Zwischen Web und Apps

Googles "Developer Advocate" Chris Wilson mag weder Apps von Mobilseiten noch, wenn ein Hersteller zu dominant wird. c’t sprach mit dem Entwickler des Internet Explorer über Webstandards, Push-Nachrichten, Web-Apps und die Zukunft der Browser.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Zwischen Web und Apps
Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Herbert Braun
Inhaltsverzeichnis

Am Rand der von Mozilla veranstalteten Konferenz View Source hatten wir Gelegenheit, mit Chris Wilson zu sprechen. Wilson begann seine Karriere 1993 beim damals führenden Browser Mosaic und wechselte 1995 zu Microsoft. Dort blieb er 15 Jahre, in denen er maßgeblich die Entwicklung des Internet Explorer vorantrieb. 2010 wechselte er zu Google und übernahm dort die Rolle eines "Developer Advocate". Auch beim W3C beteiligte er sich an zahlreichen Standardisierungsprojekten.

Wir sprachen mit Chris Wilson über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Web, der Browser und der Webstandards -- und in diesem Zusammenhang vor allem über Progressive Web Apps. Dabei handelt es sich um Websites, die Teile der Funktionen von installierten Anwendungen übernehmen können, insbesondere auf Mobilgeräten. So können sie etwa ihren Cache selbst verwalten, Offline-Funktionen zur Verfügung stellen oder Push-Benachrichtigungen anbieten. Kernkomponente ist dabei ein in JavaScript geschriebener "Service-Worker", der sich wie ein Proxy zwischen Client und Server schalten kann.

Chris Wilson, Entwickler des Internet Explorer und aktuell "Developer Advocate" bei Google, auf der View Source in Berlin.

(Bild: View Source)

HB: Mir gefällt die Idee progressiver Web-Apps. Als gestern auf der View-Source-Konferenz das WLAN ausfiel, staunte ich nicht schlecht, als der Browser eine Seite öffnete, die mir ein Tic-Tac-Toe-Spiel anbot ... Es ist schon ein bisschen her, dass ich erstmals von Service-Workern hörte, zwei Jahre vielleicht.

CW: Wir arbeiten schon eine Weile an Service-Workern. Die Idee war, die AppCache-Technik zu reparieren, die erste HTML5-Caching-Technik. AppCache war sehr deklarativ und nicht programmierbar, es gab einem nicht die volle Kontrolle. Es ist sehr schwer, damit zu arbeiten. Alex Russell vom Chrome-Team brachte das in Bewegung, und die anderen Browser-Hersteller schlossen sich uns frühzeitig an. Es war ein langer Weg, aber es wird jetzt vielerorts im Web eingesetzt.

HB: Es ist also ausgereift genug, dass man es in der Praxis verwenden kann?

CW: Absolut. Jeden Tag gibt es mehr und mehr Service Worker. In den Chrome-Entwicklerwerkzeugen kann man sich alle Service Worker ansehen, die im Browser installiert sind. Für mich ist es faszinierend, dort jeden Tag einen neuen zu finden. Es verbraucht ja keine Ressourcen, solange man die Seite nicht benutzt, sondern kontrolliert nur den Cache.

HB: Es scheint eine gewisse Ermüdung bei den Apps zu geben. Sie haben ja gerade in Ihrem Vortrag darauf hingewiesen, dass der durchschnittliche Smartphone-Anwender monatlich null neue Apps installiert. Ich habe den Eindruck, dass der App-Hype am Abklingen ist. Werden progressive Web-Apps Hybrid-Apps verdrängen?

CW: Ich glaube nicht, dass sie irgendwas verdrängen werden. Sie bringen eine App-ähnliche Erfahrung, wo man sie vorher nicht gehabt hätte. Von vielen Websites hätte ich keine App installiert. Immer wieder fragen mich mobile Websites verzweifelt, ob ich nicht die App installieren möchte, aber ich will nicht. Ich weiß nicht, was sie auf dem Gerät anstellen. Progressive Web-Apps sind da viel eingeschränkter, sie können nur im Hintergrund arbeiten, wenn man es ihnen explizit erlaubt, etwa für Push-Benachrichtigungen. Ansonsten laufen sie nur, wenn man auf die Website geht. Ich kann sie dem Homescreen hinzufügen, aber das heißt nicht, dass sie im Hintergrund meine Batterie leersaugen können. Bei nativen Apps kann man das nie wissen, wenn man nicht gründlich die angeforderten Rechte durchliest.

Was sich, glaube ich, langfristig ändern wird, ist die App-Economy: der App-Store als zentraler Ort für Anwendungen, das, was man unter einer App versteht. Wenn eine Website cachet, einen Offline-Modus hat und auf dem Homescreen liegt, funktioniert sie wie eine App. Ich habe keine Wahl getroffen, sie zu installieren, sondern das geschieht automatisch, indem ich die App benutze. Der App-Store für progressive Web-Apps ist das Suchmaschinen-Ranking.

HB: Progressive Web-Apps sind also eher eine Bedrohung für die Quasi-Monopole der App-Stores?

CW: Ich glaube, App-Stores werden immer noch der Ort bleiben, wo die Leute sich die beliebtesten Apps mit den meisten Features holen werden, die sie oft benutzen. Schon heute tauchen sie in den Suchtreffern auf. Ich glaube, wir kriegen das Beste aus beiden Welten.

HB: Es gibt ein fragiles Gleichgewicht zwischen dem, was eine Anwendung -- sei sie nativ, hybrid oder eine progressive Web-App -- tun kann und was vielleicht unerwünscht ist. Benachrichtigungen sind ein gutes Beispiel. Wie verhindern Sie Spam oder nerviges Verhalten?

CW: Wir halten viele Vorträge darüber, wann es okay ist, den Benutzer zu benachrichtigen. Es ist einfach, sowas schlecht zu machen, aber meine Aufmerksamkeit ist begrenzt. Als iOS Push-Benachrichtigungen einführte, habe ich sie erst mal alle abgeschaltet, weil sie mich genervt haben. Wir raten den Leuten, den Benutzer bei sowas nicht zu übergehen, sonst schadet man sich selbst -- er wird alle Benachrichtigungen abschalten. Das geht bei progressiven Web-Apps genau so einfach wie bei nativen Apps. Ein positives Beispiel ist weather.com, das viele Push-Benachrichtigungen anbietet. Aber anschalten muss sie der Benutzer, und er kann dabei aus vielen Optionen wählen -- Unwetterwarnungen, morgens die Tagesvorhersage und so weiter.

HB: Ich würde gerne über Ihre Arbeit beim W3C sprechen. Ihre Gruppe heißt ...

CW: ... Web Platform Incubator Community Group. Langer Name.

HB: Das liest sich für mich wie ein Webstandard-Labor.

CW: Ja, in etwa. Die Idee kam von Adrian Bateman, mit dem ich bei Microsoft zusammengearbeitet habe. Wir dachten, es braucht einen Inkubator für Webstandards, die sich vielleicht durchsetzen werden, vielleicht auch nicht. Wir wollten, dass Einzelne, kleine und große Unternehmen darüber ins Gespräch kommen, und zwar in einem Umfeld, das auf geistiges Eigentum achtet. Damit meine ich, dass im Vorfeld etwaige Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden.

HB: Wo ist da der Unterschied zu einer normalen Arbeitsgruppe?

CW: Sowas gab es vorher nicht. Bisher passierte viel außerhalb des W3C oder außerhalb jeder Standardisierungsorganisation -- so, wie es bei den Service-Workern war, wo die W3C-Gruppe auseinandergefallen ist und eine private Gruppe die Initiative übernommen hat, um die Idee dann wieder ins W3C zurückzubringen. Zur WICG kommen die Leute und sagen: Hey, ich habe diese Idee, möchte jemand mit mir daran arbeiten?

Andererseits hat die WICG nicht so viel Gewicht wie eine normale Arbeitsgruppe, und das im doppelten Wortsinn. Eine Arbeitsgruppe im W3C zu gründen, dauert bis zu sechs Monate. Eine neue Inkubation in der WICG braucht oft nicht länger als ein paar Minuten, höchstens wenige Tage. Es gibt vielleicht konkurrierende Inkubationen zu ähnlichen Ideen -- kein Problem, es geht darum, herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Eine Arbeitsgruppe hat den starken Druck, einen Standard zu produzieren, wir dagegen dürfen scheitern. Was sich als nützlich herausgestellt hat, sollte in eine Arbeitsgruppe gehen. So lief das zum Beispiel bei Web Payments, an denen jetzt eine Arbeitsgruppe sitzt, der wir unsere Ideen und Daten mitgaben.

HB: Arbeiten da vor allem die Browser-Hersteller zusammen, die ja schon immer gern ihre eigenen Sachen entwickelt haben, oder gibt es da auch Initiativen von Einzelnen? Ich denke da an die sonderbare Geschichte des picture-Elements, das über ein Crowdfunding zustande kam.

CW: Natürlich muss niemand den Weg über das WICG gehen, aber würde man das picture-Element heute machen, würde es vielleicht bei uns landen. Wir haben das gemacht, um den Umgang mit geistigem Eigentum zu erleichtern, mit dem sich große Unternehmen schwertun. Wenn etwa ein Microsoft-Angestellter einer neuen Arbeitsgruppe beitritt, muss das erst von der Rechtsabteilung abgesegnet werden -- wenn man sich auf einen Standard einigt, kann man am Ende nicht diejenigen verklagen, die ihn implementieren. Bei uns dagegen müssen sie kein geistiges Eigentum abtreten, solange sie nicht selbst etwas beitragen. Schlag deine Idee vor, gewinn Unterstützung im Discourse-Forum, wir öffnen ein GitHub-Repo, arbeite daran, und wenn es soweit ist, suchen wir nach einer geeigneten Arbeitsgruppe.

Was den Browser-Hersteller-versus-Community-Teil angeht: Die Idee war, es für beide Seiten einfacher zu machen. Einzelne können sich jederzeit beteiligen, die Diskussionen finden öffentlich statt, die Repos sind frei zugänglich.

HB: Progressive Web-Apps passen für mich gut in den langfristigen Trend der verschwindenden Browser. Ich muss zum Beispiel immer zweimal schauen, um herauszufinden, ob ich gerade Chrome oder Firefox geöffnet habe, weil ich sie kaum noch unterscheiden kann. Wird der Browser langfristig verschwinden und zu einer Art Laufzeitumgebung werden?

CW: Ich glaube nicht, dass der Browser je verschwinden wird. Es wird immer die Flüchtigkeit im Web geben, den Long Tail. Den erkunde ich mit dem Browser oder mit der Such-App -- die ja nichts Anderes als ein Browser ist mit Eingabefeld und Vor- und Zurück-Buttons. Wir werden weniger Zeit mit dem Browser verbringen, aber es wird ein wichtiger Anteil bleiben. Der Übergang ist nahtlos. Man kann das an der Website der Washington Post sehen, die ich als Demo gezeigt habe. Zuerst ist man im Browser, aber wenn ich die Seite vom Homescreen aus öffne, sieht sie aus wie eine App. Das heißt aber auch nicht, dass ich die Website nie wieder im Browser öffnen werde. Für die Sachen, bei denen man länger bleibt, wird die Benutzer-Erfahrung besser, bei den anderen, wo ich vielleicht nie wieder hinkomme, ändert sich nichts.

HB: Sie haben an den drei erfolgreichsten Browsern ihrer jeweiligen Zeit mitgearbeitet. Wie wird sich der Browser-Markt entwickeln -- wird Chromium in seinen verschiedenen Varianten und Implementierungen dominieren, wird Microsofts Browser verschwinden?

CW: Ich kann auch nicht in die Zukunft schauen, aber das Wichtigste für mich ist, eine Vielzahl von Implementierungen da draußen zu haben, denn das Web soll nicht von einem Hersteller dominiert werden. Wenn man sich den globalen Browsermarkt anschaut, die Entwicklungsländer, verändert sich die Perspektive auf Browser-Dominanz und Mobile versus Desktop, denn Mobile dominiert diese Märkte komplett.

Ich persönlich würde es als Scheitern ansehen, wenn Chrome der zu über 90 Prozent dominierende Browser würde. Ich glaube nicht, dass das tatsächlich passieren wird. Wir werden weiterhin verschiedene Browser sehen, weil es verschiedene Geräte gibt. Je besser diese Browser sind und je besser vergleichbar ihre Features sind, desto eher werden die Leute nach ihrem persönlichen Geschmack entscheiden. Ich hoffe wirklich, dass der Microsoft-Browser nicht verschwindet, die machen gute Arbeit, bringen viele neue Features.

HB: Aber gerade bei den mobilen Browsern ist Chromium zusammen mit Safari extrem dominant.

CW: Implementierungen der Web Platform sind teuer, und es wird nicht viele davon geben. Doch es ist Platz für viele Versionen und Optimierungen. Samsungs Browser etwa ist Blink-basierend, hat aber seine eigenen Features. Firefox und Edge sind derzeit nicht sehr stark auf mobilen Geräten, aber das heißt nicht, dass sie es nicht nächstes oder übernächstes Jahr sein könnten, oder in fünf Jahren. Microsoft hat einen schlechten Zeitpunkt für Windows Phone erwischt, aber das Surface ist immer noch beliebt. Ich glaube, dank der progressiven Web-Apps kann es für sie besser laufen, wer weiß?

HB: Zum Schluss eine etwas persönlichere Frage ... Sie haben 15 Jahre am Internet Explorer gearbeitet, und man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass es kaum jemals verhasstere Software gab. Hat Sie das irgendwie getroffen?

CW: Ich war lange Zeit ein öffentliches Gesicht für den Internet Explorer. Überraschenderweise gab es beide Sorten Leute: Die einen hielten Internet Explorer für unglaublich mies, die anderen für das Beste überhaupt. Sie haben mir beide irgendwie Angst gemacht ... Internet Explorer hatte definitiv seine Schwächen, auch strategischer Art. Zugleich gab es großartige Sachen daran. Als wir Internet Explorer 6 rausbrachten, war es der beste Browser da draußen. Ich sage das nicht, weil ich daran beteiligt war, aber zu dieser Zeit konnte da kein anderer mithalten. Damals war der "andere Browser" nicht Mozilla, sondern Netscape, und da waren wir einfach in jeder Hinsicht besser. Dann stagnierte das Projekt jahrelang, fiel zurück und wurde gehasst.

Es gab viele Dinge am Internet Explorer, auf die ich stolz bin. Ich wünsche, wir hätten mehr in die Weiterentwicklung der Web-Plattform investiert. Es war keine schlechte Erfahrung und ich musste mich nicht mit vielen Hatern herumschlagen -- jedenfalls nicht persönlich.

HB: Ich glaube, die Leute haben vergessen, wie gut Internet Explorer zu seiner Zeit war und wie viele Neuerungen er einführte. Ajax zum Beispiel ...

CW: Ich habe direkt mit dem Typen gearbeitet, der die Idee zu XHR hatte. Das war faszinierend!

HB: Herr Wilson, vielen Dank für das Gespräch! (heb)