Türkisches Militär zerstört Weltkulturerbe

In einem Aufruf an die internationale Öffentlichkeit bittet Gültan Kisanak, die Vize-Bürgermeisterin von Diyarbakir, um internationale Hilfe und aktive Unterstützung für einen Waffenstillstand

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Die historische Altstadt von Diyarbakir, seit Juni 2015 Weltkulturerbe, läuft Gefahr, zerstört zu werden. Der Stadtteil Sur, der etwa die Hälfte der historischen Altstadt von Diyarbakir umfasst, zählt zu den von der Bevölkerung ausgerufenen "Selbstverwaltungszonen", die es im ganzen Südosten der Türkei gibt. In diesen Gebieten organisiert die Bevölkerung in Räten die Alltagsgeschäfte. Vorbild sind dabei die kurdischen Kantone von Rojava in Nordsyrien.

Ziel der Bevölkerung ist es, mit Hilfe der zweitgrößten im Parlament vertretenen Partei HDP, die in alle Kommunen hineinregierende türkische Zentralregierung in ihre Grenzen zu weisen und eine demokratische, pluralistische Kommunal- und Regionalregierung zu schaffen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat aber entgegengesetzte Pläne: Er will eine Präsidentenherrschaft erzwingen und einen nationalistisch-islamistischen sunnitischen Staat schaffen. Für ihn gibt es nur "Türken". Alle Minderheiten, seien es Aleviten, Armenier, Eziden oder Kurden, sind in seiner Logik Separatisten oder Terroristen.

Mit der Operation "Hendek" (dt. Gräben) will Erdogan die selbstverwalteten kurdischen Zonen zurückerobern, weil sie sich der Staatsdoktrin "Alle sind Türken" widersetzen. Dazu sind neben der Polizei und Erdogans Spezialeinheiten, den Esedullah, über 10.000 Soldaten im Einsatz. 5000 weitere sollen folgen.

Das türkische Militär setzt in Sur schwere Waffen und Panzer gegen die Zivilbevölkerung ein. Dabei ist die Kursunlu Moschee und das Pascha Hamam, beide aus dem 16. Jahrhundert, von den türkischen Einheiten bereits derart zerstört worden, dass ein Wiederaufbau nahezu unmöglich erscheint. Auch das Minarett, an dem der Menschenrechtler Tahir Elci vor kurzem erschossen wurde, ist stark beschädigt.

Gültan Kisanak bittet in ihrem Aufruf, dass internationale Medienagenturen, Reporter und Journalisten in das Krisengebiet kommen, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen. Menschenrechtsorganisationen sollen Delegationen entsenden, um die Menschenrechtsverletzungen festzustellen und darüber zu berichten. Die verhafteten Vize-Bürgermeister und HDP-Mandatsträger sollen von internationalen Delegationen besucht werden, um die Haft- und Prozessbedingungen zu beobachten.

Seit Beginn der Auseinandersetzungen sind bis zum 21.12.2015 laut dem Aufruf 17 Vize-Bürgermeister der HDP verhaftet worden, 25 wurden vom Dienst suspendiert und gegen 6 wurde Haftbefehl erlassen.

Die Bürgermeisterin berichtet in ihrem Aufruf ausführlich über die Dauer der Ausgangssperren in Sur, Cizre, Silvan, Nusaybin, Dargecit, Silopi und Yüksekova und über Hunderte von toten und verletzten Zivilisten, viele davon Frauen und Kinder. Sie fordert, dass die internationalen Parteien sich dafür einsetzen sollen, dass es einen Waffenstillstand gibt. Die europäischen Regierungen sollen endlich ihr Schweigen brechen und darauf drängen, dass die im Juli 2015 von der AKP aufgekündigten Friedensverhandlungen zur Lösung der Kurdenfrage wieder aufgenommen werden.

Derweil geht das Grauen weiter: Die "Kurdischen Nachrichten" veröffentlichten am 24.12.2015 einen offenen Brief, in dem der Sohn der vor 6 Tagen auf offener Straße erschossenen Taybet Inan (57), einer Mutter von 11 Kindern, öffentlich darum bittet, seine tote Mutter von der Straße bergen zu dürfen. Die Beerdigung der Toten ist zur Zeit unmöglich. Wenn es möglich ist, holen die Angehörigen ihre Toten ins Haus und bewahren sie dort auf.

Aber der Widerstand der kurdischen Bevölkerung scheint ungebrochen, trotz der vielen Geflüchteten aus den umkämpften Städten und Regionen: In Kerboran/Nusaybin in der Provinz Mardin wurde am 23.12.2015 vom Minarett ein altes kurdisches Widerstandslied angespielt. Ein Affront für die türkische Armee, dass der Widerstand auch vor den Toren der Moscheen nicht Halt macht.

Unbestätigten Berichten zufolge erklärte Erdogan dieser Tage, dass 15.000 Soldaten bereit stünden, um die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ in Rojava zu bekämpfen.
Dass dies durchaus ernst zu nehmen ist,scheint eine Eilmeldung der Kurdischen Nachrichten am Abend des 24.12.2015 : "Mit Duschka und BKC - Maschinengewehren greifen türkische Soldaten die Stadt Girê Spî (Tel Abjad) in Rojava-Kurdistan (Nord-Syrien) an."

Diese Stadt, zwischen den Kantonen Cizire und Kobane liegend, war ein wichtiger Transportweg für den IS für Waffen und Personal und den Rücktransport von Verwundeten in türkische Krankenhäuser. Auf Facebook wird die Meldung verbreitet, dass türkisches Militär in der Nacht vom 23. zum 24.12.2015 bei dem Dorf Banoki bei Girkê Legê auf Rojava-Gebiet eingedrungen ist, dort sollen sie im Dorf Stellungen aufgebaut, sich dann aber wieder zurückgezogen haben, jedoch nicht ohne die Dorfbewohner zu beschießen.

Langsam, viel zu langsam, wird in Europa begriffen, dass man angesichts der Flüchtlingskrise nicht zum Staatsterror Erdogans gegen die kurdischen Gebiete schweigen kann. Diese Lage birgt auch erhebliches Konfliktpotential für Europa. Schließlich leben hier seit den 80er/90er Jahren Millionen vertriebener Kurden, die nicht einfach nur zusehen wollen wie ihre nun erneut bedrohten Angehörigen vertrieben und umgebracht werden. Es gibt mehrere Petitionen wie z.B. an den UN-Generalsekretär Ban Ki-moon oder an die Bundesregierung.

Die Gefahr, dass der Konflikt weiter eskaliert, ist groß. Die kurdische Jugend, die in den Sperrgebieten maßgeblich den militanten Widerstand anführt, feiert jeden toten Soldaten oder Polizisten. Militärisch ist diese Auseinandersetzung von beiden Seiten nicht zu gewinnen, sollte sich die PKK in der nächsten Eskalationsstufe aktiv einschalten. Die Türkei würde dann zu einem zweiten Syrien werden. Anscheinend fehlt den meisten in Europa noch die Phantasie, sich vorzustellen, was das auch für uns bedeuten würde.