Europäischer Polizeikongress: Wer radikalisiert sich da?

Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen warnte in Berlin vor der Radikalisierung des bürgerlichen Milieus. Kriminalisten und Journalisten zeichnen ein anderes Bild rechtsradikaler Gewalttäter.

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Europäischer Polizeikongress: Wer radikalisiert sich da?

Eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Bautzen steht in Flammen. Während Hans-Gerog Maaßen ein sich radikalisierendes bürgerliches Milieu sieht, legen Journalisten und Kriminalisten das "Lone-Wolf-Phänomen" des Rechtsterrorismus nahe.

(Bild: dpa)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Verfassungsschutz-Präsident Hans-Gerog Maaßen hat vor einer "Radikalisierung des bürgerlichen Milieus" durch das Internet, insbesondere durch soziale Netzwerke gewarnt. Sie führe zu einer vom Verfassungsschutz zu beobachtenden "Abkehr vom Rechtsstaat". Auch BKA-Vizepräsident Michael Kretschmer sprach auf dem europäischen Polizeikongress in Berlin davon, dass 80 Prozent der Täter von Anschlägen gegen Asylunterkünfte "bisher nicht mit politisch motivierter Kriminalität in Erscheinung getreten sind.

Sowohl Zeitungsrecherchen als auch eine kriminalistische Untersuchung zeichnen ein anderes Bild. Danach sind die Gewalttaten Bestandteil des "Lone-Wolf-Phänomens" des Rechtsterrorismus.

Maaßen zeigte sich besorgt über salafistische Aktivitäten, die Asylsuchende als "Rekrutierungsmaterial" ansehen. Besonders Frauen würden mit Geld- und Kleiderspenden davor "geschützt", mit Ungläubigen in Kontakt zu kommen. Zudem sei die Selbstradikalisierung von Migranten ein Problem für die Verfassungsschützer, die zwei bis vier ernstzunehmenden Hinweisen pro Tag nachgehen müssten. Große Hoffnungen setze er auf das in den Niederlanden geplante europäische Anti-Terror-Zentrum der Geheimdienste, das die Arbeit des Anti-Terrorzentrums der EU-Polizeien um den direkten Erkenntnisaustausch der Dienste ergänzen soll.

Michael Kretschmer vom Bundeskriminalamt verwies auf das jüngst von seinem Haus veröffentlichte Lagebild zur Kriminalitätsentwicklung im Zusammenhang mit der Zuwanderung. Danach sei eindeutig feststellbar, dass die Mehrheit der Asylsuchenden keine Straftaten begehe. Insbesondere soll der Anteil der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter einem Prozent liegen. Mit 25 Brandanschlägen gegen Asylunterkünfte allein im noch jungen Jahr 2016 zeichne sich eine besorgniserregende Tendenz ab, wobei 80 Prozent der Täter aus demselben Ort, weitere 10 Prozent aus der näheren Umgebung kämen.

Unter Anspielung auf das Kongress-Logo meinte Kretschmer skeptisch, dass man noch lange nicht an Version 4.0 der Polizeiarbeit angekommen sei. Insbesondere fehle es auf europäischer Ebene an Instrumenten. So sei es bedauerlich, dass das Schengener Informationssystem derzeit nicht mit recherchierbaren biometrischen Datenbeständen ausgestattet sei. Statt einer von zeitgemäßer IT gestützten Suche in einheitlichen Datenbeständen müsse sich die Polizei mit schriftlichen Rechtshilfeersuchen herumschlagen. Seine Hoffnungen ruhten auf dem von der EU vorangetriebenen ECRIS-Projekt, dem "European Criminal Record Information System". Was möglich ist, habe EuroDAT bewiesen, als es gelang, zwei eingeschleuste Terroristen in einem österreichischen Aufnahmelager festzunehmen.

Der Terrorismus-Experte Peter Neumann vom Londoner King's College prognostizierte für die Zukunft eine neue Ausreisewelle williger selbstradikalisierter Kämpfer in das Gebiet des islamischen Staates, wenn dieser in seinem Kerngebiet unter Druck geraten wird. Wie zur Ausreisewelle im Jahre 2013 würden sie zu Hilfe eilen, "weil unsere Brüder und Schwestern abgeschlachtet werden". Im Unterschied zur Ausreisewelle von 2014, als es darum ging, die Utopie eines neuen Staates aufzubauen (und viele Frauen ausreisten) führe die "existentielle Bedrohung II", dass die Gefahr von Terroranschlägen in Europa drastisch ansteigen werde. (anw)