Heidelberger Halali

Mit einem Aufruf an die Politik wenden sich Autoren und Wissenschaftler gegen die Aushöhlung des Urheberrechts durch Plattformen wie Google Books und YouTube – und gegen den freien Zugang zu Forschungsveröffentlichungen.

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Von
  • Richard Sietmann
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Unter PR-Gesichtspunkten war die Aktion ein Volltreffer. Ein weithin unbekanntes „Institut für Textkritik“ (ITK) in Heidelberg – kein Institut der Universität, sondern ein eingetragener Verein – prangerte unter der Überschrift „Für Publikationsfreiheit und die Wahrung der Urheberrechte“ Anschläge auf das „verfassungsmäßig verbürgte Grundrecht von Urhebern auf freie und selbstbestimmte Publikation“ durch Google, YouTube und die „Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen“ an. Und plötzlich fand sich das sonst eher in Wissenschaftskreisen diskutierte Thema „Open Access“, der freie Zugang zu den Ergebnissen und Fachveröffentlichungen der öffentlich finanzierten Forschung, in der überregionalen Presse wieder.

Der Aufruf des Heidelberger "Instituts für Textkritik" (ITK) sorgte für einigen Aufruhr in der deutschen Wissenschafts-Landschaft.

Binnen einer Woche unterstützten fast tausend Autoren und Wissenschaftler den Heidelberger Appell, darunter der ehemalige Kulturbeauftragte des Bundes und ZEIT-Herausgeber Michael Naumann. Der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, der unter anderem die Hochschulrektorenkonferenz, Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft, Wissenschaftsrat und die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren angehören, werfen die Unterzeichner „weitreichende Eingriffe in die Presse- und Publikationsfreiheit“ sowie eine „Nötigung zur Publikation in einer bestimmten Form“ vor, die „nicht der Verbesserung der wissenschaftlichen Information“ diene.

Initiator des Aufrufs ist der Philologe Roland Reuß, dem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und andere Sponsoren 15 Jahre lang die Edition der Brandenburger Kleist-Ausgabe finanzierten, die dann im Stroemfeld-Verlag Basel/Frankfurt a. M. erschien. Daneben veröffentlichte der außerplanmäßige Professor am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg in den letzten zwei Jahrzehnten rund 60 literaturwissenschaftliche Aufsätze. Doch die interessierte Öffentlichkeit, die sich ein Bild von diesen Arbeiten machen und sie online lesen möchte, wird sich schwer tun – die Abhandlungen sind nicht frei zugänglich. Nach eigenen Angaben verfolgt der ITK e. V. mit Reuß als Vorsitzendem die Zielsetzung, „detaillierte philologische Grundlagenforschung mit avancierten Techniken der Textdarstellung“ und „den durch Computer und Scanner eröffneten Möglichkeiten“ zu verbinden.

Wenige Wochen vor seinem Aufruf hatte Reuß in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Förderung des offenen Zugangs zu Forschungsergebnissen durch die Wissenschaftsorganisationen als „eine kollektive Enteignung“ und als „Versuch einer klammheimlichen technokratischen Machtergreifung“ bezeichnet. Speziell der Deutschen Forschungsgemeinschaft warf er vor, „einen staatsmonopolistischen Verwertungskreislauf in Gang zu bringen“. Sobald Autoren ohne die Unterstützung der Verlage für Satz, Druck und Lektorat ihre Manuskripte in „Times New Roman mit Blocksatz ohne Silbentrennung“ online selbst verlegten, beschwor der Heidelberger Textkritiker apokalyptisch die weiteren Folgen, würde dies in eine „Dauerfolter durch falsche Apostrophe und Anführungszeichen“ führen.

Starke Worte, krauses Denken. Die Open-Access-Initiativen kommen ja aus den Reihen der Forscher selbst. Sie entstanden, als immer mehr Wissenschaftler bei der Suche nach den elektronischen Veröffentlichungen ihrer Fachkollegen auf Barrieren in Gestalt von Mauthäuschen stießen, welche primär am Shareholder-Value orientierte Wissenschaftsverlage auf ihren Webportalen errichtet hatten – derartige Beschränkungen der potenziellen Leserschaft liegen nicht einmal im Interesse der bei ihnen veröffentlichenden Autoren.

Im Online-Archiv der National Library of Medicine werden alle Forschungsarbeiten veröffentlicht, die unter Förderung der National Institutes of Health (NIH) ent­standen sind.

Unterstützt wurden die Initiativen durch wissenschaftliche Bibliotheken, die wegen der ausufernden Subskriptionskosten den umfassenden Zugang zu den E-Journalen nicht mehr finanzieren konnten. Später widmeten sich dann auch die Förderinstitutionen, die sowohl die Forschung als auch die Beschaffungskosten der Bibliotheken finanzieren, den durch den „Toll Access“ verursachten Restriktionen des Wissenschaftsbetriebs. In ihren Förderrichtlinien verlangten sie, die Forscher sollten dafür Sorge tragen, dass ihre Veröffentlichungen innerhalb einer angemessenen Zeit der Öffentlichkeit frei über das Internet zugänglich werden. Dies kann beispielsweise geschehen, indem sie ihre Ansprüche aus dem Urheberrecht nicht exklusiv an die Wissenschaftsjournale abtreten, sondern sich das Recht zur Zweitveröffentlichung auf Instituts-Servern vorbehalten.

Die Spitzenorganisationen der deutschen Wissenschaft reagierten denn auch umgehend auf den Aufruf und wiesen die „inakzeptable Unterstellung“ zurück, sie würden die Freiheit zur Veröffentlichung in grundgesetzwidriger Weise beschneiden wollen; die Wissenschaftler seien in der Wahl ihrer primären Publikationsformen frei. „Wir erwarten jedoch, dass die Autoren der Gesellschaft, die ihre Forschung durch Steuermittel möglich macht, einen einfachen Zugang zu ihren Publikationen eröffnen“, heißt es in der Stellungnahme. „Keinesfalls fordert die Allianz eine Open-Access-Publikation belletristischer Schriften, aus deren Verwertung Autoren ihren Lebensunterhalt beziehen. Dies zu suggerieren, ist irreführend.“

Mit YouTube oder Googles umstrittener Digitalisierung von Büchern hat Open Access in der Tat nichts zu tun. Bücher, Musik oder Videos mit dem System der Kommunikation von Forschungsergebnissen zu vermengen verkennt die nötigen Differenzierungen, zu denen sich allerdings auch die Reformen des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Urheberrechts nicht durchringen konnten. Niemand würde einem Pascal Mercier (bürgerlich: Peter Bieri), Professor für Philosophie, das Urheberrecht an seinem Bestseller „Nachtzug nach Lissabon“ entreißen wollen. Doch der Markt für Belletristik ist ein anderer als der Austausch von Literaturwissenschaftlern zur Authentizität klassischer Texte oder von Medizinstatistikern zur Validität epidemiologischer Untersuchungen, bei dem es nicht auf Verkaufszahlen, sondern auf die Kraft der Argumente ankommt.

Während hierzulande die Diskussion über Open Access, die in Wirklichkeit eine Diskussion über die Öffentlichkeit von Wissenschaft ist, offenbar neu einsetzt, schwingt in den USA das Pendel in die andere Richtung. Mitte März bestätigte Präsident Barack Obama die Open-Access-Politik der National Institutes of Health (NIH), der weltweit größten Finanzierungseinrichtung für die medizinische Forschung. Vom NIH geförderte Wissenschaftler müssen elektronische Kopien ihrer begutachteten Forschungsveröffentlichungen bei PubMed Central, dem Online-Archiv der National Library of Medicine, hinterlegen. Dort werden die Publikationen spätestens 12 Monate nach dem Erscheinen in einer Fachzeitschrift der Allgemeinheit online zugänglich sein. Die Spielregel ist klar: Wer am System Wissenschaft teilnimmt und mit öffentlichen Mitteln forscht, begibt sich in die Public Domain. (ha)