Internet: Kampf um die Anonymität

Noch nie war es leichter, anonym und vertraulich zu kommunizieren. Doch was für die einen mehr Freiheit bedeutet, sehen die anderen als gefährliche Waffe von Kriminellen und Terroristen.

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Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Christian Honey
Inhaltsverzeichnis

Draußen huscht die Landschaft vorbei. Drinnen hat niemand einen Blick für sie übrig. Während wir im ICE mit 250 Stundenkilometern durch Brandenburg rasen, tippen meine Abteilnachbarn eifrig auf ihren Smartphones herum. Nur die ältere Dame im Sitz neben mir nicht. Sie möchte lieber ganz altmodisch plaudern – und beginnt mir unvermittelt von ihrer Reise zu erzählen. Sie sei 69 Jahre alt und besuche ihren Sohn und dessen Frau und Kinder in Stuttgart.

Ob sie dort häufig zu Besuch sei? Schon kramt auch sie ein Smartphone heraus und zeigt mir Fotos der beiden Enkel, die ihr der Sohn per WhatsApp geschickt hat. Ob es ihr wichtig sei, dass WhatsApp solche Nachrichten verschlüsselt, frage ich. "Ja", sagt sie. "Es gibt ja Leute, die nach Bildern von Kindern suchen im Internet. Ich melde mich auch nirgends mit meinem Namen an, weil ich immer wieder unaufgefordert Werbung kriege."

Moment mal? Die nette alte Dame neben mir legt Wert auf digitale Privatsphäre? Lange schien es so, als hätten die Snowden-Enthüllungen keine Wirkung auf das Verhalten des Otto-Normal-Surfers gehabt. Ändert sich das nun doch? Und wenn ja, wird das zarte Pflänzchen digitaler Privatsphäre in Zeiten des globalen Terrors nicht schon bald wieder ausgerissen?

Ermittlungsbehörden jedenfalls beklagen eine stete Zunahme anonymer Kommunikation. Diese schaffe dunkle Online-Gassen, in denen Kriminelle und Terroristen sich ungestört besprechen und organisieren. Folglich verlangen die Dienste Verbindungsdaten und Hintertüren. Sie wollen wissen, wer wann mit wem kommuniziert – und am liebsten auch worüber. Der stellvertretende CIA-Direktor Michael Morell beispielsweise erklärte bereits kurz nach den Pariser Anschlägen in einem Interview mit dem Nachrichtensender CBS, dass Terroristen "über verschlüsselte Apps kommunizieren […] und deren Hersteller nicht die notwendigen Schlüssel für die Strafverfolgungsbehörden bereitstellen, um die verschlüsselten Nachrichten lesen zu können."

Datenschützer hingegen sehen die Privatsphäre und freie politische Meinungsbildung gefährdet, wenn auch verschlüsselte und anonyme Kommunikation abgehört werden könnte. Und Sicherheitsforscher warnen, dass Zugangscodes für verschlüsselte Daten nicht nur den Ermittlungsbehörden nutzen – sondern auch versierten Kriminellen. So steht der nächste große Kampf um die Zukunft des Internets an. Wer ihn gewinnt, wird den Charakter des Webs und der Gesellschaft weit stärker prägen, als sich viele das heute vorstellen.

Lange hat es gedauert, bis der Kampf um die Anonymität bei Menschen wie meiner Zugbekanntschaft angekommen ist. Drei Jahre sind seit den NSA-Enthüllungen von Edward Snowden vergangen. Nun aber floriert scheinbar der Markt mit der Privatsphäre, zumindest wenn man sich die Verkaufs- und Nutzerzahlen für Instant-Messenger anschaut. Anbieter wie Threema, ChatSecure, Signal, Silent Phone oder Telegram werben damit, dass man mit ihren Apps abhörsicher und anonym kommunizieren könne. Sie bieten die sehr sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, und um sich anzumelden, muss man weder E-Mail noch Telefonnummer hinterlegen.

Telegram zählte nach eigenen Angaben im Mai 2015 weltweit 62 Millionen Nutzer, knapp doppelt so viel wie noch im März 2014. In Deutschland war Threema laut der Plattform App Annie in den Jahren 2014 und 2015 der meistverkaufte Smartphone-Messenger. Zwar ist WhatsApp weiterhin der überragende Marktführer, mit nach eigenen Angaben 900 Millionen aktiven Nutzern pro Monat. Doch auch die Facebook-Tochter verschlüsselt inzwischen die Nachrichten zwischen den Chat-Teilnehmern. Neben Chat-Apps finden anonymisierte E-Mail-Dienste immer mehr Zuspruch. Der deutsche Anbieter Posteo aus Berlin etwa bietet verschlüsselte Postfächer an, die nicht mit den Namen der Kunden verknüpft sind.

"Wir haben 2009 mit Posteo angefangen, als wir noch bei Greenpeace waren", erzählt Patrick Löhr, Gründer und Geschäftsführer von Posteo. "Da wollten wir ab und zu Aktionen per E-Mail verabreden, die keiner mitbekommen sollte", fügt seine Mitgründerin und Ehefrau Sabrina Löhr an. Welche Aktionen das waren, wollen die beiden aber nicht verraten. Stattdessen wird Patrick Löhr lieber prinzipiell: "Es ist einfach wichtig, dass Bürger und insbesondere gesellschaftlich engagierte Menschen unbeobachtet vom Staat miteinander kommunizieren können, damit gesellschaftliches Engagement unabhängig von der jeweiligen Regierung möglich bleibt."

Während das Angebot von Posteo bis 2013 gerade mal 10000 Nutzer fand, "hat sich das mit den Snowden-Enthüllungen schlagartig geändert", sagt Patrick Löhr. "Von Minute eins an bekamen wir E-Mails und Anrufe mit der Frage, wie man sich nun besser vor Überwachung schützen könne." Seither steigen die Nutzerzahlen stetig an, heute sind es 350000. Der neue Firmensitz von Posteo in der sanierten Schultheiss-Brauerei in Berlin-Kreuzberg, mit Meeting-Raum unter altem, hallendem Gewölbe, spricht deutlich von einem erfolgreichen Geschäft mit der Anonymität.

Unmittelbar nach Snowden schnellten auch beim Tor-Projekt die Verbindungsanfragen nach oben. Mit dem Netzwerk lassen sich Verbindungsdaten anonymisieren. Niemand kann mehr nachvollziehen, welche Webseiten der Nutzer aufgerufen hat. Durchschnittlich rund 200000 Tor-Verbindungen gehen auf deutsche Nutzer zurück und stellen damit knapp zehn Prozent der Gesamtmenge. Das klingt wenig, ist jedoch für ein kompliziertes und wenig nutzerfreundliches System eine erstaunliche Zahl. Im Jahr 2015 landete Deutschland damit auf Platz zwei der weltweiten Tor-Charts.

Gleichzeitig jedoch steht Tor wie kein zweites System für die Zweischneidigkeit der neuen Anonymisierungswelle. Was als berechtigter Schutz vor staatlicher Überwachung funktioniert, schützt ebenso Internet-Kriminelle und Terroristen. Denn Tor ist eine der beliebtesten Pforten in das berüchtigte Darknet. In diesen dunklen Gassen des Webs sind Waffen ebenso zu haben wie Drogen oder Kinderpornos.

Ganz unverständlich ist da die Furcht des Staates vor der neuen Heimlichkeit nicht. Doch wer wie FBI-Direktor James Comey staatliche Hintertüren in Verschlüsselungssysteme fordert, riskiert erheblichen wirtschaftlichen Kollateralschaden. Denn "Verschlüsselung" umfasst weit mehr als vertrauliche E-Mails: Verschlüsselungstechnik steckt in gesichertem Online-Banking genauso wie in Internetshops oder der Auslieferung von Updates für Betriebssysteme. All diese Anwendungen wären für Kriminelle leichter angreifbar. Der Aufwand zu ihrer Sicherung würde immens steigen. Cloud-Anbieter müssten zudem mit erheblichem Vertrauensverlust rechnen: Schon nach den Snowden-Enthüllungen sind US-Unternehmen nach Schätzungen der Unternehmensberatung Forrester bis zu 180 Milliarden Dollar entgangen, weil Kunden abgesprungen sind.