Das Netz, der Müll und der Tod

Dem Internet und seiner Kultur droht Ungemach. Es muß sich nicht nur auf den Ansturm kommerzieller Informationsanbieter einstellen, sondern auch mit verschärfter öffentlicher Kontrolle rechnen. So befindet sich die Mutter aller Netze im Augenblick wohl am kritischen Punkt ihrer Entwicklung.

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Lesezeit: 21 Min.
Von
  • Michael Kunze
Inhaltsverzeichnis

Seit die amerikanische Regierung das Internet zum Träger des Information Highway bestimmt hat, richten sich die Augen flinker Geschäftemacher auf ein vermeintlich unerobertes Reich von 30 Millionen Info-Kunden, das für die Zukunft gigantische Profite verheißt. Aber auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit spielt das Internet eine verstärkte Rolle: es vergeht kaum ein Tag, an dem das weltumspannende Netz keine Schlagzeilen macht. In letzter Zeit fallen diese allerdings eher negativ aus - das Internet und insbesondere die Newsgroups erscheinen als Heimat von Pornographen, Terroristen und Raubkopierern, die schleunigst gesetzlicher Kontrolle unterstellt werden muß, wenn die Zivilisation keinen Schaden nehmen soll.

Besonders das Bombenattentat von Oklahoma führte in den amerikanischen Medien einmal mehr zu massivem Argwohn gegenüber dem Informationspool des Internet und dessen Benutzern. Seit bekannt wurde, daß sich auf einigen FTP-Servern des Netzes Dateien mit detaillierten Anleitungen zum Bau von Bomben nach Art des Oklahoma-Sprengkörpers finden lassen, steht die Verbreitung krimineller und pornographischer Inhalte über Online-Dienste im Brennpunkt der öffentliche Diskussion. Mittlerweile hat sich schon der amerikanische Senat der Problematik angenommen: am 14. Juni verabschiedete die Kammer den Communications Decency Act (CDA). Sollte diese Vorlage Gesetzeskraft erlangen, bedroht sie Autoren und Verbreiter von obszönen (obscene oder anstößigen (indecent) Inhalten mit Geldstrafen bis zu 100 000 US-$. Unter diesen Umständen wäre auch das Internet weitreichenden Zensurmaßnahmen ausgesetzt.

Daß die amerikanischen Medien das Attentat von Oklahoma mit anarcho-terroristischen und pornographischen Inhalten im Internet in Verbindung bringen, wirkt allerdings reichlich verwegen. Die gesamte virtuelle Kriminalität im Netz, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen will, kann in keiner Weise mit der tatsächlichen einer beliebigen amerikanischen Großstadt konkurrieren. Um es ein für allemal klarzustellen: es gibt Pornographie im Internet. Allerdings stolpert man nicht arglos über derartige Inhalte, sondern muß schon etwas Aufwand betreiben, um eindeutige Fotos betrachten zu können. Die Internet-Diskussionsforen (Newsgroups) sind nicht ohne Grund in Hierarchien zusammengefaßt. Wer sich stets nur in der comp-Hierarchie aufhält, wird kaum jemals etwas Anzügliches zu Gesicht bekommen.

Die oft geäußerten Vorwürfe, das Internet diene zur Verbreitung von Kinderpornographie, sind in den allermeisten Fällen aus der Luft gegriffen. Dafür sorgt in der Regel schon die Selbstreinigungskraft der Netzgemeinde - bei diesem Thema hört nämlich auch ihr Verständnis von Toleranz auf. Bezeichnenderweise lassen sich die meisten Berichte über Kinderpornographie nicht belegen. Sie tauchen in den Medien meist zu der Zeit auf, wenn die Gurken das Lackmuspapier knallrot färben - Online-Kinderpornographie als das Loch-Ness-Ungeheuer der Neunziger. Selbst der "Spiegel" kramt zu diesem Thema schon seit Jahren ein und dasselbe wenig aussagekräftige Foto hervor. Ein anderer Anlaß für einschlägige Berichte bietet sich anscheinend immer dann, wenn profilierungssüchtige Politiker einen neuerlichen Anschlag auf die Freiheit des Internet planen.

Dennoch läßt sich kaum übersehen, daß das geistige Klima im Netz heute nicht mehr so mild ausfällt wie Anfang der Neunziger. Allerdings verwüsteten auch schon damals Flamewars (Flame bezeichnet in der Regel eine EMail beleidigenden Inhalts), ab und an die Kultur der Diskussionsforen. Doch die meisten Internet-User hielten sich an das informelle Benimmhandbuch des Internet, die Netiquette. Im Notfall verhinderte die Netzgemeinde selbst die gröbsten Ausrutscher (es dämpft die Lust zum Pöbeln, wenn Hunderte von EMails mit freundlichen Ermahnungen das eigene Mailverzeichnis verstopfen). Eigentlich stellte die Netiquette zu jener Zeit nur eine Beschreibung des status quo dar: die akademisch und westlich geprägte Netzgemeinde bildete soziologisch gesehen eine relativ homogene Gruppe, deren einzelne Mitglieder die geforderten Werte und Verhaltensweisen ohnehin durch Herkunft oder Ausbildung verinnerlicht hatten. Ein wesentliche Ursache für die inhaltlichen Probleme des Internet besteht im Augenblick deshalb darin, daß durch die Öffnung zu anderen Online-Diensten und durch eine Vielzahl neuer Provider eine völlig anders zusammengesetzte Klientel ins Netz drängt. Um es platt, aber eindringlich zu formulieren: heutzutage darf jeder Idiot für ein Taschengeld ins Internet, während man vor Jahren wenigstens einen Studienplatz an einer Universität dafür benötigte (dies soll keine Forderung nach einer Info-Elite sein, sondern eine Zustandsbeschreibung) . So treffen nun sexbesessene Halbstarke aus Osaka auf fünfzigjährige Familienväter aus Des Moines, die bisher nur CompuServe-Nettigkeiten gewohnt waren. Daß diese Melange explosiv reagieren kann, bedarf kaum einer Erläuterung.

Eigentlich hätten alle Netzbeteiligten angesichts der aktuellen Entwicklung eine Erziehungsaufgabe, sie müßten den allzu schwarzen Schafen unter den Neuankömmlingen klarmachen, daß Freiheit nicht ohne ein Mindestmaß an Verantwortung zu haben ist. Aber die alte Internet-Gemeinde kann diese Aufgabe nicht allein bewältigen. Doch statt sich zu engagieren, ruft die eher gesetzte Fraktion nach der Polizei. Noch schlimmer verhalten sich die zahllosen neuen Internet-Provider: sie pflegen nur das Interesse, möglichst viele neue Teilnehmer zu keilen. Kaum einer verliert ein Wort über die Existenz der Netiquette, von Einführungskursen in den Spirit des Netzes ganz zu schweigen. So ist sich etwa 1 & 1, die Werbeagentur für Telekom Online, nicht zu schade, das Internet als unbeaufsichtigten Abenteuerspielplatz darzustellen, auf dem man sich nach Herzenslust austoben kann.

Statt ihre Verantwortung wahrzunehmen, schlagen sich die Provider zur Sicherung ihres Profits lieber auf die andere Seite, welche im Augenblick massiven Druck auf das Internet ausübt, nämlich die der kommerziellen Diensteanbieter. Von dieser Seite ist oft genug die Bezeichnung "Wildwest" für das Internet zu hören, ein recht aufschlüssiger Vergleich. Jeder John-Wayne-Fan weiß schließlich, wohin die Freiheit des Westens schwindet, wenn Kapitalinteressen auf freies Land treffen. Es steht zu befürchten, daß unter solchen Prämissen bald die Usurpatoren digitalen Großgrunds mit Billigung gekaufter Senatoren riesige Info-Weiden mit virtuellem Stacheldraht einzäunen. Dort weiden sie ihre genügsame Klientel auf immer demselben farblosen Gras und führen sie des abends zum Melken (oder verkaufen sie gleich an einen Schlachthof alias Adressenhändler in Chicago).

Solche Vergleiche mögen vielen als lustig bis unpassend erscheinen, allein sie entspringen einem bitterernsten Hintergrund: Vor kurzem erschien im Bereich Managementliteratur ein Buch von Marta Siegel und Laurence Canter, das sich mit Profitmöglichkeiten im Internet befaßt. Das Autorengespann ist in Internet-Kreisen kein unbekanntes: die beiden Anwälte hatten es vor zwei Jahren als erste gewagt, Dutzende von Newsgroups mit kommerziellen Anzeigen-Postings zu fluten, in denen sie ihre rechtsberatenden Dienste anpriesen. Daraufhin waren sie von der Internet-Gemeinde mit massivem Mailbombing gestraft worden - zu Recht, denn die Netiquette verbietet aus gutem Grund kommerzielle Anzeigen in nicht speziell dafür vorgesehenen Newsgroups. Viele Internet-Teilnehmer müssen nämlich für die empfangenen News aus eigener Tasche bezahlen, die allgemeine Verbreitung einer Anzeige via Newsgroups ließe sich also mit einer unerwünschten Postwurfsendung vergleichen, für die man selbst unwissentlich das Porto bezahlt hat - ein Vorgehen, das allgemein als sittenwidrig gilt.

Anscheinend saß der Schock über die Reaktion des Netzes so tief, daß Siegel und Canter ihr Trauma unbedingt gedruckt verarbeiten mußten. Leider zeigen sie weder Reue noch Einsicht - im Gegenteil: ihr Machwerk, nicht nur in bezug auf den technischen Gehalt, verrät offen, wohin es mit dem Internet gehen wird, wenn wir es in seiner Gesamtheit Anwälten und Glücksrittern ausliefern. Die Autoren nehmen den Wildwest-Vergleich dankbar auf, sie sprechen davon, daß die Netzgemeinschaft aus selbstsüchtigen Motiven die Niederlassung neuer "Siedler" um jeden Preis verhindern will. Dabei geht ihnen jegliches Verständnis für die Internet-Kultur ab, für sie stellt die alte Garde der Netzaktiven nichts weiter als einen verwahrlosten, schmutzigen und drogensüchtigen Haufen Ureinwohner dar, der (igitt!) den falschen Idealen der Sechziger nachhängt. Sie fordern alle rechtsdenkenden (und geldgierigen) Geschäftsleute auf, bedenkenlos das Internet zu stürmen und sich ihren Claim unter den Nagel zu reißen. Diese Botschaft funkelt klar über die staubbedeckte Mainstreet: das Gesetz muß die Macht in Internet City übernehmen, schmeißt die Rothäute raus!

Das Internet steht aber nicht zur Landnahme frei, denn es gehört bereits jemandem. Es gehört allen, die zu seinem Leben beigetragen haben und noch beitragen: den Wissenschaftlern und Instituten, den Autoren der RFCs (Request For Comment - grundlegendes technisches Papier zu Internet-Diensten) und den Web-Entwicklern bei CERN und NCSA. Im Internet steckt die Energie all der Computerbegeisterten, die in ihrer Freizeit neue Lösungen für EDV-Probleme ausgetüftelt haben und die sich nicht zu schade waren, auch die dümmsten Fragen in den Newsgroups geduldig zu beantworten. Es gehört denen, die unentgeltlich Tausende von Zeilen Sourcecode geschrieben und der Netzgemeinschaft zur Verfügung gestellt haben und die damit die Herrschaft der Mainframe-Gurus und Spezialisten brachen. Es verdankt seine Vitalität aber auch jenen, die an all den Newsgroup-Diskussionen über Gott und die Welt aktiv partizipiert haben. Kurz gesagt, das Netz gehört seinen Teilnehmern.

Auf keinen Fall gehört es irgendwelchen Firmen, im Gegenteil: Es gibt keine einzige Struktur und keinen Dienst im Internet, auf dessen Entwicklung eine Firma Anspruch erheben könnte. Vielmehr müßten einige Softwarehäuser, ich denke da besonders an Microsoft, Milliardensummen an das Internet zahlen. Ohne den unbezahlten Hotline-Dienst ungezählter Experten in diversen Newsgroups wären die Produkte dieser Firma in so weitverbreiteter Form gar nicht lauffähig.

Was die meisten kommerziellen Neueinsteiger und Online-Anbieter nicht verstehen wollen, ist die Tatsache, daß das Netz nicht aus 30 Millionen Kunden besteht, die nur darauf warten, für Produkte oder Dienstleistungen zu zahlen. Das Netz besteht vielmehr aus derselben Zahl von Teilnehmern, die an den freien Austausch von Brainware gewöhnt sind und die an Begriffe wie "geistiges Eigentum" keinen Gedanken verschwenden. Diese Tatsache wird es den Firmen im Internet auch erschweren, die klassische Form des Copyright auf ihre Angebote durchzusetzen. Rein legal betrachtet, unterliegen alle Veröffentlichungen im Netz schon jetzt einem Copyright. Doch in der Regel publizieren die Internet-Teilnehmer nicht, um Geld zu verdienen, sondern aus freien Stücken. Die meisten spüren, daß ihr Wissen und ihre Kenntnisse auf den Anstrengungen anderer vor ihnen beruhen. Weil sie sich über den Unterschied zwischen legal und legitim im klaren sind, kämen sie nie auf den Gedanken, ihre Mitmenschen mit Copyright-Prozessen zu überziehen - - im Gegenteil, sie freuen sich, wenn viele andere ihre Ideen übernehmen und kopieren, weil das deren Wert beweist.

Ohnehin bleibt fraglich, ob sich der klassische Copyright-Begriff auf die Welt des Internet übertragen läßt. Es herrscht allgemeine Übereinkunft darüber, daß sich Ideen nicht durch Copyright schützen lassen. Wäre es anders, müßten praktisch alle kommerziellen Softwareprodukte eingestampft werden, weil sie schließlich zu einem Großteil auf Algorithmen beruhen, die unter anderem auch im Netz veröffentlicht wurden. Aber auch die konkrete Ausgestaltung einer Idee (klassisch etwa ein Buch oder ein patentierbares Verfahren) wird man in weltweiten Netzen kaum legitim unter das Urheberrecht fallenlassen können.

Da alle Quellen digital vorliegen, leicht zu kopieren und zu manipulieren sind und sich zudem mit Hochgeschwindigkeit von einem Platz zum anderen bewegen, kann es unter Umständen sehr schwierig bis unmöglich sein, den wahren Urheber eines bestimmten Inhalts auszumachen. Ein schöpferischer Akt kann die Manipulation von fünf, aber auch fünfzigtausend Bytes bedeuten, ohne daß der Unterschied nach außen sichtbar wird. Im Bereich zeitgenössischer U-Musik zeigen sich schon die ersten Auswirkungen dieser Problematik: Es fällt schwer, einzusehen, warum die Produzenten eines Stücks Urheberrecht genießen, das zu 98 Prozent aus gesampelten Audioschnipseln anderer Autoren besteht. Doch diese Feinheiten liefern natürlich eine fette Weide für ungezählte Anwälte, um ebenso ungezählte und jahrelange Prozesse zu führen. Bevor diese Meute zum Zuge kommt, bedarf es dringend vernünftigerer Ansätze, um mit geistigem Eigentum im Netz umzugehen. Die Faszination des Internet macht schließlich aus, daß es sich um eine Vision in der Tradition klassischer Utopien handelt. Hier tummelt sich ein großer Teil derer, die auf der Suche nach anderen, besseren Werten sind. Es sind diejenigen, welche im Kampf um Parkplätze, Fernreisen und die längste Praline der Welt noch nicht völlig abgestumpft sind und die ihr Unbehagen an der Kultur des Postkapitalismus noch immer spüren. Das trägt ihnen nahezu automatisch den Haß der Zyniker der Macht und der Hohepriester des Mammons ein.

In der saturierten Mittelschicht der westlichen Industriegesellschaft findet der gesellschaftliche Diskurs doch fast nur noch innerhalb der Warenwelt statt, in hastigem Vorzeigen dessen, was man gerade erworben hat. Die Kultur des Verkaufens und die Verkaufskultur ersetzen nach und nach die Reste dessen, was vom bürgerlichen Kulturbegriff übrig geblieben ist. Schon taucht das Ohrenschmalz der Reklame-Jingels auf teuren CDs auf (und wird gekauft), mäßige bis verhunzte Einspielungen klassischer Werke erheischen auf dem Cover mit Aufklebern wie "Bekannt aus der C&A-Werbung" die Aufmerksamkeit des anscheinend rast- und ratlosen Käufers. Mittlerweile stellen gestandene Buchhändler sogar Sammlungen von Kurzgeschichtchen in die Regale, welche auf der Episodenwerbung für "Diebels Alt" beruhen.

Mit dem Internet existiert eine andere (wenn auch virtuelle) Welt als die der Werbefeldzüge, der Talkshows, der inszenierten Gefühle und des ritualisierten Politikgeschwafels. Auf dieser Rückseite des Mondes findet tatsächlich ein inhaltlicher Diskurs statt, hierhin flüchten alle, die auf der Suche nach Bedeutung sind. Im Internet herrscht eine Form von Gleichheit zwischen den Beteiligten, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt, schon gar nicht, wenn man den Blick zu anderen Medien wendet. Jede Äußerung hat die gleiche Chance auf Wahrnehmung durch die Netzgemeinschaft, niemand wird bevormundet oder zensiert. Noch gibt es keine Image-Berater im Netz, noch führen weder Moderatoren noch PR-Manager das gepiercte Publikum am Nasenring herum. Weil im Netz alle Quellen frei zugänglich sind und es keine Filter gibt, ist jeder für seine Inhalte selbst verantwortlich. Wessen Äußerungen falsch zitiert werden, der kann sich problemlos und ohne rechtlichen Aufhebens wehren, wer richtig zitiert wird, kann seine Aussagen hinterher schlecht abstreiten. Wer sich in seiner Würde gekränkt fühlt, darf vehement protestieren und damit rechnen, daß ihm die Netzgemeinde zu Hilfe kommt, wenn er seinen Casus überzeugend darlegt. Das alles funktioniert schon seit Jahren - ohne die Anteilnahme von Anwälten und Justizbehörden.

Die Kommunikation im Internet beruht auf einem lebendigen, dynamischen Prozeß. Deshalb wäre es nicht nur ein Akt des Kulturimperialismus, wenn die amerikanische Regierung das Internet in das Korsett viktorianischer Moralvorstellungen einer nationalen Minderheit zwänge. Gleichzeitig schüfe ein derartiges Vorgehen einen Präzedenzfall, der es jeder beliebigen gesellschaftlichen Gruppe auf der Welt ermöglichte, ihre Vorstellungen von political correctness als Zensurmaßnahme einzuklagen - das Netz wäre binnen Monaten inhaltlich tot.

Aber alle Probleme, die sich aus dem Einbruch des Kommerzes und der Änderung der Benutzerstruktur für das Internet ergeben, lassen sich vielleicht mit weniger Aufwand lösen, als die meisten denken. Freiheit, Kontrolle und Kommerz müssen in Datennetzen nicht zwingend Widersprüche darstellen. Zur Verdeutlichung: CompuServe und das Internet existieren schon seit langer Zeit in friedlicher Koexistenz; ich muß meinen Personalausweis wohl vorzeigen, wenn ich ein Bankkonto eröffnen will, nicht aber, wenn ich eine Telefonzelle betrete.

Da die Netz-Weide sich im Prinzip durch neue Server und leistungsfähigere Kommunikationsverbindungen beliebig vergrößern läßt, entfällt für alle neu Hinzugekommenen der Zwang, in den alten Revieren zu wildern. So besteht keine Not, das gesamte Internet einzuzäunen und zum Äquivalent eines amerikanischen Villenvororts zu kastrieren. Vielmehr sollten wir es den kommerziellen Anbietern selbst überlassen, für ordentliche und gesetzestreue Verhältnisse auf ihren eigenen Servern zu sorgen, wenn sie es für nötig halten. Gerade im Zusammenhang mit dem Web laufen vermehrte Anstrengungen, Authentifizierung und gesicherte IP-Übertragung zu ermöglichen. Die Technik ist vorhanden, es fehlen mutige Pioniere, die Kapital riskieren wollen.

Statt dessen ertönt besonders in den Vereinigten Staaten der völlig unamerikanische Ruf nach Staatskontrolle. Doch die Geschichte des Wilden Westens zeigt, daß es wenig Sinn macht, auf den Bundes-Marshall zu warten. Wenn die kommerziellen Anbieter selbst die Zugangskontrolle und die Überwachung der Inhalte übernähmen, ließen sich diverse Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der Staat wäre nicht gezwungen, die Bürgerrechte in Online-Diensten prinzipiell einzuschränken und könnte all jene Steuergelder einsparen, die der Aufbau einer Stasi-ähnlichen Netzpolizei verschlänge. Das Problem des Jugendschutzes erledigte sich nach kurzer Zeit womöglich von selbst, denn die Anbieter pikanter Inhalte würden zu kommerziellen Diensten abwandern, weil sie dort sicherer und in Ruhe abkassieren könnten. Eine Handvoll freizügiger Diskussionsforen der Alt-Hierarchie müßte man vielleicht durch Zugangskontrollen vor naseweisen Pen(n)älern schützen. Lediglich das Problem der "bösen Onkel" bei direktem EMail-Kontakt wäre dann immer noch nicht aus der Welt geschafft, es besteht allerdings in gleicher Form in jedem öffentlichen Stadtpark und an jedem Telefonapparat.

Kunden der kommerziellen Anbieter wüßten über "Allgemeine Geschäftsbedingungen" stets, was sie inhaltlich erwartet - wem der eine Dienst zu freizügig erschiene, der wechselte eben zu einem fundamentalistischen, ebenso wie er auch seine Zeitung wählt. Schließlich könnten sich solche Online-Dienste unentgeltlich aus den Newsgroups, Mailing-Listen und FTP-Vorräten des Internet bedienen - natürlich nur nach sorgfältiger Zensur. Von den Internet-Diensten selbst aber mögen sie gefälligst die Finger lassen. Vielleicht werden sich unter diesen Voraussetzungen eine ganze Zahl kommerzieller Anbieter schmollend vom Internet abwenden. Es besteht aber kaum ein Zweifel, daß das Internet kreativ und interessant genug bleibt, um ohne den Input von Anbietern wie CompuServe oder MSN zu überleben.

Am einfachsten haben es schon jetzt jene Firmen, die nicht Geld im Internet, sondern mit und durch das Internet machen wollen. Fast alle größeren Unternehmen in den USA verfügen mittlerweile über eigene Web-Server oder haben Web-Space gemietet, wo sie ungehindert "Flagge zeigen", Direktmarketing betreiben oder auch Support für ihre Produkte leisten. Kein Internet-Teilnehmer wird solche Netzpräsenz verdammen, denn die Kontaktaufnahme erfolgt freiwillig von seiten der Kunden und wird ihnen nicht vom Anbieter aufgezwungen. Auch das weitverbreitete Sponsoring von Web-Servern, die elektronische Zeitungen oder Info-Seiten herausgeben, trifft allgemein auf wohlwollende Duldung. Die meisten Netzsurfer verstehen, daß eine Redaktion, Hardware und IP-Kosten teuer zu Buche schlagen und haben nichts gegen ein paar Werbelogos und Firmendarstellungen einzuwenden, solange diese gegenüber dem eigentlichen Inhalt im Hintergrund bleiben.

Noch ist das Internet zum Glück kein Platz, an dem sich, um unser sauberes Anwaltspärchen zu zitieren, "Menschen wie Sie und wir sich wohlfühlen". Jeder, der das Internet betritt, läßt sich auf eine Fahrt ins Abenteuer ein. Dabei hat er nicht die Rolle eines Kabinenpassagiers auf einem mit ruhebedürftigen Senioren bevölkerten Luxusliner inne, sondern die des Käpitäns einer kleinen Jolle in rauher See. Viele werden auf ihren Reisen Menschen und Gedanken begegnen, um die sie im wirklichen Leben vielleicht einen großen Bogen machen, aber auch solchen, die sie auf Jahre faszinieren. Und, wie uns jede "Amour fou"-Komödie Hollywoods zeigt: im Unbekannten und Gefährlichen liegt die Lust. Fernsehen können wir schließlich schon zu Hause.

Doch es steht zu befürchten, daß das Internet dem Druck von außen kaum widerstehen kann. Dazu fehlt ihm eine schlagkräftige Lobby und der Wille, bei den Machtspielchen des Establishments mitzuspielen. Der wilde Internet-Westen steht kurz davor, nur noch als Legende weiter zu existieren. Wenn dann der letzte Cyberpunk als Cyber-Junkie bei America Online an der Nadel hängt und sich freiwillig einen Schuß glatten, industriell erzeugten Nachrichtenbreis setzt, werden wir mittlerweile zivilisierten und angepaßten Netsurfer wehmütigen Sinnes durch das virtuelle Webmuseum wandeln (Adresse: http://www.microsoft.com/good-ol'days/disgusting/index.html, Eintritt: 2 M$-Dollar pro Minute Verweildauer). Dort dürfen wir dann die alten Flamewars, die MUDs, die schneidigen Diskussionen und vielleicht sogar ein paar Postings aus den längst verbotenen Newsgroups alt.binary.pictures.erotica oder alt. sex.bondage bewundern und uns gerade noch daran erinnern, daß all dies einmal Wahrheit war. Ich frage mich nur, worin dann das Äquivalent zu Wildwest-Filmen bestehen wird: wahrscheinlich in von der "Focus"-Redaktion moderierten Diskussionen auf Europe Online. (ole)