Dark side of Pokémon

Warum sind so viele - auch erwachsene - Menschen fasziniert von einem Spiel, das ursprünglich entworfen wurde, um zehnjährigen Kindern das Taschengeld aus der Tasche zu ziehen?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 3 Min.

Wenn Sie in diesen Tagen auf Grüppchen von Menschen stoßen, die scheinbar unmotiviert an einer Straßenkreuzung oder einem anderen öffentlichen Platz rumlungern, jeder für sich aber ganz in sein Smartphone versunken ist, dann spielen die wahrscheinlich Pokémon Go. Warum sind so viele – auch erwachsene – Menschen fasziniert von einem Spiel, das ursprünglich entworfen wurde, um zehnjährigen Kindern das Taschengeld aus der Tasche zu ziehen?

Die naheliegende Antwort lautet: Ja, das Spiel ist schon alt, aber dies hier ist jetzt mit Augmented Reality (kurz AR, bedeutet so viel wie "aufgewertete Realität"). Und die Pokémon – die niedlichen kleinen Monster – werden in reale Kamerabilder eingeblendet. Das sieht dann zum Beispiel so aus, als ob ein Mini-Dino über den Schreibtisch laufen würde. Putzig, aber warum bringt das die Leute so aus dem Häuschen?

Meine These: So ein AR-Spiel erzeugt die Illusion, das hinter der nüchternen, bekannten, langweiligen Offline-Welt noch eine andere Wirklichkeit verborgen ist. Man muss sie nur sichtbar machen. Dann kann man sie bedienen, wie eine Art verborgene Wartungklappe der Wirklichkeit. Das ist dieselbe Schiene, auf der auch Religionen funktionieren – oder die Matrix-Triologie. Früher waren es Priester oder Magier, die einen Zugang zu dieser verborgenen Realität herstellen konnten, heute sind es Techniker. Wer genügend Macht hat, kann die verborgene Klappe aufmachen, um an den Feineinstellungen des Multiversums rumzufummeln.

Der zweite große Erfolgsfaktor für das Spiel ist natürlich seine Herkunft aus der japanischen Pop-Kultur. Die Pikachu und wie sie alle heißen sind Zuckerwatte-Versionen einer Kultur, die es vollkommen normal findet, dass Bäume von Waldgeistern bewohnt sind, in der es Yurei-Gespenster gibt und Tengu in Wäldern wohnen – mitten im 21. Jahrhundert.

In der Story-Sammlung "The Future is Japanese" beispielsweise gibt es eine atmosphärisch extrem dichte Geschichte über eine ganz besondere Art von Waldläufern: Menschen, die sich darauf spezialisiert haben, persönliche Gegenstände von frisch verstorbenen Selbstmördern aus dem Aokigahara-Wald – dem "Ozean der Bäume" – zu holen, weil es einen florierenden Schwarzmarkt für diese Artefakte gibt. Früher oder später wird ein cleveres Spiele-Studio sich aus diesem reichhaltigen Kontext bedienen. Dann wird es mehr geben, als quietschbunte Kuschelsaurier und psychedelische Hamster.

Ich habe ja von Anfang an auf AR gewettet, und vermutet, dass reine virtuelle Realität dagegen ziemlich alt aussehen wird. Die Kollegen waren skeptisch, denn alle bisherigen AR-Anwendungen hatten nicht richtig gezündet. Die "seriösen" AR-Anwendungen, die es bereits gibt, sind ganz oft Bedienungshilfen für Service-Techniker und Monteure, die mit Hilfe outgesourcter Spezialisten in AR-Callcentern noch schneller, billiger und effizienter arbeiten sollen. Das mag für Manager total sexy sein, sorgt aber nicht dafür, dass der Rest der Welt diese Technologie unbedingt haben will. Das hat sich jetzt geändert, und ich bin froh darüber. Danke, Pikachu.

(wst)