Chemische Vergangenheitsbewältigung

Heute tritt eines der größten Regelwerke in Kraft, die die EU je beschlossen hat: das europäische Chemikalienrecht REACH. Wird es zum teuren Wirtschaftshemmnis? Und führt es zum großen Schlachten, weil Millionen zusätzlicher Tierversuche nötig werden?

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Niels Boeing
Inhaltsverzeichnis

Seit einigen Monaten herrscht in Brüssel „grüne Welle“. Mit verschiedenen Strategiepapieren zu Klimapolitk oder Energieversorgung will die EU zeigen, dass sie den Schutz von Umwelt und Verbrauchern ernst nimmt. Eher abseits von den großen Schlagzeilen tritt heute ein umfangreiches Regelwerk in Kraft, das hierbei nicht minder ehrgeizig ist: das neue einheitliche EU-Chemikalien-Recht REACH, kurz für „Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals“. Rund 30.000 seit Jahrzehnten genutzte Chemikalien müssen nun bei der neuen Europäischen Agentur für chemische Stoffe in Helsinki registriert werden – allerdings nicht sofort, denn zunächst beginnt erst einmal eine 18-monatige Vorregistrierungsphase.

In der gewaltigen Lobbyschlacht, die der Verabschiedung von REACH im EU-Parlament im Dezember 2006 voranging, wurden vor allem Opferszenarien an die Wand gemalt. Die Wirtschaft sah Kosten in Milliardenhöhe auf sich zukommen, Verbraucher- und Umweltverbände monierten, die Bürger würden hinters Licht geführt. Und Tierschützer warnten, dass jährlich bis zu 35 Millionen Versuchstiere zusätzlich – das Dreieinhalbfache der jetzigen Zahl – EU-weit getötet werden müssten, um die Altstoffe auf ihre Gesundheits- und Umweltverträglichkeit zu testen.

Was hatte die Gemüter derart erhitzt? REACH bezieht sämtliche existierenden Chemikalien ein, auch solche, die vor 1981 auf den Markt kamen. Damals trat das bisherige europäische Chemikalienrecht in Kraft und ließ die Altstoffe außen vor. Auf ihre Unbedenklichkeit mussten nur Substanzen geprüft werden, die danach entwickelt wurden – das waren seitdem etwa 4000. Rund 100.000 Stoffe existierten aber schon vorher. REACH verlangt nun, dass Hersteller und Importeure all diese Stoffe in Helsinki registrieren lassen, sofern jeweils mehr als eine Tonne davon pro Jahr erzeugt wird.

Welche Daten dabei eingereicht werden müssen, hängt vom jeweiligen „Mengenband“ ab, der jährlichen Produktionsmenge. Ab zehn Tonnen pro Jahr müssen neben einem technischen Dossier ein Stoffsicherheitsbericht, ab 100 beziehungsweise 1000 Tonnen pro Jahr noch weitere Daten zur Toxikologie beim Menschen und zur Ökotoxikologie vorgelegt werden. Stellt die Chemikalien-Agentur ein Gefährdungspotenzial für einen Stoff fest, kann sie ein Zulassungsverfahren einleiten, in dem weitere Tests vorgesehen sind.

Das Problem ist: Aufgrund der Schwelle von einer Tonne fallen zunächst etwa 70.000 Stoffe wieder aus REACH heraus, weil sie in geringeren Mengen produziert werden. Damit geht REACH sogar hinter die bisherige EU-Regelung zur Neuanmeldung zurück, die bereits ab einer Jahresproduktion von zehn Kilogramm griff. Umweltverbände kritisieren, dass zwei Drittel der noch zu registrierenden 30.000 Stoffe im Mengenband zwischen einer und zehn Tonnen liegen. Das hierfür verpflichtende technische Dossier biete aber kaum Anhaltspunkte für Gefährdungspotenziale, weil es nur einige grundlegende Angaben zum Material enthalten müsse.

Hemmnis oder internationales Vorbild?

Seit Dezember ist es aber erstaunlich ruhig um das vermeintlich neue bürokratische Monster aus Brüssel geworden. Offenbar haben sich die Hersteller in das Unvermeidliche gefügt. „Die großen Player wissen doch schon lange, was auf sie zukommt“, winkt REACH-Experte Michael Cleuvert von Dr. Knoell Consult ab. Das Unternehmen ist einer von etwa zehn Full-Service-Providern für die chemische und die pharmazeutische Industrie in der EU, die Hersteller bei der nun anstehenden Registrierung beraten. Cleuvert hält die Verordnung durchaus für vernünftig: „Wenn die Altstoffe so wie bisher auf freiwilliger Basis getestet würden, wäre man in 2500 Jahren damit fertig.“

Dass das Mengenband zwischen zehn Kilogramm und einer Tonne – darunter auch viele neue Nanomaterialien, die nur in kleinen Mengen produziert werden – aus REACH herausgefallen ist, ist nach Cleuverts Ansicht vertretbar. Formal habe Greenpeace zwar Recht, wenn es diese Änderung als Rückschritt kritisiert. Aber bei Stoffen unterhalb einer Tonne jährlicher Produktionsmenge bestehe „eigentlich keine hohe Umweltrelevanz“. Das Risiko, das sie von Menschen, Tieren oder Pflanzen aufgenommen werden können, sei deutlich geringer als bei Stoffen, die in großem Umfang produziert werden.