Moralbefreit

Wäre es rechtens, ein voll besetztes Passagierflugzeug abzuschießen, weil es von Terroristen gekapert wurde? Die Frage geht am Ziel vorbei.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Hat sich ein Kampfjägerpilot schuldig gemacht, der ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen hat, das auf ein vollbesetztes Stadion zusteuerte, oder war seine Abwägung richtig, zum Preis von 164 Menschenleben bis zu 70.000 Menschenleben retten zu können?

Ferdinand von Schirach ließ das Publikum der TV-Verfilmung seines Theaterstücks "Terror" interaktiv darüber abstimmen (wobei "interaktiv" hieß, dass viele Zuschauer in einem Zeitfenster von wenigen Minuten nach der Ausstrahlung weder an die unter Überlast weitgehend unerreichbare Website noch die gleichermaßen blockierte TED-Nummer herankamen, um ihr Votum abzugeben). Im Anschluss wogten die Debattenkontinuen, das Stück sei manipulativ inszeniert gewesen, das Abstimmungsergebnis (87 Prozent stimmten für Freispruch, 13 Prozent für schuldig) vorab klar gewesen. Überhaupt: Plebiszite! Das Ende der Demokratie.

Das konstruierte Dilemma zielt auf die Frage, was ein Mensch verantworten kann oder gegenwartsbezogen, wie sich im Umgang mit Verantwortung der moralische Stand unserer Zeit ausdrückt. Der TV-Aufreger zielt jedoch am Kern der Frage vorbei, denn Verantwortung löst sich im Computerzeitalter von Verantwortlichen, die persönlich haftbar gemacht werden können, so wie der Militärpilot im Film. In der immer höheren Schaltgeschwindingkeit und den kombinatorischen Möglichkeiten von Hardware und Software diffundiert Verantwortung. Sie nimmt einen neuen, immer ungreifbareren Aggregatzustand an.

Schreckliche Dinge geschehen, ausgelöst von Maschinen, die kein Mensch explizit angeordnet hat. Programmierer haben die algorithmische Möglichkeit dazu geschaffen (und sei es nur eine Fehlermöglichkeit). Kampfjägerpiloten folgen in Höchstgeschwindigkeitsmaschinen den Höchstgeschwindigkeitsentscheidungen der Bordrechner, die biologische Entscheidungsgeschwindigkeiten längst abgehängt haben. Auf welcher Ebene hält sich die Verantwortung versteckt, wenn etwa durch die Fehlinterpretation von Aufklärungsbildern Zivilisten getötet werden? In von Schirachs Stück hat sie artig und übersichtlich in dem Piloten Platz genommen. Die Realität aber ist komplizierter. Könnten nicht auch die Programmierer der Auswertungssoftware oder der Feuerleitsysteme schuld sein? Die Bildauswerter? Der Kommandeur, der "Feuer frei" befiehlt?

Der Pilot ist nur noch eine Stimme in einem Chor. Nichts kam dem Wunsch nach militärischer Effizienz in den letzten Jahrzehnten mehr entgegen als eine Maschine, die emotionslos und schnell in einer Befehlskette reagiert und programmgesteuert und möglichst verzögerungsfrei entscheidet: der Computer. Nun kehrt sich die kriegerische Gewissenlosigkeit in ein unangenehmes Gegenteil. Im Netz fehlt das Grundgefühl für Recht.

"Durch die Medien werden wir gelehrt, ein riesige psychologische Distanz zwischen dem, was wir machen und den Effekten, die wir damit erzielen, zu entwickeln", schrieb der Computerkritiker Joseph Weizenbaum. Schon 1977 berichtete er in seinem Buch "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft": "Im Krieg der USA gegen Vietnam wurden Computer von Offizieren bedient, die nicht die geringste Ahnung davon hatten, was in diesen Maschinen eigentlich vorging, und die Computer trafen die Entscheidung, welche Dörfer bombardiert werden sollten und welche Gebiete eine genügend hohe Dichte von Vietcongs aufwiesen, dass sie 'legitimerweise' zu Zonen erklärt werden konnten, ... über denen Piloten das Recht hatten, auf alles zu schießen, was sich bewegt."

Kill boxes heißen diese "legitimen Zonen" auch heute noch in der Sprache der Militärs. Dabei wird ein Raster über eine Region gelegt, ein einzelnes Rasterfeld – die Kill box – umfasst ein Gebiet von 55 Kilometer Seitenlänge. Flugzeuge suchen sich darin selbstständig Ziele, lassen sich diese nach Aufklärungslage zum Abschuss freigeben und feuern. Wer ist verantwortlich, falls "kollateral" Zivilisten getöten werden?

Der Geist des Militärs steckt in jedem Mikrochip, nicht nur in der ausschließlichen Befehlsform, in der jedes Anwendungsprogramm formuliert ist. Gefährlich daran ist eine forcierte Gewissenlosigkeit, die mit dem Computer einhergeht. Cyberspace als ein Raum, in dem das Recht des Rechenstärkeren regiert und Entscheidungen schneller getroffen werden, als sich Skrupel regen können. Enthusiasten in der Frühzeit des Netzes trafen ethische Übereinkünfte – eine "Netiquette" wurde vereinbart, damit auch dieser neue Raum über sittliche Kennungen verfügen sollte. Es war der Versuch der Selbsterschaffung des Netzes als ein zivilisiertes Gemeinwesen. Dann kam die Realität. (bsc)