Post aus Japan: Die eiternde Wunde

Fukushima, fünf Jahre danach: Der Atomunfall zieht sich hin. Menschliches Leben rückt den Reaktoren zwar immer näher. Aber Normalität kehrt in der Region noch nicht ein.

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Von
  • Martin Kölling

Fukushima, fünf Jahre danach: Der Atomunfall zieht sich hin. Menschliches Leben rückt den Reaktoren zwar immer näher. Aber Normalität kehrt in der Region noch nicht ein.

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus – und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends.

Vor fünf Jahren schrieb Fukushima Weltgeschichte. Nach einem Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala zerstörte ein Riesentsunami das Atomkraftwerk Fukushima 1. In den folgenden Stunden und Tagen schmolzen in drei der sechs Reaktoren des Akws die Kerne. Wasserstoffexplosionen zerfetzten mehrere Reaktorgebäude. Und jede stieß radioaktive Wolken aus, so schlimm wie seit der Atomkatastrophe in Tschernobyl nicht mehr. Mehr 160000 Menschen wurden evakuiert. Doch nur fünf Jahre später rückt menschliches Leben immer weiter an die Atomruine an.

Auf dem Akw selbst sind Dekontaminierung und Sanierung so weit fortgeschritten, dass Arbeiter sich in einigen Gebieten schon in ihrer normalen Kleidung bewegen können. Die Areale, in denen neben dem weißen Tyvek-Anzügen auch Vollgesichtsmasken vorgeschrieben sind, nehmen immer weiter ab. Inzwischen herrscht sogar eine Art Atomtourismus. Von April bis Dezember 2015 führte der Betreiber der Meiler, der Stromkonzern Tepco, 5794 Besucher durch die Anlage.

Doch auch privat kann man den nuklearen Nervenkitzel suchen. Inzwischen darf man mit dem Auto durch das Sperrgebiet fahren, das das Akw umgibt. Entweder auf der Autobahn in fünf bis sechs Kilometer Entfernung der Atomruinen. Oder auf der Nationalstraße 6. Die führt 2,5 Kilometer entfernt von den Meilern vorbei. Schilder am Straßenrand zeigen sporadisch die geringsten und die höchsten Strahlenwerte an, an denen man vorbeikommt. Die Werte reichen von 0,1 Mikrosievert pro Stunde bis 4,2 Mikrosievert pro Stunde.

Außerdem werden immer mehr Gebiete zur Besiedlung freigeben. Naraha, 15 Kilometer südlich der Meiler gelegen, darf schon seit Herbst 2015 wieder bewohnt werden. Tomioka, ca. zehn Kilometer entfernt, ist 2017 dran. Aber wer will, kann dort jetzt schon spazieren gehen. Okuma, die Ortschaft um die Meiler, wird noch länger warten müssen, so auch die Ortschaften im Nordwesten des Atomunglücks, über die eine der atomaren Wolken hinwegzog. Doch die große Frage ist: Wie sicher ist es überhaupt, zurückzukehren?

Während viele japanische Experten und vor allem die Zentralregierung von Ministerpräsident Shinzo Abe Entwarnung geben, warnt Greenpeace-Aktivistin Kendra Ulrich, dass die Regierung damit nur einen neuen Mythos von der Rückkehr zur Normalität aufbaue. "Die Beweislage enthüllt dies als politische Rethorik, nicht wissenschaftliche Tatsache", so Ulrich. Greenpeace schlussfolgert hingegen in dem Anfang März vorgestellten Bericht "Radiation Reloaded"), dass in einige Regionen die Auswirkungen noch in Dekaden, wenn nicht Jahrhunderten messbar seien.

Auch das Atomkraftwerk leckt weiter. Die Lage sei zwar sehr stabil, meint Akw-Chef Akira Ono. Aber seiner Meinung nach sind erst zehn Prozent der Dekommissionierung geschafft. 30 bis 40 Jahre soll sie ohnehin insgesamt dauern.

Doch das Problem für die Betroffenen ist, dass die Experten sich über die Auswirkungen von niedrigdosierter Strahlung nicht einig sind. Es gibt Gebiete mit hoher Strahlung. Aber die sind weiterhin gesperrt. Die freigegebenen Gebiete gelten der Regierung als sicher. Denn die Strahlung, die dort zusätzlich zur natürlichen Hintergrundstrahlung wirkt, dort langfristig nicht höher als ein Millisievert pro Jahr sein. Dies entspricht dem deutschen Grenzwert. Allerdings wird bei Berechnung in Japan nicht einfach nur die Umgebungsstrahlung hochgerechnet, sondern ein Mischwert aus Zeiten in Häusern und draußen in der Natur ermittelt.

Abgesehen von der Erstellung der Werte, tatsächlich sind an vielen Messpunkten die Strahlenwerte dank Halbwertzeit und Dekontaminierung drastisch gefallen. Daher kann der Sperrbezirk, der rund sieben Prozent der Präfektur ausmachte, auch verkleinert werden. Allerdings liegt der Teufel im Detail.

In Fukushima, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur, rangieren die Werte mit 0,18 Mikrosievert pro Stunde zwar mehr als vier mal so hoch wie vor der Katastrophe, jedoch nur noch 50 Prozent über denen Münchens. Zum Vergleich: Für April 2011 gibt die Präfekturregierung den Referenzwert für Fukushima-Stadt mit 2,74 Mikrosievert pro Stunde an. Am Rande bemerkt: Tokio, das selbst nach der Atomkatastrophe nur leicht erhöhte Werte sah, erfreut sich weniger als halb so hoher Werte wie die bayrische Hauptstadt.

Der Bürgermeister von Minamisoma und überzeugte Atomkraftgegner, Katsunobu Sakurai, gibt für große Teile seiner Ortschaft ebenfalls Entwarnung. Minamisoma liegt an der nördlichen Grenze des Evakuierungsgebiets und hatte Glück. Die radioaktive Wolke zog in den Bergen vorbei und verschonte die Hauptsiedlungen an der Küste. Selbst in relativer Nähe zu den Meilern lägen viele Gebiete daher unter dem Grenzwert von 0,23 Mikrosievert pro Stunde, unter dem eine Besiedlung der Regierung als unbedenklich gilt, merkt er an.

Wie schwer allgemeine Aussagen sind, zeigen auch die Messwerte für die Ortschaft Naraha. Sie schwankten Anfang Januar in einem Meter Höhe gemessen zwischen 0,07 Mikrosievert pro Stunde auf einem Kindergartengrundstück bis 1,39 Mikrosievert pro Stunde auf einem stärker betroffenen Berg. Dies entspricht 0,37 Millisievert bis 7,31 Millisievert pro Jahr. Doch generell liegen die Werte unter einem Millisievert pro Jahr.

Dennoch sind bisher nur fünf Prozent der ehemals 8000 Bürger zurückgekehrt. Denn erstens misstrauen viele den amtlichen Messungen. Ein Anwohner meint, es gebe noch immer viele Hotspots. Zweitens ist das Leben nicht unbeschwert: Die Grundschule wird erst 2017 wieder eröffnet. Es gibt nur eine Kneipe und einen Mini-Supermarkt.

Darüber hinaus lassen sich die Bergwälder nicht dekontaminieren und laden daher nicht mehr zu Spaziergängen ein. Und in der Umgebung lagert auf riesigen Halden die dekontaminierte Erde in schwarzen Säcken, die mit großen Plastikplanen überdeckt wurden, weil die Regierung noch keine gut gesicherte Endlagerstätte gebaut hat. Und alle wissen, dass die Säcke in ein paar Jahren durchrotten.

Doch ist dies wirklich gefährlich, und wenn ja wie, oder nur psychologisch unangenehm? Die Anwohner sind verunsichert, denn die Meinung der Wissenschaftler über niedrige Strahlendosen gehen weit auseinander, bringt Ruiko Muto, Mitorganisatorin des Evakuiertenverbands Hidanren, die Stimmung auf den Punkt. "Aber wir kennen die Auswirkungen der Strahlung noch nicht." Sie fordert daher, dass man äußerste Vorsicht walten lassen sollte. Wer will ihnen die Vorsicht verdenken. ()