Netscape: Ein Nachruf

Am 1. Februar wird AOL den Support für Netscape-Browser einstellen. Damit wird eine Marke, die bei ihrem kometenhaften Aufstieg Mitte der 90er-Jahre wie keine andere für das Web stand und danach von Jahr zu Jahr mehr an Bedeutung verlor, endgültig beerdigt.

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Von
  • Herbert Braun
Inhaltsverzeichnis

Das nahe Ende gab AOL kurz vor Silvester im Netscape-Blog bekannt [1]. Den Netscape-Anwendern empfiehlt das Unternehmen, auf Firefox umzusteigen - ein Schritt, den die große Mehrzahl von ihnen bereits vor Jahren getan haben dürfte. Nostalgiker können mit einer Handvoll Erweiterungen das Netscape-Design und den Zugriff auf Funktionen von Netscape.com und Propeller.com in Firefox nachrüsten. Als letzter Rest der Marke wird das Nachrichtenportal Netscape.com fortbestehen.

Was nun zu Ende geht, begann vor mehr als 15 Jahren in der Kleinstadt Urbana-Champaign, 200 Kilometer südlich von Chicago. Dort betrieb die Universität von Illinois das Rechenzentrum NCSA, in dem der 21-jährige Student Marc Andreessen den dort angestellten Programmierer Eric Bina kennenlernte.

Im Spätherbst 1992 begeisterte Andreessen Bina für eine Erfindung aus Europa, das „World Wide Web“, bislang eine Domäne von Wissenschaftlern. Andreessen begriff das Potenzial des Web für Nicht-Nerds und überredete Bina dazu, mit ihm einen Browser zu programmieren. Nur zwei Monate brauchten die beiden, um am 23. Januar 1993 eine erste Vorabversion zu veröffentlichen - NCSA Mosaic war geboren.

Rasch verdrängte Mosaic bisherige Browser wie Viola, Midas oder Nexus von den Rechnern und erschloss das WWW neuen Benutzern. Erstmals stellte ein Browser eingebettete Bilder und unterschiedliche Schriftarten dar - Webseiten konnten jetzt wie Zeitschriften aussehen. Mit Vor- und Zurück-Buttons und der Startseite prägte Mosaic die Browser-Oberfläche bis heute. Neu war die Unterstützung mehrerer Plattformen: Wenige Monate nach dem ersten Unix-Prototyp erschienen Versionen für Macintosh und Windows.

Mosaic machte Andreessen zum Star, doch die Rechte am Code besaß die NCSA. Verstimmt zog Andreessen nach seinem Studienabschluss Ende 1993 ins Silicon Valley. Dort traf er mit Jim Clark zusammen, der Anfang der 80er-Jahre den Computerhersteller SGI aus der Taufe gehoben hatte (die Rechner, auf denen Mosaic programmiert worden war) und der jetzt gelangweilt vom großen Geschäft neue Abenteuer suchte.

Clark trieb neun Millionen Dollar auf und gründete mit Andreessen am 4. April 1994 in Mountain View Mosaic Communications, um das Internet zum Medium der Zukunft zu machen - nicht etwa interaktives Fernsehen, auf das seinerzeit die meisten IT- und Medienfirmen setzten.

In einer Nacht- und Nebelaktion warb das Start-up das komplette Mosaic-Entwicklerteam von der NCSA ab. Die jungen Exstudenten arbeiteten zusammen mit erfahrenen SGI-Programmierern an einem Browser, der ihr früheres Werk vom Markt fegen sollte - daher der Codename „Mozilla“, eine Verballhornung von „Mosaic“ und „Godzilla“. Erst kurz vor der Veröffentlichung des fertigen Produkts am 15. Dezember 1994 benannte sich die Firma in „Netscape“ und ihr Produkt in „Navigator“ um.

Navigator 1.0 übertraf alle Erwartungen: Zwar glich er äußerlich Mosaic, doch stach er den Konkurrenten durch überlegene Geschwindigkeit, Darstellung der Webseite während des Ladens und die Fähigkeit zu E-Commerce dank SSL aus. Mit Cookies und Frames führte Navigator neue Standards ein. Wegbereitend war auch der Vertrieb über das Netz und die frühe Veröffentlichung von Betaversionen.

1995 war Netscapes großes Jahr. Unter dem neuen CEO Jim Barksdale bereitete die Firma den Börsengang im August vor. Am Ende des Erstverkaufstags war Netscape irrwitzige 4,4 Milliarden US-Dollar wert. Als Java erschien, nahm Netscape dies sofort als Chance zu betriebssystemunabhängigen Webanwendungen wahr. Navigator 2, im März 1996 erschienen, brachte eine komplette Skriptsprache mit, die Netscape eingedenk des Java-Hypes „JavaScript“ taufte. Zur Jahreswende 95/96 surften vier von fünf Internetnutzern mit dem Navigator im Web.

Mit dem Geld aus dem Börsengang gingen Andreessen und Barksdale auf Einkaufstour und schnappten sich unter anderem den Groupware-Anbieter Collabra. Obwohl Netscape heute praktisch mit dem Browser gleichgesetzt wird, verdiente die Firma das meiste Geld auf dem B2B-Gebiet. Schon 1994 war der erste Webserver entstanden, später kamen Mail-, Videokonferenz- und Streaming-Media-Server hinzu.

1995 brachte aber auch den Anfang vom Ende: Microsoft wollte das Web erobern. Auch wenn Internet Explorer 1, zusammen mit Windows 95 am 24. August veröffentlicht, niemanden sonderlich beeindruckte, begriff Netscape sehr schnell, dass dieser „Browser-Krieg“ auf Dauer nicht zu gewinnen war - zumal Microsoft den Explorer verschenkte. Ironie des Schicksals: IE basierte auf Code der Firma Spyglass, die diesen selbst von der NCSA gekauft hatte; am Ende sollte der Enkel Mosaics doch noch über dessen Erzeuger triumphieren. Kooperationsverhandlungen zwischen Microsoft und Netscape Anfang 1995 waren gescheitert.

In höllischem Tempo warfen Netscape und Microsoft neue Browser-Versionen auf den Markt. Fast gleichzeitig kamen im Sommer 1996 Navigator 3 und IE 3 heraus (IE 2 war noch 1995 erschienen); der Abstand zwischen den Rivalen verkürzte sich. Zunehmend verflocht Microsoft den Browser mit dem Betriebssystem, sodass er auf Windows-Rechnern bereits vorinstalliert war. Das hatte zwar einen langjährigen Kartellprozess zur Folge (der ohne die Intervention von Präsident Bush junior beinahe in der Zerschlagung des Softwareriesen geendet hätte), aber es grub Netscape Marktanteile ab. Schlimmer noch: Der kostenlose Webserver IIS und die Fortschritte Microsofts bei der Groupware bedrohten die ergiebigsten Einnahmequellen. Netscapes Börsenkurs schmierte ab, Stellen wurden gestrichen.

Das Unternehmen wehrte sich, indem es eine „Gold Edition“ des Navigators mit Groupware-Funktionen, Mail-Client und Webeditor herausbrachte. Ab Version 4, seit Juni 1997 auf dem Markt, gab es den Browser nur noch als Teil einer „Communicator“-Suite, was nicht jeder Benutzer zu schätzen wusste. Der kurz darauf veröffentlichte Internet Explorer 4 überholte Netscape erstmals technisch und in Sachen Verbreitung - obwohl nun auch der Communicator kostenlos zu haben war. Microsoft portierte den IE sogar auf Mac OS und Unix.

Dennoch landete Netscape mit dem Communicator 4 noch einmal einen folgenreichen Coup: Am 31. März 1998 gab das Unternehmen die Quelltexte der Suite unter www.mozilla.org frei. Freiwillige aus aller Welt sollten die Plattform weiterentwickeln, das Netz selbst sollte die angeschlagene Firma retten.

Nur leider war der hektisch geschriebene Netscape-Code so schlecht wartbar, dass die Mozilla-Entwickler beschlossen, von vorne zu beginnen. Das Netscape-Management dachte, dass ein halbes Jahr für die Programmierung einer neuen Rendering-Engine (Codename „NGLayout“, später als „Gecko“ bekannt) genügen würde und stoppte im November 1998 die hausinterne Entwicklung von Communicator 5 - ein katastrophaler Fehler.

Gleichzeitig endete die Geschichte Netscapes als eigenständiges Unternehmen. Am 24. November 1998 investierte AOL Aktien im Wert von stattlichen 4,2 Milliarden US-Dollar in den Kauf Netscapes und schmiedete zusammen mit Sun eine Anti-Microsoft-Koalition.

Microsofts Marktmacht und eigene Managementfehler brachten den Webriesen Netscape Ende der 90er-Jahre zu Fall. Längst sind Netscape-Browser im statistischen Bodensatz angekommen.

Quälend langsam kam die Entwicklung eines neuen Browsers voran. Als Communicator 6 im Herbst 2000 endlich erschien, vergrätzte er viele Netscape-Anwender: Die Codebasis, Mozilla 0.6, war noch nicht ausgereift. Erst ein Jahr später wurde die Suite alltagstauglich - aber das interessierte kaum noch jemanden. Denn während man in Mountain View darauf wartete, dass es die Open-Source-Gemeinde richten würde, fegte Microsoft den Konkurrenten mit IE 5, 5.5 und 6 praktisch vom Markt und erreichte Marktanteile weit jenseits von 90 Prozent.

Mit Communicator 7 brachte Netscape im Sommer 2002 eine solide Browser-Suite zustande, die allerdings mehr und mehr in den Schatten ihres Open-Source-Zwillings Mozilla 1 geriet. Auch das AOL-Management sah Netscape als Relikt aus der Vergangenheit und löste die Firma am 15. Juli 2003 auf - die Logos verschwanden vom Gebäude und die Programmierer von den Gehaltslisten.

Statt der Marke ein halbwegs würdiges Ende zu gönnen, veröffentlichte AOL im Mai 2005 einen „Netscape Browser“, den eine externe Entwicklungsfirma programmiert hatte. Dem Zeitgeist folgend setzte Netscape 8 auf Firefox auf und ließ Mail-Client und Editor weg. Die originellste Idee war, dass die Anwender zwischen der Firefox- und der Internet-Explorer-Engine hin- und herschalten konnten (daher gab es erstmals nur eine Windows-Version des Browsers), doch auch das begeisterte nur wenige. AOL machte sich nicht einmal die Mühe, die Programmoberfläche in andere Sprachen als Englisch zu übersetzen.

Mit Netscape Navigator 9 kehrte AOL 2007 wieder zu den Wurzeln zurück und brachte den Browser für Windows, Mac und Linux als Firefox-basierende Eigenentwicklung heraus. Da aber kaum jemand einen weiteren Firefox-Klon brauchte, dürfte Netscape Navigator 9.0.0.5 den Schlusspunkt unter eine turbulente Geschichte setzen - falls AOL den Webzombie nicht noch einmal aus dem Grab zerrt. Mit Firefox und Co. dagegen spuckt der Mozilla-Drache so viel Feuer wie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr.

[1] Einstellung Netscapes: http://blog.netscape.com/2007/12/28/end-of-support-for-netscape-web-browsers

[2] Joshua Quittner, Michelle Slatalla: Speeding the Net. The Inside Story of Netscape and How It Challenged Microsoft. New York (Atlantic Monthly Press) 1998; besprochen in c't 15/98, S. 210 (heb)