Wettkampf mit einem Riesen

Otto ist der einzig verbliebene große Katalogversender, der es ins digitale Zeitalter geschafft hat. Um im Netz zu bestehen, musste sich der alteingesessene Händler von Grund auf ändern.

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Von
  • Jan Guldner

Otto ist der einzig verbliebene große Katalogversender, der es ins digitale Zeitalter geschafft hat. Um im Netz zu bestehen, musste sich der alteingesessene Händler von Grund auf ändern.

Erinnert sich noch jemand? Es gab eine Zeit, da lag das gesammelte Sortiment von Deutschlands größten Kaufhäusern auf Großmutters Couchtisch. Gedruckt auf Tausenden von Seiten Hochglanzpapier, zusammengebunden zu kiloschweren Katalogungetümen präsentierten Versandhändler wie Otto, Neckermann und Quelle ihre Waren in den Wohnzimmern der Bundesrepublik. Wer etwas kaufen wollte, füllte eine Bestellkarte aus und brachte sie zur Post, die Fortschrittlichen unter den Shoppern riefen die Bestellhotline an. Zeitdruck gab es nicht, denn Angebot und Preise blieben gleich, bis die neue Katalogausgabe in die Briefkästen der Kunden plumpste. Alles, was man zum Einkauf brauchte, waren eine Lesebrille und genug Spucke, um all die Seiten umzublättern.

In dieser etwas trägen alten Welt war das Hamburger Handelshaus Otto die Nummer eins. Doch das ist lange vorbei. Der klassische Versandhandel befindet sich im freien Fall, während die Umsätze im Onlinegeschäft rasant steigen. Allein in den vergangenen zehn Jahren haben sich nach Zahlen des Handelsverbands Deutschland (HDE) die E-Commerce-Umsätze von 13,8 auf 43,6 Milliarden Euro mehr als verdreifacht. Quelle und Neckermann sind dem Trend zum schnellen Kauf im Internet zum Opfer gefallen. Nur Otto hat sich behauptet. 85 Prozent seines Umsatzes macht die Otto-Einzelgesellschaft, die den Katalog und den Otto.de-Onlineshop verantwortet, mittlerweile im Netz.

Wie hat sich der Warenversand von gestern in die neue Zeit gerettet? Die Überlebensgeschichte des Konzerns ist ein Lehrstück darüber, wie sich ein Unternehmen neu erfinden kann. Sie handelt von einem Markt, der wie so viele andere vom Siegeszug des Internets überrumpelt wurde. Von alten Konkurrenten, die plötzlich aufhören zu existieren, und neuen Gegenspielern, die jünger und hungriger sind. Und davon, wie sich ein Katalog-Dinosaurier an den Wandel anpassen kann – auch wenn die Veränderungen schmerzen und ihr Erfolg ungewiss ist. "Für Otto ist diese Transformation ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH).

Daran, dass dieser Wettlauf nicht verloren wird, arbeitet bei Otto Karolin Wisch. In einem unscheinbaren Gebäude an der Bramfelder Chaussee im Nordosten Hamburgs untersucht sie das Verhalten von Online-Shoppern und steuert mit ihren Erkenntnissen die Einkaufstouren von Millionen von Kunden des Onlinegeschäfts Otto.de. "Wir bauen Straßen und Wege durch den Shop, damit jeder auch das findet, was er sucht", sagt Wisch. Und das möglichst ohne großen Aufwand. Denn wenn der Kunde im Netz eines nicht will, dann ist es zu viel denken. Einkaufen soll einfach Spaß machen. "Don't make me think" lautet deshalb die Arbeitsmaxime von Karolin Wisch, die das sogenannte User Experience Labor leitet.

Zusammen mit Marktforschern, Psychologen und Marketingstrategen arbeitet sie daran, dass alle Kunden rasch zum Ziel kommen: Der junge Mann, der nur mal eben ein weißes Oberteil kaufen will, wie die Dame, die sich von neuen Gardinentrends inspirieren lassen oder einfach nur ihre letzte Rechnung abrufen möchte. "Wir müssen sehr schnell erkennen, was der Kunde will, um ihn richtig durch den Shop leiten zu können", erläutert Wisch. Dazu analysieren sie und ihre Kollegen ständig Unmengen von Fragebögen und Feedbacks von echten Shoppern und lassen Probanden Testeinkäufe erledigen. Zusätzlich wird "jede kleine Veränderung von uns getestet", sagt die Laborleiterin – von der Platzierung der Suchfilter bis zur Gestaltung des Menüsymbols. Alle zwei Wochen lädt sie dazu Probanden ein, die sich beim Online-Shoppen über die Schulter schauen lassen. Fällt eine neue Funktion bei den Testern durch, wird sie nicht in den Shop integriert. Denn jede Änderung kann sich im Umsatz niederschlagen. Wenn man Karolin Wisch bei der Arbeit zuschaut, merkt man: Die neue Shopping-Welt ist hochkomplex.

Was für ein Unterschied zur Meinung vieler Experten, die Katalogversender lange für die geborenen E-Commerce-Anbieter hielten. Neckermann und Quelle scheinen sich auf dieser Annahme ausgeruht zu haben. Otto nicht. "Das Unternehmen hat die Schritte ins Internet sehr früh gemacht", sagt Joachim Zentes, Direktor des Instituts für Handel und Internationales Marketing der Universität Saarbrücken. Vor 20 Jahren ging der Webshop www.otto.de online. Auch mit anderen Technologien wie der Bestellung über das 1983 von der Bundespost eingeführte Bildschirmtextsystem BTX oder der Auslieferung der Kataloge auf CD-ROM experimentierte Otto schon vor der Konkurrenz. "Was technische Neuerungen angeht, war das Unternehmen immer ein Pionier", so Zentes. Ein wichtiger Grund dafür, dass die Hamburger immer noch am Markt sind.

Dort kämpft der Otto-Versand, im Jahr 1949 von Werner Otto gegründet und seit Beginn in Familienbesitz, mit vergleichsweise jungen Unternehmen, die keine kaufmännische, sondern eine digitale DNA haben. An erster Stelle Amazon, das unter der Führung von Gründer Jeff Bezos in den zurückliegenden zwanzig Jahren zum größten Handelsunternehmen der Welt aufgestiegen ist. Allein in Deutschland konnte Amazon.de im vergangenen Jahr nach Zahlen des EHI Retail Institute rund 5,8 Milliarden Euro Umsatz erzielen, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Otto.de schaffte es bei einem Wachstum von zehn Prozent auf gerade einmal 1,9 Milliarden – und ist damit hierzulande trotzdem Nummer zwei.

Amazon-Gründer Bezos sieht den Handel mit Waren und Gütern nicht als jahrhundertealte Verkaufskunst. Er pflegt eine fast wissenschaftliche Herangehensweise ans Verkaufen. Programmierer entwickeln die perfekten Algorithmen, um Produkte zu empfehlen. Ingenieure tüfteln an der maximal platzsparenden Verpackung. Der Handel ist für Bezos ein komplexes System, das er nach und nach immer weiter optimiert. Das funktioniert auch, weil er jeglichen Gewinn wieder in neue Innovationen investiert. Ihm selbst und bisweilen auch den Amazon-Anteilseignern ist das Gewinneschreiben noch nicht wichtig – solange das Wachstum unaufhaltsam weitergeht.

Hier liegt auch die Stärke des zweiten großen Otto.de-Konkurrenten: Zalando, die Mustergründung aus der Berliner Start-up-Schmiede Rocket Internet, ist Otto dicht auf den Fersen. Besonders im wichtigen Modesegment nimmt das auf jüngere Kunden fokussierte Unternehmen den Hamburgern Marktanteile ab. Zalando wächst laut EHI extrem schnell, konnte seinen Umsatz im vergangenen Jahr um 70 Prozent auf 702 Millionen Euro steigern. Im Vorjahr lag das Wachstum gar bei 110 Prozent. Zwar hat auch Zalando mit Problemen zu kämpfen: Zuletzt gab es vermehrt Kritik wegen schlechter Arbeitsbedingungen und mangelhaftem Handling von Retouren. Zudem ist das schnelle Wachstum durch hohe Marketingausgaben erkauft, allein im ersten Quartal 2015 hat Zalando fast 76 Millionen Euro in Werbekampagnen investiert. Doch zum ersten Mal konnte das Unternehmen im vergangenen Jahr einen Bilanzgewinn verzeichnen.

Otto muss sich also beeilen, denn auf den Onlinemärkten gibt es die Tendenz: Wer schon groß ist, wird noch größer. Marktkonzentration nennen das Ökonomen. Die zehn größten Onlinehändler Deutschlands hatten im Jahr 2009 einen Umsatzanteil von 30 Prozent, im Jahr 2013 konnten sie diesen auf 37 Prozent steigern. "Es herrscht das Prinzip ,The winner takes it all'", sagt IFH-Geschäftsführer Kai Hudetz. Wer in diesem Markt zurückfällt, verliert überproportional an Umsatz.

In diesem Jahr machte sich der Wachstumsdruck erstmals in der Bilanz bemerkbar. Nur die Otto-Einzelgesellschaft konnte Umsatz und Rendite noch leicht steigern, die Konzernmutter dagegen, die Otto-Gruppe, rutschte 2014 in die roten Zahlen. Zu ihr gehören Handelshäuser wie SportScheck oder die amerikanische Tochter Crate & Barrel. 65 Prozent des gesamten Umsatzes macht die Otto-Gruppe zwar bereits im Internet. Doch die Verwandlung ist ein teurer Prozess. Neben den alten müssen parallel neue Strukturen aufgebaut werden, das erhöht die Kosten. Die Umsätze steigen anfangs aber selten, denn die neuen Online-Shopper sind meistens die angestammten Katalog- oder Ladenkäufer.

Damit das Unternehmen in der Zange der im Internet geborenen Handelshäuser nicht zerquetscht wird, muss es weiterhin große Summen ausgeben, um das alte Geschäftsmodell an die neue Welt anzupassen: Einen dreistelligen Millionenbetrag will Otto allein im Geschäftsjahr 2015/16 in Sortiments-, Technologie- und Markenentwicklung investieren. Das Geld fließt unter anderem in die Gehälter von bis zu 300 IT-Experten, die bis zum Jahresende 2015 eingestellt werden sollen. Auch das User Experience Labor ist seit vier Jahren Teil der IT-Offensive. Karolin Wisch bastelt dort deshalb nicht nur am Design des Otto.de-Shops, sondern an der Zukunft des ganzen Unternehmens. "Otto geht mit Tochterfirmen und Spin-offs gerade neue Wege", sagt Lars Hofacker, Leiter des Forschungsbereichs E-Commerce am EHI. Die spannendsten Projekte entstehen dabei außerhalb der festgefahrenen Konzernstrukturen:

- Mit dem elektronischen Bezahldienst Yapital hat Otto sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, dem amerikanischen PayPal die Stirn zu bieten.

- Mit einer Beteiligung an Blue Yonder ist das Unternehmen zudem bei einem der innovativsten Big-Data- und Predictive-Analytics-Entwickler involviert.

- Neue Ideen und Konzepte sollen aus dem Inkubator Liquid Labs oder der Venture-Capital-Gesellschaft Project A sprudeln.

- Und die Project Collins getaufte Tochter will mit innovativen Shop-Konzepten wie aboutyou.de am Markt bestehen lernen, die sich besonders an junge Frauen zwischen 20 und 40 richten.

Entscheidend für das längerfristige Überleben wird sein, ob sich die Investitionen auszahlen, bevor dem Unternehmen die Puste ausgeht. Kann man bei Otto also von einer Erfolgsgeschichte sprechen? Es kommt auf den Maßstab an. Die Profitabilität ist nicht hoch, bei Amazon aber ebenfalls nicht. Das Umsatzvolumen ist nicht das größte, aber immer noch größer als das der meisten Konkurrenten. Vielleicht lässt sich die Langlebigkeit des Familienkonzerns als Erfolg werten.

In einem Markt, der vom Siegeszug des Internets so erschüttert wurde wie kaum ein anderer, hat das Versandhaus es geschafft, sich neu zu erfinden. "Im Gegensatz zu anderen ehemaligen erfolgreichen Katalogversendern hat Otto den Wechsel in die digitale Welt überlebt", sagt IFH-Geschäftsführer Kai Hudetz. Für den Dinosaurier ist allein das Überleben schon eine beachtliche Leistung. (bsc)