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Auf die Reservebank geschoben, aber nie vergessen: Im Schatten der digitalen Revolution überlebten Negativfilme, Schallplatten, Röhrenverstärker und Lochkameras.

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Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
  • Chris Löwer
Inhaltsverzeichnis

Auf die Reservebank geschoben, aber nie vergessen: Im Schatten der digitalen Revolution überlebten Negativfilme, Schallplatten, Röhrenverstärker und Lochkameras. Der Trend ist mehr als reine Nostalgie, er beeinflusst den digitalen Fortschritt.

Phillytyper? Klingt wie eine Sekte, und manche würden die Menschen, die sich dieser Tätigkeit hingeben, wohl tatsächlich als etwas sonderlich betrachten. Vor allem in den USA treffen sich Freizeitpoeten und -literaten zu sogenannten "Type-Ins", Jam Sessions mit manuellen Schreibmaschinen. Sie bezeichnen sich als Freunde des echten Tippens, eben "Phillytyper", und empfinden das langsame Schreiben mit schwergängigen Tasten als kontemplativ.

Man kann es als schrulliges Retrodenken abtun. Aber dahinter steckt mehr. Vielen ist der digitale Kosmos zu steril, es mangelt ihm an Haptik, Aura, Charme – und am Ende wohl auch an Begreifbarkeit. Die kreativen, sinnfälligen und unmittelbar erfahrbaren Möglichkeiten der analogen Technik fesseln inzwischen eine bunte Szene von Sammlern, Hobbyhistorikern, Technikbegeisterten, Musikern, Fotografen und Schreibern.

"Sie sammeln alte Geräte, um sie für die Nachwelt zu bewahren oder weil sie ins Design vernarrt sind. Andere fasziniert die solide Technik oder der volle Klang – und einige basteln und reparieren gern", sagt etwa Ingo Pötschke, Vorsitzender der "Gesellschaft der Freunde der Geschichte des Funkwesens". Gleichzeitig aber führt die analoge Sehnsucht auch zu völlig neuen Geräten, etwa einer Polaroid-Sofortbildkamera mit Internetanschluss oder der Schreibmaschinen-App Hanx Writer des Schauspielers Tom Hanks.

Comeback von Röhrenverstärker, Analogsynthesizer und Vinyl

Warum das Analoge seine Renaissance erlebt, lässt sich vielleicht am besten in der Musik erklären: Als die CDs in den 80er-Jahren ihren Siegeszug antraten, fand das Vinyl in der Technoszene eine Nische. Martin Sukale, der mit "Ameise" mittlerweile seit 15 Jahren das kleinste Presswerk Deutschlands in Hamburg betreibt, kannte diese eingeschworenen Kreise. Und entschied sich, DJs oder Independent-Newcomern fern der etablierten Musikindustrie eine eigene Scheibe zu ermöglichen. Aber das bedeutete sehr viel Schrauberei und Experimente, denn zu der Zeit waren die meisten Plattenpressen auf dem Schrott gelandet, und die großen Firmen waren nicht bereit, ihr Know-how zu teilen.

Inzwischen erleben Vinyl-Schallplatten seit einigen Jahren einen ungeahnten Boom: 2013 stieg der Umsatz mit den 30-Zentimeter-Platten um sagenhafte 47 Prozent. Im vorigen Jahr waren es immerhin noch 33 Prozent, was einem Umsatz von 38 Millionen Euro entspricht. Vor dem Hype waren es 2009 gerade einmal neun Millionen Euro. Bei den wenigen Presswerken, die es mittlerweile wieder gibt, müssen die Maschinen inzwischen rund um die Uhr laufen – und zwar alte Pressen aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Eine neue Technik ist nicht in Sicht, denn trotz des Booms bleiben Vinylplatten mit einem Anteil von 2,6 Prozent am gesamten Musikmarkt wohl weiterhin ein Nischenprodukt.

Überlebt haben ebenso die kiloschweren Röhrenverstärker. Das Tremolo-Jaulen der analogen Retro-Synthesizer ist heutzutage wieder in vielen aktuellen Musikstücken zu hören. Denn für viele Fans und Künstler gleichermaßen ist das analoge Musikhören und -machen immer noch eine bevorzugte akustische Option jenseits der digitalen Welt mit ihren technisch wirklichkeitsgetreuen, aber auch eher sterilen Wiedergabequalitäten. Hier sind es gerade die Mängel analoger Geräte, die sich als Stärken entpuppen, weil sie Klangnuancen produzieren, die digitalen Aufnahmen fehlen.

Auch wenn das ein Irrtum ist, wie Jan Rennies-Hochmuth, Gruppenleiter für Audioqualität und auditorische Modellierung am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT, erläutert: "Bei der digitalen Speicherung von Audiodateien können Frequenzanteile bis zu 20 Kilohertz verlustfrei übertragen werden. Die obere Grenzfrequenz bei Vinylplatten liegt dagegen nur bei etwa 12 Kilohertz." Der weichere Analogklang federe zwar übersteuerte Aufnahmen ab. Dafür jedoch sei das Stereohörbild deutlich eingeschränkt, einige Tonhöhen würden zu laut, andere dagegen zu leise wiedergegeben. Verzerrungen beispielsweise ließen höhere Töne brillanter erscheinen. Trotzdem ist es wohl gerade diese Unvollkommenheit, die Fans des Analogen so lieb gewonnen haben.

Ähnliches gilt für Rockmusikgitarristen. Bei ihnen fällt dem Verstärker eine besondere Rolle zu. Für Gitarrenvirtuosen wie Jimi Hendrix, David Gilmour von Pink Floyd oder Slash von Guns N' Roses war er nicht einfach nur dazu da, die Saitenklänge deutlich hörbar zu machen. Vielmehr drehten sie ihn voll auf und modulierten die so entstandenen Verzerrungen mit den Saiten und Bewegungen der Gitarren. Die erzeugten Rückkopplungen, die sie durch geschickte Gitarren- und Körperbewegungen nicht nur im Zaum hielten, sondern auch in neue Klänge überführten, wurden oft zu ihren Markenzeichen. Jene Perfektion und Individualität, zu der es viele Musiker brachten, lässt sich indes nur mit Röhrenverstärkern erzielen – mit einer Technik, die im Zeitalter von Transistoren und Chips eigentlich überholt ist.

Zupfinstumentenbauer Robin König, der in Hamburg individuell bestellte und aufwendig designte E-Gitarren baut, sagt: "Wenn Röhrenverstärker anfangen zu übersteuern, dann gibt es weiche, seidige, harmonisch klingende Töne, die man mit Transistorverstärkern so nicht hinbekommt." Denn bei Transistoren handelt es sich quasi um Schalter, die träger als Röhren reagieren und dadurch die besonders feinen Musiksignale verschlucken. Röhren jedoch erzeugen gleichmäßige elektronische Wellen.

Dieselben weichen, melodischen Übergänge zwischen den Toneffekten könnten auch erklären, warum der analoge Synthesizer ebenfalls seine Renaissance erfährt. Er war eines der prägendsten Instrumente der Popmusik von den 1970er- bis in die 1990er-Jahre. Die Töne entstanden über elektronische Schwingungen, deren Frequenz die Tonhöhe bestimmte. Den ersten auch für Musiker spielbaren Synthesizer baute 1964 Robert Moog aus Asheville, North Carolina, USA. Als ernsthaftes Musikinstrument wurde sein Holzkasten mit Schaltern, Drehknöpfen und Klaviatur jedoch erst wahrgenommen, als vier Jahre später das vollelektronisch eingespielte Album "Switched-On Bach" erschien.