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Was war. Was wird. Die Jahresend- und -anfangedition. Mit Änderungswünschen.

Geschichte kann man zu verstehen versuchen und schwer daneben liegen - auch wenn Jahresend-Statistiken hilfreich sein sollen. So einfach lässt sich Hal Faber aber nicht überrumpeln. Er hätte manches dann doch gerne etwas anders.

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Was war. Was wird. Die Jahresend- und -anfangedition. Mit Änderungswünschen.
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die dieses Mal nicht sonntägliche, dafür das Jahr beendende und eröffnende Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich. Auch wenn es um ein ganzes Jahr geht.

Was war.

*** Plötzlich und unerwartet ist 2015 von uns gegangen. Das ist für die einen traurig, für andere ein Grund zu feiern. "Es ist vorbei!", jubelt die BZ in ihrer Jahresendausgabe und nennt diese Meldung vom Aus für das Jahr 2015 die "beste Meldung des Jahres". Terrormeldungen, Flugzeug-Abstürze, Pegida-Aufmärsche, Griechenland-Krise und die entsetzliche Todesmeldungen vom Mittelmeer lassen es angeraten erscheinen, dieses 2015 ganz schnell abzuhaken. Es kann nur besser werden, ist die Devise, damit man 2016 anfeiern kann, nicht nur im Hochsicherheitstrakt der Berliner Fanmeile. Aber vergessen und Schwamm drüber, das ist keine Einstellung für die Chronisten dieser Tage.

Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.

*** Zeit genug, neben anderen Rückblicken das abgelaufene Jahr zu würdigen, wie immer im Lichte der Statistik des Newstickers von heise online. Da springt mir die erste Zahl vom Counter direkt in diese kleine Jahresschau, denn erstmals haben die News alleine, ohne die übrigen Angebote von Heise, die Milliardengrenze überschritten, mit 1.105.555.065 Page Impressions am frühen Vormittag des 31. Dezembers. Eine schöne Zahl, die uns 2016 noch beschäftigen wird, denn immerhin steht das Jubiläumsjahr an! Vor 20 Jahren startete heise online mit fünf Meldungen am 17. April. Das wird noch gebührend verklickt, gefeiert und gewürdigt.

*** Unter den ersten Meldungen befand sich damals eine, die über Microsoft berichtete, sinnigerweise in Zusammenhang mit Rechtsanwalt von Gravenreuth. Die kurze Nachricht über sein Ableben ist ja bis heute unangefochtener Spitzenreiter über alles. Mit Windows 10 und insgesamt 12 Meldungen unter den Top 50 hat sich Microsoft im abgelaufenen Jahr auf Platz 1 der Themen abgesetzt, mit deutlichem Abstand vor allen anderen Meldungen und das sowohl nach der Zählung der Nachrichten wie nach den Page Impressions der Foren zu Windows 10 (7,5 Millionen). Auch was die Kommentare der unermüdlichen Heise-Foristen anbelangt, brach die absolute Spitzenmeldung über Windows 10 alle Rekorde und sorgte zusammen mit dieser Meldung für Gesprächsstoff ohne Ende.

Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selber zählen kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, das er sich selbst geben wird, ohne ein anderes Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird. Diese Gewißheit, diese intuitive Erkenntnis seiner Situation, das ist es, was wir Hoffnungslosigkeit nennen: es ist keine schöne romantische Verstörtheit, wie man sieht, sondern das nüchterne und klare Bewußtsein von der Lage des Menschen. So wie die Angst sich nicht vom Sinn für die Verantwortlichkeit unterscheidet, ist die Hoffnungslosigkeit eins mit dem Willen; mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus: der Optimismus dessen, der nichts erwartet, der weiß, daß er keinerlei Recht hat und ihm nichts zukommt, der sich freut, auf sich allein zu zählen und allein zum Wohl aller zu handeln.

*** Natürlich erfolgt der Blick auf die Statistik mit einem Hühnerauge, weil der Kolumnist als Mann des Wortes sich einer bitteren Wahrheit verschließt, die jeder Online-Redakteur kennt: Fotostrecken mit vielen, vielen anklickbaren Bildern stellen jede noch so interessante Nachricht in den Schatten. Nach absoluten Zahlen sind dieser Fotobericht von der CES, gefolgt vom bebilderten Bericht zum Hubble-Teleskop und den Tops und Flops der IFA die Spitzenreiter, weil alle Bilder jeweils 1,8 bis 1,6 Millionen PIs produzierten. Rechnet man in dieser Klickzählerei weiter, ist übrigens die NASA oder eben Pluto und nicht Microsoft der Spitzenreiter, weil all die Bilderstrecken von New Horizons zu den Top 20 der Nachrichten gehören.

*** Blenden wir die Klickstrecken und Betriebssystem-Debatten aus, so gibt es einen ganz anderen Spitzenreiter: Die Meldungen und Debatten rund um den Trojaner-Angriff auf die IT des Bundestages sind mit deutlichem Abstand das zentrale politische Thema der Leser von heise online gewesen, gefolgt von den Meldungen zur Vorratsdatenspeicherung, die wahre Wunder bewirken soll und den Berichten aus dem NSA-Untersuchungsausschuss, wo wunderbare Weltraumtheorien verzapft wurden. Abseits politischer Themen hat sich 2015 ein Newcomer unter die Top-Meldungen geschlichen, der nunmehr sich langsam aufklärende Abgasskandal bei VW, das deutsche Dieselgate.

Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.

*** Noch eine Art, die Statistik zu drehen, wird deutlich, wenn allein die Forumsbeiträge als Zähler nimmt. Dann wäre mit dem Ziegenproblem ein aparter Spitzenreiter gefunden, mit 4418 Beiträgen das große Interesse der Foristen an Mathematik dokumentierend. Wo Licht und scharfer Witz die Diskussionen zieren, darf auch der trübe Teil nicht vergessen werden. Erstmals in der Geschichte von heise online musste ein Diskussionsforum geschlossen werden, als in der Geschichte über Transgender-Menschen in der IT menschenverachtendes Gegeifere gepostet wurde. Es reichte, bei aller Freiheit des Wortes, die auch bei Todesfällen nicht zur Meinungssperre führen darf.

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird.

Was wird.

Was 2016 wird, ist nur in groben Umrissen bekannt. Das passt zum neuen Wissenschaftsjahr, das dem Thema Ozean gewidmet ist, genauer der Müllkippe Ozean. Ausgiebig wird Leibniz gefeiert, weil der 300. Todestag des Gelehrten ansteht. Deswegen kommt Obama zum Keksessen nach Hannover, um einmal Ruhe zu haben inmitten des dröhnenden Wahlkampfes, den sich die USA zum Gespött der Welt leistet. Während Obama hier ist, werden die Kandidaten für die Wahl in den "Primaries" ermittelt. Bekanntlich will Trump "mit Hilfe von Bill Gates und einiger Typen, die sich auskennen", Teile des Internet abschließen, während seine Gegnerin Hillary Clinton munkelt, man wolle mit der IT-Industrie ein "Manhattan-like Project" aufziehen, um die verschlüsselte Kommunikation des Daesh zu knacken. So oder so, beides sind wenig rosige Aussichten. Bestenfalls gewinnt ein rückschrittliches Amerika wieder Anschluss an Europa, das 2015 mit großen Anstrengungen den technologischen Fortschritt verpasst hat.

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. [... ] Es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.

2016 wird neben dem Start des Heisetickers der Start des schnellen Raumkreuzers Orion am 17. September zu feiern sein, kurz nachdem das Raumschiff Enterprise in Kanada am 6. September und in den USA am 8. September abflog. Ja, da hatte man noch Visionen, ohne zum Arzt zu gehen. Aus dem Jahre 1966 stammt übrigens die Prognose, dass Menschen im Jahre 2016 ihre Intelligenz mit Drogen verstärken und ihre Hirne direkt mit Computern zusammenschalten werden: 10 Jahre später wurde immerhin Apple gegründet, am 1. April 1976.

Runde Jahrestage auch bei Shakespeare und Cervantes, die weniger die Mathematik und Philosophie bereicherten, denn unsere europäische Kultur. Erst recht gilt dies für Thomas Morus, der am 3. September 1516 seine Beschreibung von Utopia in der "Neuen Welt" an Erasmus von Rotterdam schickte, darin die erste Skizze eines vollkommenen Überwachungsstaates enthaltend. Nur die adäquate Speichertechnik konnte Morus nicht beschreiben:
"Die Utopier glauben demnach, daß die Toten unter den Lebenden weilen als Ohren- und Augenzeugen ihrer Worte und Taten, und infolgedessen gehen sie mit größerer Zuversicht an ihre Geschäfte, gleichsam im Vertrauen auf solchen Schutz; auch lassen sie sich durch den Glauben an die Anwesenheit ihrer Vorfahren von geheimer Schandtat abschrecken."

Die Welt ist alles, was der Fall ist. [...] Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen. [...] Auch wenn die Welt unendlich komplex ist, so dass jede Tatsache aus unendlich vielen Sachverhalten besteht und jeder Sachverhalt aus unendlich vielen Gegenständen zusammengesetzt ist, auch dann müsste es Gegenstände und Sachverhalte geben. [...] Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen. [...] Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. [...] Die Welt ist unabhängig von meinem Willen. [...] Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist. [...] Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Wobei der Start von Dada am 5. Februar 1916 in der Künstlerkneipe Cabaret Voltaire vielleicht das passendste Jubiläum stellt, was Deutschland auf dem Dadaglobus anbelangt. Der Dadaist Hugo Ball beschrieb die deutsche Mentalität und geistige Kriegstreiberei in seiner Kritik der deutschen Intelligenz im Jahre 1919:
"Was man die deutsche Mentalität nennt, hat sich berüchtigt gemacht und ist trauriges Zeugnis der Prinzipien- und Herzlosigkeit, des Mangels an Logik und Präzision, vor allem aber an instinktiver Moral. 1914: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen möglichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten."

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.

Die Abrechnung mit der deutschen Mentalität durch Hugo Ball führt stracks zurück ins Jahr 2015, in dem der größte Skandal einer war, der aus vielen, vielen kleinen Gemeinheiten, aus Brandanschlägen und Attacken bestand, ein trauriges Zeugnis der Herzlosigkeit gegenüber Mitmenschen und auch ein Mangel an Logik unter denen besorgten Bürgern. Das muss sich ändern. Ob Friede, Liebe und Internet da ausreichen, ist schwer die Frage.

"Ich weiß, dass ich Ideen habe." "Ich auch. Es wäre mir lieber, ich hätte keine."

(jk)