für Mechanik der TU München die Schwebetechnik für sich entdeckte, hat das Thema den Bahn- Professor nicht mehr losgelassen. „Ich hatte natürlich immer noch diese Geschichte mit dem Transrapid im Hinterkopf, und irgendwann hatte ich die Idee: Kann man nicht versuchen, die Vorteile der konventionellen Bahn und die der Transrapid-Technik zu verbinden?“

Das war vor ungefähr zehn Jahren. Seit dem Jahr 2003 steht neben dem Lehrstuhl für Regelungstechnik und Mechatronik der Uni Paderborn eine Versuchsanlage der „Neuen Bahntechnik Paderborn“ im Maßstab 1:2,5 – und zu dem ersten RailCab ist Mitte 2006 noch ein zweites hinzugekommen.

„Wir könnten uns per Handy so ein Shuttle bestellen und dann bis München durchfahren“, sagt Lückel. Wie Datenpakete im Internet würden auch die Shuttles ihren Weg durch das Schienennetz selbst bestimmen. Gibt es irgendwo auf der Strecke die von Bahnkunden so gefürchteten Betriebsstörungen, weichen die Shuttles einfach aus und nehmen eine andere Route zum Ziel. „Ich finde es ein Unding für einen heutigen Nutzer der Bahn, dass er sich dem Fahrplan anpassen muss, und wenn der Plan nicht funktioniert, dann wird er allein gelassen“, erregt sich Lückel.

Darum seien die RailCabs eben bedarfsgesteuert – sie fahren, wann und wohin der Kunde es wünscht. Für weiteren Komfort sorgen eine aktive Luftfederung, Neigetechnik und nicht zuletzt die Einrichtung der Fahrzeuge: mit Konferenztisch, Bar, Fernseher oder Mikrowelle und natürlich einer Toilette. Das Interieur der Shuttles haben Architektur-Studenten schon bis ins Detail ausgearbeitet.

Das Herzstück der neuen Bahntechnik ist ein Linearmotor mitten im Gleis, der alle RailCabs antreibt. Er ist Voraussetzung dafür, dass die Shuttles sicher im Konvoi fahren können, mit nur wenigen Zentimetern Abstand untereinander. Denn der Linearmotor kann die Rail Cabs äußerst präzise beschleunigen und abbremsen, unabhängig von der Haftung der Räder. Solche Konvois sparen im Vergleich zu einzelnen Fahrzeugen viel Energie, weil sie windschlüpfriger sind. Zudem erhöhen sie die Kapazität der Strecke.

Der magnetische Antrieb im Fahrweg hat noch zwei weitere Vorteile. Erstens lassen sich damit große Steigungen überwinden. Und zweitens fehlt der Motor im RailCab. Das macht die Shuttles leichter, effizienter und verringert die Produktionskosten, besonders bei großen Stückzahlen. „Wir wollen die Produktionsmethoden des Automobils für unsere Fahrzeuge einführen“, sagt Lückel.

Sollen sich einzelne RailCabs wirklich autonom durchs Netz bewegen, müssen sie in Konvois ein- und ausscheren können. „Das geht nur, wenn die Weichen nicht in einer Sekunde hin und her schalten müssen oder im Winter gar einfrieren“, erklärt Lückel mit Blick auf die herkömmlichen Weichen der Bahn. Also hat er eine vollkommen neue Lösung entwickelt, die sogenannte Passivweiche. Ihr fehlt die bewegliche Weichenzunge. Nur die beiden äußeren Schienenstränge gehen ohne Unterbrechung weiter. Die weicheninneren Räder rollen über eine Lücke zwischen den Schienen. An dieser Stelle müssen die RailCabs selbst lenken, um in der Spur für die eine oder andere Fahrtrichtung zu bleiben.

Trotz aller Begeisterung für sein Baby – die großen Eisenbahnhersteller75 konnte Lückel noch nicht überzeugen. „Wir hatten die ganze Industrie schon da“, erinnert er sich, „Siemens mehrfach, Bombardier, Alstom. Die Großen also, aber die hatten alle kein Interesse, weil sie immer nur auf den Transrapid geschaut haben.“

Eine Anfrage jedoch liegt aus dem Nahen Osten vor. Die Stadt Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten signalisiert Interesse an einem neuen, leistungsfähigen Verkehrssystem, wie es die neue Bahntechnik bietet. Mangels produktreifer RailCabs will Lückel jetzt aber erst einmal den Studenten in Abu Dhabi die Mechatronik beibringen und einen Studiengang für sie einrichten. Ganz oben auf dem Lehrplan steht natürlich die RailCab-Technik. Ob die Vorlesungen in Englisch in Paderborn oder gleich in dem Emirat stattfinden werden, ist noch nicht klar.

Eines der Totschlagargumente gegen die neue Bahntechnik ist, dass das System nicht mit dem herkömmlicher Eisenbahnen kompatibel ist. Noch nicht. „Das geht im Prinzip, aber man darf nicht versuchen, so ein Fahrzeug mit einem ICE auf derselben Strecke fahren zu lassen“, sagt Lückel. „Die maximalen Geschwindigkeiten müssen ungefähr gleich sein. Wir haben sogar schon überlegt, wie eine Kombiweiche aussieht, die beide Systeme enthält.“ Denn neben den verschiedenen Sicherungssystemen, allen voran die Abstandsregelung, ist die Weiche der größte Knackpunkt für einen gemischten Verkehr auf beiden Netzen.

Während die Industrie noch zurückhaltend ist, hat manch einer in der Politik das Potenzial der RailCabs längst erkannt. Zu den langjährigen Befürwortern gehört Frank Speier, promovierter Physiker und Leiter der Abteilung Forschung und Technologie im NRWInnovationsministerium: „Ich halte das für ein Projekt, das zwar auch scheitern kann. Aber wenn es läuft, dann ist das wirklich eine riesengroße Kiste.“

Für diese „riesengroße Kiste“ macht sich Speier seit Jahren stark. Allerdings mit einem anderen Schwerpunkt als die Paderborner. „Wir haben ein riesengroßes logistisches Problem auf der Straße mit den Lastern, und wir haben im Prinzip die Lösung mit dem Rail- Cab.“ Sein Plan ist, dass die Paderborner Forscher die neue Bahntechnik zusammen mit der Fraunhofer-Gesellschaft speziell für den Güterverkehr weiterentwickeln. So könnte die Lücke zwischen universitärer Forschung und den Entwicklungsabteilungen der Industrie geschlossen werden.

Auf der anderen Seite möchte Speier die potenziellen Anwender des Systems zusammentrommeln, Logistikunternehmen wie DHL, Versandhäuser wie Otto oder die großen Hafenbetreiber. Eine denkbare Aufgabe für die RailCabs wäre nämlich, Container aus den überfüllten Häfen in Deutschland und den Niederlanden zur Abfertigung ins Hinterland zu transportieren.

Eine Studie soll dann klären, ob die Wünsche und Vorstellungen der Anwender technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll sind. Ist dies der Fall, würde auch das Bundesverkehrsministerium finanziell einsteigen, sagt Speier. „Dieser Technologie muss entweder der große Durchbruch gelingen oder sie wird gar nichts. Und das können wir nur herausfinden, wenn wir die RailCabs zu einem nationalen Projekt erheben.“ (nbo)