"Wo andere ein Gewissen haben, ist da nichts"

Die Psychologin Martha Stout hat mit "The Sociopath Next Door" einen US-Bestseller verfasst, in dem sie Aufklärung über die soziopathische Persönlichkeitsstörung leistet.

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Die Psychologin Martha Stout hat mit "The Sociopath Next Door" einen US-Bestseller verfasst (auf Deutsch als "Der Soziopath von Nebenan" bei Springer, Wien, erschienen), in dem sie Aufklärung über die soziopathische Persönlichkeitsstörung leistet. Der gewissenlose Mensch, so schreibt die langjährige Dozentin am Institut für Psychologie der Harvard Medical School, sei wesentlich häufiger anzutreffen, als allgemein angenommen – und schade auch der Wirtschaft schwer.

Technology Review: Frau Stout, was ist ein Soziopath?

Martha Stout: Ein Soziopath ist ein Mensch, der nicht nur lügt, sondern für den das Lügen zu seinem Lebenstil gehört. Er oder sie ist eine Person, die keine Reue kennt – egal, was sie auch verbrochen hat. Der Soziopath übernimmt keinerlei Verantwortung, weder für andere Menschen, noch für Dinge, noch für sich selbst.

Gleichzeitig sind Soziopathen oft oberflächlich sehr charmant. Unter dieser Oberfläche sind sie aber eigentlich eiskalt und kennen keinerlei echte gefühlsmäßige Bindung zu anderen Menschen. Das Problem ist, dass viele Menschen leicht auf Soziopathen hereinfallen.

TR: Wie hoch würden Sie den Anteil der Soziopathen an unserer Gesamtgesellschaft einschätzen?

Stout: Rund vier Prozent. Das kommt einigen Leuten ziemlich viel vor – in Wahrheit dürften es aber sogar noch mehr sein, wie mir viele Kollegen im Vertrauen sagten. Ich bin auf den Wert gekommen, in dem ich mir die verfügbare Literatur vorgenommen und dann eine Meta-Analyse durchgeführt habe. Vier Prozent war dabei der Näherungswert.

Das heißt also: Eine Person in einer Gruppe von 25 ist soziopathisch veranlagt. Und selbst wenn die Zahl um die Hälfte danebenläge, wäre sie noch signifikant – so signifikant, dass es der Aufklärung der Bevölkerung bedarf.

TR: Gibt es internationale Unterschiede?

Stout: Studien, die in Fernost durchgeführt wurden, zeigen dort geringere Werte. Warum das so ist, weiß man allerdings noch nicht.

TR: In Ihrem Buch "The Sociopath Next Door" unterscheiden Sie scharf zwischen soziopathisch veranlagten Personen und Menschen mit anderen Formen von Persönlichkeitsstörungen – wie beispielsweise der narzisstischen. Lassen sich solche Unterscheidungen tatsächlich so deutlich vornehmen?

Stout: Es gibt sicher narzisstisch veranlagte Menschen, die den ein oder anderen soziopathischen Zug besitzen und Soziopathen, die auch teilweise narzisstisch sind – Letzteres dürfte sogar sehr häufig vorkommen. Wo ich aber eine ganz klare Linie ziehe – was ich auch in meinem Buch versuche – ist beim Gewissen. Soziopathen haben schlichtweg keines.

Es gibt außerdem keine andere klinisch feststellbare Persönlichkeitsstörung, bei der es nicht zu einem wie auch immer gearteten Unwohlsein kommt. Soziopathen stört ihre Erkrankung nicht – ihnen ist sie nur selten überhaupt bewusst. Damit sind Soziopathen auch eine Patientengruppe, bei denen der Behandelnde sich eingestehen muss, dass er fast keine Möglichkeit hat, gegen die Störung vorzugehen. Ganz einfach zusammengefasst: Wenn man kein Gewissen hat, kann man es auch nicht nachträglich wiederherstellen. Persönlichkeitsstörungen sind immer schwer zu behandeln, weil sie Teil der Persönlichkeit sind – aber hier ist es nahezu unmöglich.

TR: Wie erklären Sie sich das?

Stout: Meiner Meinung nach liegt es daran, dass eine soziopathische Störung eine biologische Komponente hat. Es gibt signifikante Unterschiede im Gehirn, die wir bei anderen Persönlichkeitsstörungen nicht feststellen. Persönlichkeitsstörungen ergeben sich sonst eher aus äußeren Gegebenheiten – als Reaktion auf Probleme, beispielsweise in der Kindheit.

Zudem haben Soziopathen oft keine Motivation, sich in Behandlung zu begeben, weil sie einfach nicht leiden. Sie sind nicht einsam, weil ihnen andere Menschen eigentlich egal sind, während ein Narziss beispielsweise etwa wegen seiner Beziehungsunfähigkeit in Behandlung käme. Soziopathen denken häufig, dass mit ihnen alles in Ordnung ist – die Außenwelt ist das Problem, nicht sie. Deshalb kommen sie oft nur dann in die Praxis, wenn dies beispielsweise ein Richter angeordnet hat.

TR: Auch Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben enorme Probleme, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen. Können Sie das zum Konzept des "Gewissens" bei der Soziopathie näher abgrenzen?

Stout: Ich erkläre das immer so: Bei einem Narzissten fehlt die Empathie völlig oder nahezu. Er versteht nicht, was andere fühlen – und das tut diesen anderen oft sehr weh. Ein fehlendes Gewissen ist das aber nicht. Es gibt durchaus Narzissten, die sich um andere Menschen sorgen – ihnen fehlt nur die Erkenntnis der Gefühle anderer. Der Narziss selbst kann aber fühlen – etwa traurig sein, lieben, leidenschaftlich sein.

Bei Soziopathen fehlt nicht nur die Empathie, sondern die eigene Gefühlswelt. Soziopathen können nicht lieben, sie empfinden nur Leere und Kälte. Ich weiß, dass das für viele Menschen sehr schwer begreifbar ist.

Das Gefährliche an Soziopathen ist aber, dass sie Empathie simulieren können – sie lernen, wie man sie vorspielt. Das wirkt auf andere Menschen häufig charmant, während Narzissten eher abstoßen.

TR: Wie "anders" sind Soziopathen?

Stout: In der westlichen Welt herrscht ein weit verbreitete Glaube: Wenn ein Mensch zu etwas Schlimmem fähig ist, dann ist jeder Mensch dazu fähig – jedenfalls unter den entsprechenden Bedingungen. Ich glaube allerdings, dass das nicht stimmt.

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jeder von uns zu jeder Form schrecklicher Taten taugt. Das ist keine Fähigkeit, die wir alle besitzen. Es gibt Verhaltensweisen, für die es notwendig ist, dass ein bestimmter Bestandteil in unserer Gefühlswelt fehlt, den 96 Prozent von uns haben.

Das heißt nicht, dass ich nicht glaube, dass wir nicht töten könnten. Viele von uns könnten das, beispielsweise, wenn wir bedroht werden – oder jemand, der uns nahe steht. Aber das kalte, unfassbare, das Soziopathen beherrschen, ist keine grundlegend menschliche Eigenschaft.

Mir ist enorm wichtig, dass man das versteht und sich dagegen schützen kann. Ein Soziopath kann tun, was er will – egal, was es ist. Und zwar völlig kaltblütig. Das ist vielen Menschen schlicht unbegreiflich.

TR: In ihrem Buch beschreiben Sie, wie soziopathisch veranlagte Personen in Unternehmen schweren Schaden anrichten können – entsprechende Skandale gab es in den letzten Jahren immer öfter. Sollten Personalabteilungen Kandidaten vorher auf Soziopathie testen?

Stout: Erstens muss man sich klar werden, ob solche Tests mit einer offenen Gesellschaft in Einklang zu bringen sind. Die Frage an sich ist aber dennoch sehr interessant. Wir besitzen tatsächlich entsprechende Prüfungsmöglichkeiten, die sogar ziemlich genau sind und auch nicht besonders viel Zeit in Anspruch nehmen würden. Diese Tests sind außerdem recht schwer auszutricksen. Man verwendet sie in der Psychiatrie.

Die Frage bleibt aber, in welcher Situation man sie anwenden soll. Andererseits – ich meine, Firmen nehmen ja auch Drogentests bei ihren Angestellten vor. Mir hat kürzlich jemand erzählt, dass es beispielsweise bei kleinen Risikokapitalfirmen ausreicht, wenn nur ein Partner soziopathisch veranlagt ist und das alles nur für sich macht – dann geht die ganze Firma kaputt.

Also: Ich weiß es nicht – vielleicht lohnt es sich für kleine Unternehmen durchaus. Ich selbst würde mir aber nicht anmaßen wollen, über solche Tests zu entscheiden. Ich bin Psychologin und keine Politikerin. Interessant ist aber durchaus, dass wir diese Leute ziemlich leicht feststellen könnten. Es ist uns aber offenbar sehr unangenehm, es auch zu tun.

TR: Liegt das wirklich Gewissenlose außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft?

Stout: Für einen normalen Menschen ist es kaum fassbar. Bei anderen Persönlichkeitsstörungen wie dem von Ihnen angesprochenen Narzissmus kann man sich irgendwie hineinversetzen – wir alle waren schon einmal gefühlskalt. Kein Gewissen zu haben und nicht einmal Gefühle für seine eigenen Kinder zu entwickeln, erscheint uns hingegen unbegreiflich. Das macht es auch so schwierig, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass solche Leute unter uns wandeln und scheinbar ganz normal sind.

TR: Sie trennen sehr scharf zwischen Soziopathen und "normalen" Menschen. Ist es wirklich so einfach?

Stout: Ich glaube, dass es die Trennlinie gibt – Soziopathie ist hier die Ausnahme von der psychologischen Regel. Entweder hat man ein Gewissen oder man hat keines. Unter denjenigen, die ein Gewissen haben, gibt es aber feine Unterschiede: Es gibt Menschen, die haben ein ausgeprägtes Gewissen und solche, bei denen es geringer entwickelt ist – nicht jeder von uns ist eben eine Mutter Theresa. Bei Soziopathen ist da aber nichts – da ist ein Loch. Sie sind vielleicht nicht alle Killer, denn sie besitzen nicht alle Mordlust, aber das fehlende Gewissen ist eine ganz neue Qualität.

Wir kommen alle einmal in die Situation, wenn wir krank sind oder in anderen extremen Fällen, in denen wir weniger Gewissen zeigen. Aber das vollkommene, wortwörtliche Fehlen von Gewissen ist etwas ganz anderes.

TR: Wie behandelt man einen Soziopathen?

Stout: Wenn er sich tatsächlich in Therapie befindet, ist das eine eher mechanische Sache, normale Therapieformen greifen kaum. Es geht darum, das Verhalten zu kontrollieren. Soziopathen werden ganz anders motiviert als normale Menschen. Es hat etwas Erzieherisches: "Wenn Du das machst, gehst Du ins Gefängnis" oder "Das Verhalten hat diese materiellen Konsequenzen für Dich". Es geht um sehr, sehr einfache, grundlegende Dinge – A folgt auf B, wie ein Lehrer vor kleinen Kindern.

Ich habe mich einmal mit einem Mann unterhalten, der ein Programm für Menschen leitet, die wegen Alkohol am Steuer mehrfach verhaftet wurden. Ihm wurde irgendwann klar, dass sich darunter viele Soziopathen befanden. Er stellte seinen Ansatz daraufhin um: Früher versuchte er den Leuten zu erklären, dass sie anderen Menschen durch ihr Verhalten Schaden zufügen oder sie sogar töten könnten. Es stellte sich aber heraus, dass das diesen Delinquenten ziemlich egal war.

Inzwischen erzählt er seinen Kandidaten einfach die kalten, harten Fakten: Sie werden jedes Mal verhaftet, verlieren ihren Führerschein, sie werden nicht mehr mobil sein und so weiter. Das war die einzige Chance, ihr Verhalten zu ändern. (wst)