Pharma versus Evolution

Medikamente gegen Fettleibigkeit gelten als wichtiger Wachstumsmarkt. Doch die verfügbaren Mittel zeigen kaum nachhaltigen Nutzen. Auch neue Hoffnungsträger fallen reihenweise durch – denn der Mensch ist darauf programmiert, möglichst viel zu essen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery

Wer in den nächsten Wochen mit SAS fliegt, wird möglicherweise gebeten, nicht nur sein Gepäck, sondern auch sich selbst auf die Waage zu stellen. Denn in Stichproben hatte die skandinavische Airline festgestellt, dass Passagiere heute im Durchschnitt drei Kilo mehr wiegen als noch vor zehn Jahren – ein voll besetzter Flieger könnte dadurch eine volle Tonne schwerer sein, als die alte Norm vermuten lässt. Um genauere Daten zu bekommen, will SAS deshalb jetzt bei noch einmal 20000 Passagieren das Gewicht überprüfen.

Drei Kilo mehr pro Person klingt nicht nach viel, doch Mediziner und Ernährungsexperten warnen vor einem schleichenden, aber auf lange Sicht dramatischen Anstieg der Zahlen von Übergewichtigen und Fettleibigen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht von mittlerweile weltweit 2 Milliarden Menschen aus, die zu viele Pfunde auf den Rippen und anderswo haben; 400 Millionen davon gelten als ernsthaft „fettleibig“. Und das ist nicht nur ein ästhetisches Problem: Zu hohes Gewicht erhöht laut Studien das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes, Herzerkrankungen oder Schlaganfälle. Kein Wunder also, dass die Pharma-Industrie in Schlankmachern einen großen Zukunftsmarkt sieht. Doch die bisherigen Erfolge sind mäßig, und einiges spricht dafür, dass sich daran nicht viel ändern wird.

Dabei ist für manche Leute – insbesondere selbst nicht von Übergewicht geplagte – alles ganz einfach: Wer weniger wiegen will, soll weniger Fett und Zucker zu sich nehmen und sich mehr bewegen. Doch wie mehrere große Studien bei fettleibigen Menschen mittlerweile gezeigt haben, funktioniert das nicht. Das Gleiche gilt zumindest für die ersten Versuche mit Schlankmachern wie Amgens „r-metHuLeptin“, das über die künstliche Zufuhr des Sättigungshormons Leptin wirken sollte, über klinische Studien aber nie hinauskam. „Obwohl Umweltfaktoren das Auftreten von Fettleibigkeit mit beeinflussen, sind die individuellen Gewichtsunterschiede größtenteils durch genetische Faktoren begründet“, schreibt Jeffrey Friedman von der Rockefeller University in New York im Fachjournal „Nature Medicine“.

Friedman hatte im Jahr 1994 Leptin entdeckt und damit die Ära der molekularbiologischen Ernährungsmedizin eingeläutet. Doch je mehr Details die Forscher entschlüsseln, desto deutlicher wird, dass sich die Hoffnung auf müheloses Abnehmen in naher Zukunft nicht erfüllen wird. Selbst in Kombination mit Diäten und Sport lassen die heute verfügbaren Medikamente im Durchschnitt nur zwei bis zehn Kilos purzeln. Zudem hält ihre Wirkung nur so lange an, wie die Medikamente eingenommen werden. Trotzdem ist die Nachfrage seitens der Betroffenen ungebrochen. Und auch für die Pharmaunternehmen bleibt die Verheißung groß: Der Analysedienst MedMarket Diligence beziffert die weltweiten Umsätze mit zugelassenen Mitteln derzeit auf 624 Millionen US-Dollar. Bis 2015 soll der Markt mit etwa 4,9 Milliarden US-Dollar achtmal so groß sein.

Diese Schätzung lag ursprünglich sogar noch höher, wurde aber kürzlich nach einem empfindlichen Rückschlag bei Sanofi-Aventis nach unten korrigiert: Mitte Juni hatte ein Gutachtergremium der US-Zulassungsbehörde FDA einstimmig empfohlen, den erhofften Abspeck-Blockbuster Zimulti (in Europa als Acomplia bereits erhältlich) nicht zuzulassen - bei mehreren Studienteilnehmern traten Depressionen auf, zwei brachten sich sogar um. Da die FDA für gewöhnlich den Empfehlungen des Gremiums folgt, zog das deutsch-französische Unternehmen den Zulassungsantrag für den lukrativen US-Markt zurück. Acomplia soll den Hunger dämpfen, indem es die körpereigenen Cannabinoid-Rezeptoren blockiert. Diese sind vor allem im Gehirn, aber auch im Fettgewebe, im Magen-Darm-Trakt und in Muskeln zu finden und spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Energiebilanz und des Verlangens nach Nahrung sowie im Glukose- und Fettstoffwechsel. Forscher hatten bei Ratten beobachtet, dass deren Endocannabinoid-System bei einem Nahrungsüberangebot übermäßig aktiv ist; eine Blockade erschien logisch.

Bei Menschen hielt sich die Wirkung von Acomplia in Grenzen: Die Probanden in klinischen Studien nahmen im Schnitt 3,4 bis 8,6 Kilo ab; die Kontrollgruppe, behandelt mit einem Placebo, verlor etwa 2 Kilo. Anders als die FDA hatte die europäische Zulassungsbehörde EMEA keine großen Bedenken gegen Acomplia. Doch nach der Entscheidung der US-Behörde verschickte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Warnbriefe an die Ärzte: Sie sollen Acomplia nicht bei Patienten verschreiben, die an einer ausgeprägten Depression leiden oder schon Suizidgedanken hatten. Der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen stufte Acomplia zudem als Lifestyle-Mittel ein. Damit ist es zwar verschreibungspflichtig, die Kosten werden aber von den Kassen nicht erstattet.

Eine Rolle bei dieser Entscheidung dürften auch die Bedenken von Ärzten gespielt haben: Etwa die Hälfte der Studienteilnehmer war vorzeitig aus den Tests ausgestiegen. Dennoch wurden sie bei der Auswertung mit dem zuletzt gemessenen Gewicht mit berücksichtigt. Dieses Vorgehen könne "den Therapieerfolg überschätzen", kritisieren die Endokrinologen Thomas Rotthoff und Professor Werner Scherbaum in einem Fachaufsatz. Denn bereits viele Studien hätten gezeigt, dass die größten Erfolge am Anfang auftreten und die meisten Patienten später wieder zunehmen - unter Betroffenen bekannt als "Jo-Jo-Effekt".

Unschöne Nebenwirkungen haben auch die anderen beiden zugelassenen Adipositas-Medikamente: Roches Xenical verursacht in manchen Fällen schwer kontrollierbaren Durchfall, Abbotts Reductil kann zu Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen führen - zum Teil wahrscheinlich mit Todesfolge. Allen drei Mitteln ist zudem gemeinsam, dass sie jeweils nur an einem Zielmolekül oder einem Punkt des Stoffwechsels ansetzen. Längst suchen Unternehmen deshalb nach Wirkstoffen oder Kombinationen, die an mehreren Fronten in den Energiehaushalt oder die Regulation von Hunger und Sättigung eingreifen.

Regeneron Pharmaceuticals Appetithemmer Axokine sollte eine solche Diät-Pille der zweiten Generation sein. Der gentechnisch hergestellte Hirnbotenstoff CNTF sollte durch Drosselung des Hungergefühls für Gewichtsverlust sorgen, indem er Neurone aktiviert, die appetithemmende Proteine herstellen, und gleichzeitig andere Neuronen daran hindert, appetitfördernde Proteine zu produzieren. Nach ersten vielversprechenden Tests - die Probanden nahmen zwar nur fünf Prozent ab, hielten das Gewicht aber bis zu einem Jahr lang - wurde der Hoffnungsträger jedoch aus dem Rennen genommen, nachdem mehr als die Hälfte der Testpersonen Antikörper gegen ihn entwickelt hatten.

Aus den Laboren von Orexigen stammt ein weiteres Zwei-Fronten-Medikament: Contrave, eine Kombination der bereits eingeführten Medikamente Bupropion und Naltrexone, befindet sich derzeit in der dritten und damit letzten Phase klinischer Studien. Bupropion ist ein Antidepressivum, bei dem als Nebenwirkung ein Abnehmen festgestellt wurde. Naltrexone wird zur Behandlung von Suchterkrankungen eingesetzt und reduziert das Belohnungsempfinden im Gehirn. Im Kampf gegen Fettleibigkeit soll es die Hochgefühle hemmen, die Essen auslösen kann. Doch auch Contrave kommt, wenn es denn zugelassen wird, nicht ohne unangenehme Begleiterscheinungen: Als Nebenwirkungen können Übelkeit, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen auftreten.

Angesichts des aller Voraussicht nach wachsenden Bedarfs sucht eine ganze Reihe weiterer Pharma-Unternehmen nach Fettkillern. Allerdings setzen sie meist an altbekannten Akteuren der Energie- und Nahrungsaufnahme-Regulation an oder kombinieren bereits zugelassene Medikamente neu. So streben zum Beispiel auch Pfizer und Solvay Pharmaceuticals die Blockade der Cannabinoid-Rezeptoren an.
Außer an solchen Medikamenten, die für einen nachhaltigen Effekt wohl ein Leben lang genommen werden müssten, forschen Unternehmen auch an neuen Wirkstoffen mit Langzeitwirkung. Eine Möglichkeit sind Impfungen, mit denen das Immunsystem zum Beispiel gegen das Hormon Ghrelin trainiert wird. Diese Substanz wird hauptsächlich von Magenzellen gebildet und ruft - jeden Tag zu den gleichen Uhrzeiten - das Hungergefühl hervor. Es macht insbesondere Appetit auf fettreiche Nahrung, stimuliert die Einlagerung des Nährstoffs in Fettzellen und reguliert gleichzeitig den Fettabbau herunter. Auf diese Weise versucht der Körper, Energiereserven für schlechte Zeiten anzulegen.

Ließe sich die Ghrelin-Menge dauerhaft drosseln, könnte man durch weniger Appetit die Kalorienzufuhr senken und hätte gleichzeitig einen Hebel gegen den Jo-Jo-Effekt: Bei jedem Gewichtsverlust steuert der Körper nämlich normalerweise durch die Ausschüttung von noch mehr Ghrelin gegen, um für eine größere Kalorienaufnahme zu sorgen. Während das Schweizer Unternehmen Cytos Biotechnology seine klinischen Studien mit seinem Ghrelin-Impfstoff im letzten Jahr wegen Erfolglosigkeit abgebrochen hat - er bewirkte keinen größeren Gewichtsverlust als das Placebomittel -, hoffen Forscher vom renommierten Scripps Research Institute in Kalifornien noch auf mehr Erfolg. Ihre Antigene, die das Immunsystem gegen Ghrelin aufhetzen sollen, haben sich bislang aber erst in Tierversuchen bewährt.

Eine gänzlich neue Strategie hat die von CytRx und dem Nobelpreisträger Craig Mello mit gegründete RXi-Pharma gewählt: Das US-Unternehmen will mithilfe der RNA-Interferenz-Technologie das Gen RIP140 inaktivieren. Durch dessen Ausschalten würde in den Fettzellen gleichsam ein Schalter von Speicherung auf Verbrennung umgelegt. Weitere Details will das Unternehmen aber derzeit nicht verraten.
Angesichts der Komplexität des Steuersystems für Energiehaushalt und Gewicht im menschlichen Körper ist es nicht verwunderlich, wie bescheiden die bisherigen Erfolge mit Diät-Pillen und wie groß ihre Nebenwirkungen sind. Überwacht und gesteuert wird die Balance von Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch über hormonelle und neuronale Signale, die Informationen aus dem Magen-Darm-Trakt und dem Fettgewebe zum Gehirn leiten. Der Körper ist aber bestrebt, große Gewichtsverluste unter allen Umständen zu verhindern. "Fettleibige kämpfen gegen mächtige evolutionäre Kräfte, die unter von unseren Umweltbedingungen grundlegend verschiedenen Umständen ausgeprägt wurden", schreibt Leptin-Entdecker Friedman.

Denn die Schutzmechanismen gegen Gewichtsverlust waren früher aus evolutionärer Sicht durchaus sinnvoll, weil sie das Überleben in Hungerperioden sicherten - nach oben sind dem Gewicht nicht annähernd so strenge Grenzen gesetzt wie nach unten. Deshalb erweisen sich die Schutzmechanismen bei dem heutigen Nahrungsüberangebot und Bewegungsmangel oft als schier unüberwindbar: Der Körper unterscheidet nicht, ob eine Diät oder eine Hungersnot für die eingeschränkte Kalorienzufuhr verantwortlich ist. Deshalb pegelt sich das Gewicht bei den meisten Diäten und Therapien auf einem Plateau-Wert ein.

Zudem setzt just das Abschmelzen des unerwünschten Bauchfetts ein Notfallprogramm gegen weiteren Gewichtsverlust und für die Rückkehr zum Ursprungsgewicht in Gang. Das Fettgewebe ist nämlich mitnichten nur ein passiver Energiespeicher, sondern lebensnotwendig und fungiert wie ein Organ: Es bildet Hormone wie das Leptin und steht mit den für den Energiehaushalt verantwortlichen Kommandozentren des Gehirns in Verbindung. Die Menge an Bauchfettgewebe wird vom Körper genau überwacht. Nimmt es ab, wird weniger Leptin gebildet. Das aber ist ein Zeichen für den Körper, nach mehr Nahrung zu verlangen und den Energieverbrauch zu drosseln. Umgekehrt passiert aber nicht das Gleiche: Große Fettspeicher produzieren zwar mehr von dem Sättigungshormon, ab einer bestimmten Menge wird der Appetit dadurch jedoch nicht mehr weiter gehemmt.

Wenn aber die These stimmt, dass ein Nahrungsüberangebot und fehlende Bewegung unweigerlich zum Zunehmen führen, warum sind wir dann nicht alle dick? Neben den Schutzmechanismen der Evolution und den Einflüssen der Umwelt spielen auch genetische Faktoren eine Rolle. So erben wir zum Beispiel - ähnlich wie die Körpergröße - einen Gewichtsgrundwert von unseren Eltern. Belegen lässt sich das durch Adoptivkinder, die bei dicken Eltern aufwachsen, aber schlanke biologische Eltern hatten: Sie bleiben dünn. Zu den vorbestimmten Stellschrauben zählt etwa die Empfindlichkeit für Leptin. Eine Person, die zwar genug davon bildet, deren Gehirnrezeptoren aber das Signal gleichsam nicht richtig hören, wird mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mehr essen als nötig. Nicht genutzte Nährstoffe wandelt der Körper entweder in Wärme, Muskelmasse oder Fett um - in welchem Verhältnis das geschieht, ist ebenfalls genetisch bestimmt.

Komplett mit ungünstigen Erbanlagen herausreden können sich Dicke trotzdem nicht: "Die Genetik erklärt nur, warum manche dicker sind als andere", sagt Professor Stephan Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin an der Universität Hohenheim. Sie erkläre aber nicht, warum es heutzutage mehr Dicke gibt. "Nicht die Gene haben sich verändert, sondern der Lebensstil", sagt der Mediziner. Auch Professor Hans-Georg Joost, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung, verdächtigt eher externe Faktoren: "Eine Gewichtszunahme um wenige Kilogramm lässt sich mit dem Wandel in den letzten 20 bis 40 Jahren erklären: Unsere Nahrung ist kaloriendichter geworden, mit mehr Fett und Zucker und weniger Ballaststoffen. Dadurch tritt das Sättigungsgefühl erst nach zu hoher Kalorienaufnahme ein - das System, das die Energiebilanz regelt, wird ausgetrickst."

Allerdings hat die US-Forscherin Carrie Haskell-Luevano zumindest in Versuchen mit Mäusen gezeigt, dass sich sogar genetische Störungen ausgleichen lassen: Hatten Mäusebabys, denen der Gehirnrezeptor MC4 für den appetithemmenden Botenstoff Melanocortin fehlt, ein Laufrad in ihrem Käfig, wurden sie nicht übergewichtig. Sobald sie keine Möglichkeit zur körperlichen Betätigung mehr hatten, wurden sie schnell so fett wie ihre Artgenossen, denen der Rezeptor ebenfalls fehlte. Haskell-Luevano arbeitet deshalb jetzt an therapeutischen Molekülen, die an fehlerhaft ausgebildeten MC4-Rezeptoren ansetzen und so Fettleibigen, deren hohes Gewicht auf dem Rezeptordefekt beruht, ein künstliches Völlegefühl vermitteln sollen.
Je mehr Details die Forschung in der komplexen biologischen Steuerung von Nahrungsaufnahme und Energiehaushalt aufdeckt, desto mehr potenzielle Ziele bieten sich auch für eine medikamentöse Therapie von Fettleibigen an. Das tut bitter not, denn bislang hat sich noch jede Strategie gegen zu viel Fett - ob mit Pillen, Diäten, Sport oder Kombinationen - als weitgehend wirkungslos erwiesen. Immerhin aber nähren die jüngsten Erkenntnisse von Carrie Haskell-Luevano die Hoffnung, dass genügend Bewegung doch etwas bewirken kann. Allerdings müsste man damit wohl schon als Kleinkind anfangen und dann konsequent dabeibleiben.
(nti)