Die Zukunftsatome

Um die Zukunftspotentiale von Verbundforschung zu erkennen, muss man sie in einem großen Bild sehen – als Teil des digitalen Wandels.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Man könnte die beginnende Epoche die Scheinzeit nennen, in Anlehnung an die Steinzeit und die ersten Werkzeuge der Menschheit, die nun als virtuelle Tools mit algorithmischer DNA nochmal neu erfunden werden. Auf den Neandertaler folgt jetzt der Siliziumtaler, der Homo Siliconvalleyensis – der Bewohner der digitalen Welt, regional verankert und transnational vernetzt. Früher gab es einen Zustand, dann kam eine Veränderung, dann ein neuer Zustand.

Jetzt ist Veränderung der Zustand, auch was die Formen von Forschung und Zusammenarbeit angeht. Darin liegen große Chancen. "Sie müssen ihr gesamtes Unternehmen zerlegen", sagt John Paton, CEO der Digital First Media Group, "und es dann wieder so zusammenbauen, dass es ihre Zukunft ist" – gemeinsam mit anderen, wie man ergänzen darf. Verbundforschung ist ein bedeutendes Element dieser neuen, für manche schockierenden Flexibilität.

Die großen Kräfte des digitalen Wandels lassen die herkömmlichen Strukturen ganzer Industrien aufbrechen. Man kann sie mit einem Vergleich verdeutlichen: Wir haben es mit digitaler Nuklearkraft zu tun. Die gewohnten Abläufe und Vorgehensweisen entsprechen Molekülen, die nun wieder in ihre Atome zerlegt oder entbündelt werden. Und diese Atome sind der Stoff, aus dem die Zukunft ist.

Die Musikindustrie kollidierte als erste mit der vollen Wucht dieser ökonomischen Kernspaltung. Das Musikalbum, zuvor die Standartportionierung für Musikstücke, wurde atomisiert. Im Netz werden nun einzelne Tracks verkauft. Niemand muss mehr auf einem Album gebündelt Stücke mitkaufen, die ihm nicht gefallen (und niemand wird mehr eines der Stücke für sich entdecken, die sich einem erst nach mehrmaligem Hören öffnen). Aber auch das wandelt sich gerade – statt Trackpicking nehmen nun immer mehr Hörer zu einem Pauschalbetrag Streaming-Angebote in Anspruch.

Die losgelösten digitalen Atome können aber auch hilfreich dabei sein, institutionelle Unterschiede zu überbrücken, wie sie Verbundforschung mit sich bringt. So lässt sich ein gemeinsames Ziel ansteuern, indem man der dazu nötigen Kooperation den Modellcharakter eines gemeinsam synthetisierten Moleküls verleiht – eines Energieträgers, in dem die unterschiedlichen Innovationskräfte optimal zusammenwirken.

Immer mehr Vorgänge, Produkte und Branchen, die zuvor analog isoliert waren, gehen in diesen digitalen Aggregatzustand über, der eine grundlegend neue Offenheit und Leichtigkeit besitzt. Digitale Dinge lassen sich ungleich leichter bearbeiten, bewegen und finden als zuvor, global versenden, empfangen, verändern, kopieren, mit anderen teilen und neu zuammenfügen. Sie kommen, mit einem Wort, der Arbeit im Verbund sehr entgegen. Es ist kein Zufall, dass das World Wide Web, aus dem das Netz, wie wir es heute kennen, hervorgegangen ist, am europäischen Kernforschungszentrum CERN entwickelt wurde – an der größten Maschine der Welt, deren Dimensionen nur noch durch transnationale Zusammenarbeit zu bewältigen sind.

Die Atomisierung von Forschung und Produktion erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, es finde ein gewaltiger zerstörerischer Prozess statt. Aber wie man aus der Physik weiß, wollen vereinzelte Atome nichts heftiger, als sich wieder zu neuen Molekülen verbinden. Wie sehen diese neuen Verbünde aus? Die digitalen Atome lassen sich auf reichhaltige Weise zu neuen Molekülen rekombinieren. Manchmal genügt es schon, wenn diese Strukturen nur momentlang existieren. Google hat das Prinzip extrem erfolgreich umgesetzt: Jede Ergebnisseite einer Suchanfrage ist ein individuell hergestelltes, nur einige Augenblicke lang benötigtes Antwortmolekül. Das verstreute Team eines Verbundforschungsprojekts kann – auf einer ganz anderen Zeitskala – auf gleiche Weise ergebnisfokussiert arbeiten.

Die Digitaltechnik verwandelt Information, Arbeit und Verbreitung in eine einzige Substanz: Daten. Es entsteht ein Medium, das keinem bisher erfundenen gleicht. Diese einzigartige digitale Substanz kann in jede vorstellbare Form transformiert werden. Der fantastische Erfolg dieser Technologie, die als Leitströmung ins 21. Jahrhundert führt, liegt darin, dass sie sich als magisches Bindeglied für die herkömmlichen, nebeneinander existierenden Techniken und Arbeitsformen erwiesen hat. Verbundforschung und ihre Herausforderungen zählen dabei zur hohen Schule der modernen Zusammenarbeit. (bsc)