Wahlprogramme unter der Lupe (1): Bündnis 90/Die Grünen

Die Grünen haben ihr Wahlprogramm unter den Aufhänger "Solidarische Modernisierung und ökologische Verantwortung" gestellt.

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Die Grünen haben ihr Wahlprogramm (PDF-Datei) unter den Aufhänger "Solidarische Modernisierung und ökologische Verantwortung" gestellt. Als erste Partei ließ der kleine Koalitionspartner Interessierte über ein Wiki an den Leitlinien im Themenbereich "Digitale Gesellschaft" mitstricken. Über 400 Nutzer machten davon Gebrauch, auch wenn letztlich nur kurze Auszüge des kollektiv erstellten Texts in die Programmschrift wanderten.

Forschung und Spitzentechnologieförderung

Nicht weniger als eine "Bildungsrevolution" streben die Bündnisgrünen an, die endlich allen gleiche Chancen einräumen soll (S. 31). Um "Innovation und Kreativität" als Grundpfeiler der Wissensgesellschaft zu stärken, wollen sie bis 2010 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigern (S. 13). Naturgemäß ein Schwerpunkt ist die Förderung von Techniken zur Erschließung "unendlicher Energie aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme und zum Ausbau nachwachsender Rohstoffe". Angefacht werden soll damit ein "Erneuerungsboom". "Was heute der Chip ist, wird morgen die Fotozelle sein: Schlüsseltechnologie eines neuen, solaren Zeitalters", glauben die Grünen (S. 22). Als weitere "innovative Felder der Zukunft" sehen sie die Medizintechnik, die Nanotechnologie, Kommunikations- und Informationstechnologien sowie "unbedenkliche Formen der Biotechnologie". Generell plädiert die klassische Umweltschutzpartei für Forschung mit Verantwortung: Man präsentiert sich als technikfreundlich, aber nicht blind für Risiken wie etwa bei der Atomforschung: "Wir haben die Technikfolgenabschätzung salonfähig gemacht, wir werden sie weiter entwickeln." (S. 32)

Verbraucherschutz

Zweimal waren die Grünen mit der Verankerung des Rechts auf weitergehende Produkt- und Firmeninformationen in einem Verbraucherinformationsgesetz und der Stärkung der Verbrauchervertretung durch ein Verbandsklagerecht im Bundesrat gescheitert. Trotzdem halten sie an diesen Zielen fest. Als Leitlinie stellen sie auf, "dass jeder einen Zugang zu Leistungen der Grundversorgung" haben soll, wozu sie auch die "modernen Kommunikationsmittel" zählen. Hier kommt der Datenschutz ins Spiel: "Einige Bereiche wie die Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, E-Commerce und der Umgang mit Verbraucherdaten können nur funktionieren, wenn sich die Verbraucher als Vertragspartnerinnen und -partner auch sicher fühlen", steht im Programm. Nur so sei dem Wachstum auf den Märkten des 21. Jahrhunderts der Boden zu bereiten.

Es folgt ein Bekenntnis zum Schutz der Privatsphäre. Die Digitalisierung der Gesellschaft dürfe nicht zu Einschränkungen von Grundrechten führen, fordern die Grünen. Die Grundmaxime müsse lauten: "Meine Daten gehören mir." Dies habe beim Surfen und im E-Commerce genauso zu gelten wie bei Kundenbindungssystemen und digitalen Karten aller Art. Mit der Vergabe von Datenschutzgütesiegeln nach unabhängiger Begutachtung wollen die Grünen Datenschutz zu einem echten Wettbewerbsvorteil werden lassen. Auch die anonyme Fortbewegung im Netz und verschlüsselte Kommunikation muss ihrer Ansicht nach weiter möglich sein. Die Grünen fordern zudem eine "deutliche Kennzeichnungspflicht der in der Warenlogistik eingesetzten RFID-Chips und der entsprechenden Lesegeräte, sowie die Pflicht zur Deaktivierung der Chips, sobald die Ware in den Besitz der Endverbraucher übergeht." (S. 29f)

Geistiges Eigentum

Als einzige Partei dringen die Grünen dezidiert auf eine "durchsetzungsstarke digitale Privatkopie im Urheberrecht, die nicht durch Kopierschutzmaßnahmen ausgehebelt werden darf." Geht es nach ihnen, muss es den Nutzern weiterhin möglich sein, auch im digitalen Bereich Musik für private Zwecke zu kopieren oder Filme aus dem Fernsehen aufzunehmen. Der Einfluss des Wiki-Experiments macht sich zudem in der Forderung nach der Anerkennung "moderner Mediennutzungsformen wie Tauschbörsen" als "Teil der heutigen Jugendkultur" bemerkbar. Einer "Kriminalisierung der Schulhöfe" und einem Auskunftsrecht von Rechteinhabern gegenüber Internet-Providern erteilen die Grünen daher eine "klare Absage". Vielmehr sei "eine gerechte Balance zwischen den Interessen der Verbraucher und den Urhebern und Verwertern kultureller Güter" anzustreben (S. 30).

Helfen soll dabei auch die Unterstützung neuer Modelle und Initiativen zu einer möglichst weiten Verbreitung von Wissen und zur Schaffung kreativer Leistungen wie Open Access oder Creative Commons-- auch wenn die Grünen mit der Schreibweise des alternativen Lizenzmodells noch Probleme haben. Staatlich finanziertes Wissen etwa in Gesetzestexten oder wissenschaftlichen Publikationen will man so frei wie möglich zugänglich machen. Die Multikulti-Partei verspricht zudem, sich "weiterhin vehement gegen eine Patentierung von Software einsetzen" zu wollen (S. 44).

Innere Sicherheit

Ein "starker Rechtsstaat", aber "niemals ein übermächtiger Überwachungsstaat", ist das Ideal der Grünen im Kampf gegen Kriminalität und Terror. Ihrer Ansicht nach braucht es in einer Demokratie Lebenswelten, in denen die Bürger "vor staatlichen Eingriffen sicher sein können". Grund- und Menschenrechte dürften nicht leichtfertig zur Disposition gestellt werden (S. 38). Absolute Sicherheit könne es nicht geben und es wäre falsch sie zu versprechen. Punkten wollen die Grünen mit einer "Politik mit Augenmaß, die konsequent an den im Grundgesetz garantierten Grundrechten festhält". Bei Sicherheitsgesetzen wie den nach dem 11. September 2001 erlassenen Antiterrorpaketen drängen sie "auf wirksame rechtsstaatliche Kontrollen", auf deren Befristung und auf die fortlaufende Überprüfung der Folgen. Ziel müsse es sein, "im Zweifelsfall auch wieder abrüsten zu können". Jenseits staatlicher Eingriffsbefugnisse erfordere öffentliche Sicherheit "eine Politik der Integration, des Dialogs, der Solidarität und Toleranz."

Beibehalten wollen die Grünen sowohl die föderale Struktur der Sicherheitsbehörden als auch die "strikte" Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten. Gleichwohl wollen sie aber die Zusammenarbeit der Behörden des Bundes ebenso wie die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in diesem Bereich verbessern. Als Leitlinie dient ihnen das Urteil zum großen Lauschangriff des Bundesverfassungsgerichts: Vertrauensvolle Kommunikation in Privaträumen, am Telefon, mit dem Seelsorger oder Arzt soll in jedem Falle möglich bleiben. Zur Reform der überhand nehmenden Telefonüberwachung setzen die Grünen auf ein "neues Konzept" mit Verfahrenssicherungen, wirksamerer richterlicher Kontrolle und mehr Transparenz. Deutschland müsse runter von Platz 1 bei der Zahl der Telefonüberwachungen.

Generell sehen die Grünen die "Datensammlungs-Sucht" bei Behörden und in der Wirtschaft als "ernste Bedrohung für die Bürgerrechte." Insbesondere die europäischen Pläne, Anbieter von Telemediendiensten zu verpflichten, die Telefon- und Internetdaten ihrer Kunden für den Zugriff von Polizei und Nachrichtendienste auf Vorrat zu speichern, lehnen sie ab. Die in einer EU-Verordnung vorgesehene Einführung biometrischer Pässe erachten sie als "teuer, sicherheitspolitisch wenig wirksam, gegenüber Missbrauch nicht sicher und unter Datenschutzgesichtspunkten problematisch." An der gesetzlich festgeschrieben Absage an eine zentrale Referenzdatei für biometrische Daten wollen die Grünen festhalten (S. 40f).

Medien und Internet

Eine demokratische und offene Informationsgesellschaft mit einer vielfältigen Medienlandschaft, an der alle teilhaben können, haben sich die Grünen auf die Fahnen geschrieben. Zur Verwirklichung dieses Ziels setzen sie neben der Absicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch auf Bürgermedien wie Wikis, Foren, "offene Kanäle und freie Radios". Diese müssten sich so frei wie möglich entfalten können. Zur Ausweitung der Rundfunk-Gebühr auf Internet-Geräte nehmen die Grünen nicht Stellung. Ihre Medienpolitiker drängen hier auf eine gänzlich neue Bemessungsgrundlage durch die Einführung einer "Medienpauschale".

Allgemein wollen die Grünen den Zugang zum Internet für alle ermöglichen. Von der stärkeren Nutzung des Internet erhoffen sie sich einen schnellen, unbürokratischen Dialog mit Politik und Verwaltung, aber auch verstärkten Bürokratieabbau und mehr Effizienz. Zu einer verbesserten Verbreitung von Wissen wollen die Grünen Universitäten, Bibliotheken und Forschungseinrichtungen mit modernen Nutzungs- und Zugangsmöglichkeiten ausrüsten. Zudem versprechen sie eine verstärkte Förderung Freier Software und offener Standards (S. 44f).

Sonstiges

Die Lkw-Maut soll nach dem Willen der Grünen so weiterentwickelt werden, dass mehr Güter auf die Schiene verlagert werden und weniger Lkw die Autobahn umfahren (S. 25). Das heiße Eisen der möglichen Einführung einer allgemeinen City-Maut auch für Pkws, wie sie die Grünen in München schon einmal forderten, umgeht das Programm. Allgemein bauen die Grünen zur Stärkung der Demokratie auf eine aktivere Einmischung der Regierten. Doch wer sich einmischen und seine Bürgerrechte wahrnehmen wolle, brauche Informationen. Die Verwaltung müsse sich von den Bürgern daher stärker in die Karten schauen lassen. Nach der Verabschiedung des Informationsfreiheitsgesetzes wollen die Grünen so die direkte Beteiligung durch die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene ausbauen. Eine Stärkung des Petitionsrechtes soll die Kommunikationskanäle zwischen den einzelnen Bürgern und dem Parlament offen halten (S. 42).

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(anw)