Gegen die Ideologie des innerstaatlichen Burgfriedens

Erste Proteste gegen Einschränkung von Demonstrationsfreiheit und anderen Grundrechten in Frankreich

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Über viele Monate haben Umweltaktivisten aus aller Welt für den Ende November beginnenden Klimagipfel in Paris politische Interventionen geplant. Dabei betonten viele Organisatoren, ihnen gehe es nicht darum, den Klimagipfel kritisch zu begleiten. Vielmehr wollten sie mit Aktionen des zivilen Ungehorsams auf die Verantwortung maßgeblicher Politiker für die Folgen des Klimawandels hinweisen.

Damit hoffte eine Bewegung für Klimagerechtigkeit, wieder in die Offensive zu kommen. Nach dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen und den staatlichen Repressionen gegen die Protestbewegung zeigte sie sich wenig mobilisierungsfähig. Doch in Paris sind nun alle Proteste rund um den Klimagipfel verboten. Lediglich Konferenzen und Aktivitäten in geschlossenen Räumen sollen erlaubt sein.

Der Notstand nach den islamfaschistischen Anschlägen von Paris macht es möglich, dass die versammelten Politiker und Fachleute aus aller Welt, rund um ihre Konferenz eine protestfreie Zone geboten wird, von der selbst ein Putin nur träumen kann.

"Wenn hier einer den Notstand ausrufen kann, dann sind wir das“

Mittlerweile gibt es vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac Frankreich und Deutschland Proteste gegen diese massiven Einschränkungen der Freiheitsrechte. Das Klimaaktionsnetzwerk hat angekündigt, weiterhin zu den Protesten zu mobilisieren. Auch andere Klimabündnisse wollen weiterhin ihre lange vorbereiteten Aktionen durchführen.

In einem Taz-Interview betonte auch der Aktivist der antistaatlichen Bewegung Climate-Games, Selj B. Lamers, dass der Protest unaufhaltsam sei. Er offenbart darin nicht nur - wie andere Umweltaktivisten auch - seine eigene Harmlosigkeit, sondern er entzieht der französischen Regierung in einer der Harmlosigkeit entgegenstehenden, hochfahrenden Geste "die Legitimation, den Notstand auszurufen". Seine Begründung ist jedoch bemerkenswert:

Es obliegt eben nicht nur der französischen Regierung, den Notstand auszurufen. Es obliegt ebenfalls den Menschen, den Notstand auszurufen. Und wenn es einen Grund gibt, einen Notstand auszurufen, dann hat die globale Klimabewegung durch ihre langjährige Arbeit an den Frontlinien globaler Verwerfungen nun wirklich allen Grund dazu, dies selbst zu tun. Wir müssen uns von niemandem erklären lassen, was Terror ist. Und wir wollen den multiplen Formen von Terror eine große globale Friedensbewegung entgegensetzen.

Damit zieht der Aktivist eine Verbindung von der Klima- zur Antikriegsbewegung. Schließend ist jede militärische Auseinandersetzung auch ein Krieg gegen die Umwelt, worauf der Wissenschaftler Knut Krusewitz bereits Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hingewiesen hat. Zumindest der radikalere Teil der Klimabewegung verweigert sich hier der Ideologie des innerstaatlichen Burgfriedens, der immer dann von den Eliten propagiert wird, wenn Kriege und Ausnahmezustände verkündet werden.

Damit sollen gesellschaftliche und soziale Konflikte stillgelegt werden. Streiks und Arbeitskämpfe fallen genau so darunter wie Großdemonstrationen und Proteste, wie die geplanten Aktionen anlässlich des Klimagipfels. Während des ersten Weltkriegs haben die meisten sozialdemokratischen Parteien, die in ihrer Programmatik eigentlich den Krieg verhindern wollten, die Burgfriedenspolitik und damit den Krieg unterstützt.

Zur Minderheit, die in allen Ländern diesen Kurs der Kriegsunterstützung Paroli bot, gehörten übrigens die linken russischen Sozialdemokraten, die sich Bolschewiki nannten und im Herbst 1917 mit der Oktoberrevolution eine neue Gesellschaft aufbauen wollten. Dieses Vorhaben war von Anfang an, von Terror und Bombenanschlägen betroffen, deren Ausmaß die Anschläge von Paris bei weiten übertraf. Als Folge des Weißen Terrors wurden die Bolschewiki aus einer Gruppe lange Jahre verfolgter Oppositioneller selbst zu Unterdückern.

Welche heftigen innerparteilichen Debatten noch 1918 diese neue Rolle mit sich brachte, hat der Historiker Alexander Rabinowitch in seinem im Mehring Verlag auf Deutsch erschienenen Buch „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“ sehr anschaulich beschrieben. Selbst der Einsatz von verdeckten Ermittlern in der Oppositionsbewegung stieß bei den Bolschewiki zunächst auf heftigen Widerstand. Sie wollten nicht die Methoden benutzen, mit denen sie jahrelang in ihrer Oppositionszeit verfolgt worden waren. Erst als der weiße Terror zunahm, setzte ein Umschwung ein und die unpopulären Maßnahmen wurden als alternativlos betrachtet.

Dieser kurze Exkurs soll zeigen, wie der Gebrauch autoritärer, repressiver Mittel zur Terrorbekämpfung eben kein technisches Problem ist. Er verändert emanzipatorische Projekte und führt dazu, dass die Gegner ihr Ziel indirekt erreichen. Die Gesellschaft, die sie bekämpfen, wird repressiv. Nun wurden die Ideale der französischen Revolution bereits verraten, als ein Aufstand der Sklaven in Haiti niedergeschlagen wurde, die sich ebenfalls auf die Ideale Egalität, Fraternität, Liberte beriefen.

Gehören Proteste nicht auch zu unserer Art zu leben?

Wenn aber die französische Linke und der Restbestand des liberalen Bürgertums die Werte der französischen Revolution nicht nur für Feiertagsreden am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, hochhält, müsste sie nun das Demonstrationsverbot massenhaft verletzen und anlässlich des Klimagipfels auf die Straße gehen. Sie müssten dann nur einen Diskurs aufgreifen, der wenige Tage nach den Terroranschlägen häufig zu hören war.

Der Anschlag wurde als Angriff auf den Lebensstil, "auf unsere Art zu leben" interpretiert. Daher sollen die Menschen weiter Konzerte besuchen und feiern, weil das ein klares Signal an die Islamfaschisten ist, sich von ihnen nicht zwingen zu lassen, diese Lebensart aufzugeben. Jetzt muss auch die soziale und politische Bewegung betonen, dass auch Proteste, Streiks, ziviler Ungehorsam zu "unserer Art zu leben" gehören.

Wenn wir sie aufgeben, wenn sie sogar staatlich verboten werden, dann ist das genau so ein Sieg der Rechten der unterschiedlichen Couleur. Die Islamfaschisten sind ein Teil davon, die Front National und ihr Umfeld, die bereits vor 15 Jahren die globalisierungskritischen Proteste gegen den EU-Gipfel in Nizza am liebsten verbieten wollten, sind eine andere Spielart dieses Faschismus.

Der Kulturphilosoph Emmanuel Alloa beschäftigt sich kritisch mit der offiziellen Reaktion auf die Anschläge:

Dass Präsident Hollande ausgerechnet zu einer Maßnahme greift, die im 20. Jahrhundert vornehmlich totalitären Regimen diente, nämlich zur Verhängung des Ausnahmezustands, muss Grund zur Besorgnis sein. Wenn die Versammlungsfreiheit in den kommenden Monaten tatsächlich eingeschränkt werden sollte, ob nun rechtlich oder schlicht aus Selbstschutz der Bürger (immer mehr Pariser meiden nun öffentliche Orte) – die Attentäter hätten ein Stück weit schon gewonnen.
Genau hierin wird in Zukunft die Herausforderung liegen, für Frankreich und für andere Gesellschaften, die sich als demokratisch begreifen. Nicht von außen kommt die Bedrohung, es geht nicht um barbarische Horden, die an den Toren Europas lagern. Der eigentliche Kampf wird sich ganz woanders abspielen, im Innern, ob die Angstmacher siegen werden oder ob Europa bereit sein wird, jene Diversität weiter zu verteidigen, die es stark und verwundbar zugleich sein lassen.
Die Anschläge von Paris waren eine Kriegserklärung an die Vielfalt der Lebensformen. Was von dieser Vielfalt und von ihren Spielräumen übrig bleiben wird, daran wird sich der Sinn der europäischen Demokratie in den nächsten Jahren messen lassen müssen.

Zu dieser Diversität der Lebensformen gehören auch Streiks, Widerstand und Proteste auf dem Klimagipfel und anderswo. Gerade in Frankreich sollten sich die Menschen von dieser Art zu leben nicht verabschieden.