Verriss des Monats: Alles oder Nichts

Das Eineinhalb-Jahrzehnte-Jubiläum der Wikipedia hat einiges Rauschen im digitalen Blätterwald verursacht. Im Windschatten versuchen auch analoge Absonderlichkeiten mitzufahren.

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Von
  • Peter Glaser

Das Eineinhalb-Jahrzehnte-Jubiläum der Wikipedia hat einiges Rauschen im digitalen Blätterwald verursacht. Im Windschatten versuchen auch analoge Absonderlichkeiten mitzufahren.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

15 Jahre alt ist die Wikipedia am 15. Januar geworden, und ein weiterer Beleg dafür, dass Erotik die Mutter der modernen Medien ist – von Thomas Edisons knapp eine Minute langem, immens erfolgreichen Film The Kiss von 1896, in dem die erste Kussszene der Filmgeschichte zu sehen ist, über Super-8, Videofilme und Telefonsex bis hin zu den digitalen Darreichungsformen, etwa der Suchmaschine Bomis, die Jimmy Wales 1996 mit zwei Freunden gründete und die nach einigen Transformationen hauptsächlich erotischen Inhalten zugedacht war. Als sich 2003 die aus den drei Bomis-Gründern bestehende Wikimedia-Crew gründete, nutzte Wales rund 100.000 Dollar von Bomis, um das Wikipedia-Projekt unabhängig von Werbung zu machen.

Nach Wachstumsschmerzen, endlosen Edit-Wars und einer Wandlungswucht, die sogar Kaliber wie die Encyclopædia Britannica in die Knie zwang, hat dieser Pionierbereich gemeinnütziger Zusammenarbeit im Internet inzwischen an der einen oder anderen Stelle auch Spielerisches hervorgebracht. Unter dem Stichwort Wikipedia-Games werden 17 verschiedene Spiele aufgelistet, die man mit Hilfe der Wikipedia spielen kann, vom Wikipedia Adventure über Six degrees of Wikipedia und einem Wikipedia-Trinkspiel bis hin zu Wikibots.

Das beliebte Wiki Game etwa spielt mit der Hypertextualität der Enzyklopädie, indem man einen zufällig ausgewählten Ausgangsartikel zugewiesen bekommt und dazu einen Zielartikel, den man nur durch das Anklicken von Links in den erreichbaren Wikipedia-Beiträgen erreichen soll – das ganze innerhalb einer bestimmten Zeit und natürlich so umweglos wie möglich.

Die ungeheuere Fülle an Assoziationsmöglichkeiten kann einen auch retten, wenn man gewissermaßen einen Fehler beim Spielen gemacht hat. Als ich mal ein Kreuzworträtsel entwerfen sollte, hatte ich einen kolossalen Fehler eingebaut, den ich erst entdeckte, als ich – nach drei Tagen – mit dem ganzen Rätsel fertig war. Ich hatte das Wort Algorithmus falsch geschrieben, ausgerechnet. Da stand nun Algoritmus, und eine Korrektur hätte bedeutet, das ganze Rätselgitter neu aufzubauen. Aber auch hier half die Wikipedia: Auf Tschechisch, so fand ich in der entsprechenden fremdsprachigen Wikipedia-Version, heißt Algorithmus tatsächlich Algoritmus. Also brauchte ich nur noch die Fragezeile zu ändern: Computerhandlungsvorschrift (tschech.).

Eine weitere Art des spielerischen Umgangs mit den mehr als 36 Millionen Lexikonartikeln ist die Hilfe bei der Ideenfindung, wenn man einen Namen für seine neue Band sucht und vielleicht auch noch einen Titel für das erste Album – beides kann zufällig zugelost bekommen. Die Methode erinnert an den Gründungsmythos des Dadaismus, wonach der Schriftsteller Hugo Ball mit einem Messer in ein deutsch-französisches Wörterbuch gestochen und das Wort dada – französische Kindersprache für "Steckenpferd" – getroffen haben soll.

Und natürlich gibt es auch Quizspiele in der Wikipedia, vom Bibel-Quiz bis zum Ungarn-Quiz und darüber hinaus reiches Hintergrundwissen in den zugehörigen enzyklopädischen Artikeln. Seit kurzem gibt es sogar eine eigene App, die aus der Wikipedia ein Social Quiz Game macht: WOKwiki – das WOK steht kurz für World of Knowledge – versammelt knapp 270.000 Fragen, die mit den jeweils relevanten Wikipedia-Artikeln verlinkt sind. Eine kostenlose deutsche WikiQuiz-App kann man sich auf Amazon downloaden.

Ach ja, und dann gibt es noch Wikipedia – The Game About Everything.

Ein Brettspiel. Ja, Brettspiel. Auf die Frage "Wie lässt sich das beste und populärste Videospiel der Welt am besten zugrunderichten?" hat schon einmal jemand eine Antwort zu geben versucht und ein Brettspiel namens Tetris Link ersonnen. Jetzt die Wikipedia. Es handelt sich um eine Art Trivial Pursuit für Arme, ein Highlight der Achtzigerjahre, das von der Analogspieleindustrie als Rettung vor dem aufkommenden Videospielmarkt angesehen wurde. Das mitunter gar nicht so triviale Trivial Pursuit tauchte es in abgewandelter Form sogar in Videospielen auf – und zwar als Altersverifikationssystem, das Ereignisse aus der Pop History abfragte, die Minderjährige mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wissen konnten (es war die Zeit vor Google).

Ein Vierteljahrhundert später liefert uns die Firma Cardinal Industries, die 1948 mit Dominosteinen und Poker-Chips in das Spiele-Business einstieg, nun eine Schachtel mit 300 Fragekärtchen, vier löschbaren Schreibtafeln, einer Sanduhr und einem Haufen Tokens, um mit dem Wikipedia-Wissen zu spielen. "Es ist", formuliert es ein Spieler höflich, "kein übermäßig herausforderndes Spiel." Ein anderer findet "die Fragen arg beschränkt". Wer etwas weiß, bekommt ein Token. Wer am Ende am meisten Tokens hat, hat gewonnen.

Dass es sich angeblich um ein "Spiel über alles" handeln soll, ist nicht zu erkennen. Die meisten Fragen drehen sich um Sport oder Popkultur. Vor allem um Sport. Ein bißchen Geschichte auch, aber fast ausschließlich First World History. In der Kategorie Physik wird nach Darstellern aus The Big Bang Theory gefragt, was man noch als halblustig durchgehen lassen kann. Manche Antworten sind schlichtweg falsch. Wer nun denkt: 300 Fragen, immerhin, wird schnell bemerken, dass es nur 150 sind, in doppelter Ausführung. Die Wikipedia wird bei dem Spiel nicht hinzugezogen. Das Game About Everything ist ein althergebrachtes Trivia-Game, ein maues zumal, das den Namen Wikipedia einzig als Kaufanreiz benutzt. Oder wie es unwillkürlich komisch in einem Fünf-Sterne-Lob heißt: "Perfekte Verpackung!" ()