Stopp-Signal aus Karlsruhe

Karlsruhe locuta, causa finita est: Die vom Innenministerium erlassene Bundeswahlgeräte-Verordnung, die die Zulassung und den Einsatz von Wahlcomputern regelt, ist verfassungswidrig. Die in Deutschland bisher zur elektronischen Stimmerfassung eingesetzten Nedap-Geräte sind es auch.

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Von
  • Richard Sietmann

Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebiete, „dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen“, urteilte das Bundesverfassungsgericht kurz und bündig. „Deshalb müssen beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte „die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können.“ Damit haben die Verfassungshüter den fünf bisher im Artikel 38 GG genannten Wahlgrundsätzen der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl erstmals das Öffentlichkeitsprinzip explizit als sechsten Wahlgrundsatz an die Seite gestellt und aus den Demokratie-, Republik- und Rechtsstaat-Garantien des Grundgesetzes abgeleitet (2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07).

„Sehr froh“ über den erfolgreichen Ausgang des Verfahrens war nicht nur Ulrich Wiesner, der Frankfurter Spezialist für Bankensoftware, der mit seiner Beschwerde gegen die Verwendung von knapp 2000 Nedap-Wahlgeräten bei der Bundestagswahl 2005 den Stein ins Rollen gebracht hatte. „Richtig positiv“ bewertete auch Rop Gingrijp, der Kopf hinter der niederländischen Initiative „Wir vertrauen Wahlcomputern nicht“ und Initiator des spektakulären Nedap-Hacks vom Oktober 2006 im holländischen Fernsehen, den Karlsruher Spruch. „Da sind sehr viele grundlegende Sachen endlich einmal ausgesprochen worden, die international weite Beachtung finden werden.“

In der Entscheidung haben die Karlsruher Richter das E-Voting zwar nicht gänzlich für unzulässig erklärt, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen aber so eng gezogen, dass nicht ersichtlich ist, wie die heute bekannten Systeme sie erfüllen könnten. Die von Herstellern und Wahlamtsleitern immer wieder ins Feld geführten praktischen Vorteile – wie der Ausschluss unbewusst falscher Stimmzettelkennzeichnungen, unbeabsichtigter Zählfehler und unzutreffender Deutungen des Wählerwillens bei der Stimmauszählung – rechtfertigen jedenfalls keinen Verzicht auf die Nachvollziehbarkeit des Wahlakts. Auch das Medieninteresse an schnellen Ergebnissen muss hinten anstehen. „Von Verfassung wegen ist nicht gefordert, dass das Wahlergebnis kurz nach Schließung der Wahllokale vorliegen muss“, stellt das Urteil klar.


„Ein Wahlverfahren, in dem der Wähler nicht zuverlässig nachvollziehen kann, ob seine Stimme unverfälscht erfasst und in die Ermittlung des Wahlergebnisses einbezogen wird und wie die insgesamt abgegebenen Stimmen zugeordnet und gezählt werden, schließt zentrale Verfahrensbestandteile der Wahl von der öffentlichen Kontrolle aus und genügt daher nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.“

(Bundesverfassungsgericht, 3. März 2009)


Die hohen Hürden begründet Karlsruhe mit der „Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit elektronischer Wahlgeräte“. Fehler in der Software seien von außen und für Personen ohne informationstechnische Spezialkenntnisse nur schwer erkennbar und sie würden „nicht nur einen einzelnen Wahlcomputer, sondern alle eingesetzten Geräte betreffen“. Anders als bei der herkömmlichen Wahl ließen sich mit relativ geringen Eingriffen große Wirkungen erzielen: „Schon Manipulationen an einzelnen Wahlgeräten können nicht nur einzelne Wählerstimmen, sondern alle Stimmen beeinflussen, die mit Hilfe des Gerätes abgegeben werden.“ Die Reichweite und „große Breitenwirkung“ möglicher Fehler an den Wahlgeräten oder gezielter Wahlfälschungen gebieten deshalb besondere Vorkehrungen zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl.

Ohrfeige für das BMI

Faktisch ist das Karlsruher Urteil eine Ohrfeige für das Bundesinnenministerium (BMI) – für die BMI-Abteilung V gerät die Begründung über weite Strecken zu einer Nachhilfe in Sachen Staatsrecht. So ist die vom Innenministerium erlassene Bundeswahlgeräte-Verordnung verfassungswidrig, weil sie erstens keine Regelungen enthält, die sicherstellen, dass nur Wahlgeräte zugelassen und verwendet werden, die eine wirksame Kontrolle der Wahlhandlung und eine zuverlässige Nachprüfbarkeit des Wahlergebnisses erlauben. Zweitens stellt sie nicht sicher, dass nur solche Wahlgeräte eingesetzt werden, die bei der Abgabe der Stimme eine verlässliche Kontrolle ermöglichen, ob das Votum unverfälscht erfasst wird. Und drittens stellt sie keine konkreten Anforderungen an das Verfahren zur nachträglichen Kontrolle der Ergebnisermittlung.

Selbst in dem Verfahren vor dem Verfassungsgericht habe das BMI als Verordnungsgeber „deutlich“ zu erkennen gegeben, dass es die „von Verfassung wegen notwendigen Kontrollmöglichkeiten weder für rechtlich geboten noch für zweckmäßig hält“. Als mildernden Umstand hält Karlsruhe dem Ministerium lediglich zugute, dass „der festgestellte Verfassungsverstoß nicht vorsätzlich, sondern bei noch ungeklärter Rechtslage erfolgte“. Doch Schritt für Schritt demontiert das Verfassungsgericht das Vorgehen des BMI bei der seit 1998 still und leise begonnenen Einführung rechnergesteuerter Wahlgeräte und verbindet dies mit einer deutlichen Absage an die Expertokratie.

So reiche es nicht aus, die Wähler darauf zu verweisen, ohne die Möglichkeit eigener Einsicht auf die Funktionsfähigkeit und die technische Integrität des Systems zu vertrauen. Weder die Prüfung von Mustergeräten im Rahmen des Verfahrens der Bauartzulassung, noch eine amtliche Überprüfung aller konkret eingesetzten Geräte vor dem Wahlgang auf Übereinstimmung mit bestimmten Sicherheitsanforderungen und auf ihre technische Unversehrtheit könnten Einschränkungen der bürgerlichen Kontrollierbarkeit des Wahlvorgangs ausgleichen, ebenso wenig „eine umfangreiche Gesamtheit sonstiger technischer und organisatorischer Sicherungsmaßnahmen“ – wie etwa die Papierversiegelung und die angeblich lückenlose Verwahrung der Geräte, auf die sich das BMI in dem Verfahren stur berufen hatte.

Open Source nebensächlich

„Erstmals ist festgelegt, dass die Kontrolle vom Wähler nicht abgetreten werden kann“, freut sich Rop Gongrijp. „Ob über amtliche Prüfungen, die Offenlegung der Prüfberichte oder der Software – jegliche Öffentlichkeit in diesem Bereich kann nicht ersetzen, dass der Wähler ohne technisches Wissen den Vorgang selbst beobachten können muss. Das ist nach meinem Wissen noch nirgendwo in Europa, vielleicht sogar noch nirgendwo in der Welt höchstrichterlich gesagt worden.“ Aber die Verfassungsrichter gehen noch weiter: Auch eine öffentliche Beteiligung am Zulassungsverfahren und die Veröffentlichung von Prüfberichten, Konstruktionsmerkmalen oder des Quellcodes könnten nicht entscheidend dazu beitragen, „das verfassungsrechtlich gebotene Niveau an Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Wahlvorgangs zu sichern“. Denn „technische Prüfungen und amtliche Zulassungsverfahren, die ohnehin nur von interessierten Spezialisten sachverständig gewürdigt werden können, betreffen ein Verfahrensstadium, das weit vor der Stimmabgabe liegt“.

„Der Wähler selbst muss – auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse – nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme […] unverfälscht erfasst wird“, und die „gleiche Nachvollziehbarkeit muss auch für die Wahlorgane und die interessierten Bürger gegeben sein.“ Damit dürften wohl die Planspiele zum Outsourcing von Wahlen an elektronische Wahldienste-Anbieter – wie es in den Niederlanden bereits praktiziert, nach dem Nedap-Hack aber wieder aufgegeben wurde – auch hierzulande beerdigt sein. Noch viel stringenter aber ist die von den Verfassungsrichtern gezogene Schlussfolgerung, „dass die Stimmen nach der Stimmabgabe nicht ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt werden dürfen“.

Das liest sich als deutliche Absage an die rein elektronische Stimmerfassung. Jedenfalls dürfen elektronische Wahlgeräte überhaupt nur eingesetzt werden, wenn die „Möglichkeit einer zuverlässigen Richtigkeitskontrolle“ gesichert ist. Die Verfassungsrichter selbst verweisen darauf, dass „eine von der elektronischen Stimmerfassung unabhängige Kontrolle“ beispielsweise durch Systeme erfolgen könnte, die wie der Digitale Wahlstift den Papierstimmzettel beim Ankreuzen gleichzeitig elektronisch lesen oder die ihn nachträglich einscannen und am Ende des Wahltages auszählen. „Wahlcomputer“, meint der Berliner Rechtsanwalt Till Jaeger, der Wiesners Beschwerde gemeinsam mit dem Hamburger Staatsrechtler Ulrich Karpen in Karlsruhe vertrat, „werden künftig nur noch als zusätzliche Zählhilfe zulässig sein oder für eine Plausibilitätskontrolle bei komplexen Verfahren, wie zum Beispiel beim Kumulieren und Panaschieren“.

Offene Fragen

Was sie unter einer „zuverlässigen Richtigkeitskontrolle“ und „eine von der elektronischen Stimmerfassung und Stimmauswertung unabhängige Nachprüfbarkeit des Wahlergebnisses“ verstehen, lassen die Verfassungsrichter allerdings offen. In der Fachwelt sind hierzu zwei Modelle diskutiert worden. Dass die elektronische Zählung nur zur schnellen Ermittlung des vorläufigen Ergebnisses dient und die anschließende Handauszählung danach zur Feststellung des amtlichen Endergebnisses, ist bei Wahlamtsleitern nicht sonderlich gelitten, weil dies den Organisationsaufwand nicht verringert. In der Vergangenheit haben die Wahlbehörden deshalb stets die Elektronik für das amtliche Ergebnis propagiert und wollten allenfalls noch manuelle Stichproben zur Kontrolle zugestehen.

Doch wie groß müsste die Stichprobe sein, um noch als Kontrolle „durch die Bürger selbst“ durchzugehen? „Ich sehe die vom Gericht geforderte öffentliche Überprüfbarkeit praktisch so strikt, dass man an der Hand- und Vollauszählung kaum vorbeikommt“, meint Martin Fehndrich von wahlrecht.de, der im vergangenen Jahr mit seiner Beschwerde gegen das negative Stimmgewicht in Karlsruhe erfolgreich war. Auch Staatsrechtler Karpen hält eine Beschränkung auf Stichproben-Kontrollen für ausgeschlossen: „Das ist für mich eindeutig.“

Weniger eindeutig sind die Konsequenzen des Urteils für die Zukunft von Online-Wahlen. Das Gericht hätte Internetwahlen keineswegs einen endgültigen verfassungsrechtlichen Riegel vorgeschoben, erklärte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Professor Andreas Voßkuhle, in der mündlichen Verhandlung – sichtlich bemüht, den Karlsruher Areopag nicht etwa als technikfeindlich erscheinen zu lassen. Doch im Urteil selbst finden sich dazu keine Ausführungen. T-Systems, das seit Jahren in einem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt das Internetwahl-System „voteremote“ entwickelt, beeilte sich denn auch, darauf hinzuweisen, dass sich die Karlsruher Entscheidung nur auf die elektronischen Stand-alone-Wahlgeräte beziehe.

Und in Zukunft?

Ganz so einfach liegen die Dinge indes nicht. „Den Grundsatz der Öffentlichkeit und die daraus folgenden Anforderungen für eine demokratische Wahl hat das Gericht kristallklar formuliert“, meint Jaeger. „Es ist kaum vorstellbar, wie die Nachvollziehbarkeit bei Online-Wahlen in irgendeiner Form hergestellt werden kann“. Es genüge sicher nicht, dass jeder nur seine eigene Stimme und nicht auch das gesamte Verfahren zuverlässig nachvollziehen kann. „Damit sind meines Erachtens diese End-to-End-Ansätze mit kryptografischen E-Voting-Verfahren zur Verifizierung der eigenen Stimme tot.“ Ulrich Karpen hält die Einschränkung des Öffentlichkeitsprinzips analog zur Briefwahl zwar grundsätzlich für denkbar, doch dem stünden zusätzliche informationstechnische Risiken für die Wahlgrundsätze gegenüber, etwa die Gefährdung der Allgemeinheit der Wahl durch gezielte Angriffe auf die Netzverfügbarkeit oder des Wahlgeheimnisses durch TK-Überwachung und Lauschangriffe. Dies sei ein gänzlich neuer Abwägungsprozess.

Derartige Abwägungen sind am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheits- und Internetrecht an der Universität Passau offenbar schon abgeschlossen. Noch am Tag der Karlsruher Entscheidung verkündete Lehrstuhlinhaber Dirk Heckmann – zugleich nebenamtlicher Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof – unverdrossen seine Überzeugung, dass schon „bei der nächsten Bundestagswahl in fünf Jahren elektronische Wahlverfahren zum Einsatz kommen, denen die Bürger und damit auch das Bundesverfassungsgericht vertrauen können“. Die Diskussionen dürften also weitergehen. Aber die Karlsruher Entscheidung hat deutlich gemacht, wo jedes Re-Engineering demokratischer Wahlrechtsgrundsätze spätestens scheitern wird.