Mut zur Verschwendung

Die Digitalisierung krempelt nicht nur die Arbeitswelt um. Sie soll die ganze Welt effizienter machen. Aber der Fetisch der Optimierung frisst unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen.

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Es soll bei Toyota immer noch Manager geben, die beim Anblick eines Kreidestücks zusammenzucken. Die Kreide war die Waffe von Taiichi Ohno – einem Mann, der aussah wie ein Buchhalter, aber die Welt der Produktion aus den Angeln gehoben hat. Mit einem Stück Kreide und einer klaren Mission: Kampf der Verschwendung.

„Gemba“ nennen die Japaner den „Ort des Geschehens“. Da, wo die wichtigen Dinge passieren. An Gemba in der Produktionshalle soll Ohno, der Erfinder der „Lean Production“, regelmäßig Kreise aus Kreide gezogen haben. In den Kreis musste sich ein Manager stellen, der nicht effizient genug war. Die Aufgabe: 30 Minuten in diesem Kreis stehen und genau hinsehen. Dabei sollte der betreffende 30 Punkte finden, die man verbessern kann – und die Lösung für den ersten Punkt schon mal skizzieren.

„Muda“, Verschwendung, zeigte sich für Ohno in sieben Facetten: Überproduktion, zu hohe Bestände, Wartezeit, Transport, unnötige Bewegung, schlechte Bearbeitung und unnötige Nacharbeit. „Kosten sind nicht dazu da, um berechnet zu werden“, predigte Ohno. „Kosten sind dazu da, um reduziert zu werden.“ Effizienz war sein oberstes Ziel, Daten seine Waffe – lange bevor Big Data in aller Munde war. Alles, was sich zählen und messen lässt, kann man vergleichen. Alles, was man vergleichen kann, kann man optimieren.

Eric Schmidt braucht keine Kreide, der ehemalige Google-Chef kann auf die mächtigste IT-Infrastruktur der Welt zugreifen. Aber seine Mission ist der von Ohno verblüffend ähnlich: die Welt effizienter zu machen. In seinem zusammen mit Jared Cohen entwickelten Zukunftsszenario „Die Vernetzung der Welt“ umreißt Schmidt gleich zu Beginn das zentrale Thema: „Die neuen virtuellen Handlungsspielräume sorgen dafür, dass vieles in der physischen Welt effizienter wird“, schreiben die Autoren. „Wenn die digitale Vernetzung die entlegenen Winkel der Erde erreicht, werden immer neue Nutzer zahlreiche ineffiziente Märkte, Systeme und Vorgehensweisen optimieren können, in den reichsten Ländern genauso wie in den ärmsten. Das Resultat sind erhebliche Effizienz- und Produktivitätssteigerungen, vor allem in Entwicklungsländern. Hier werden die Menschen mit weniger Aufwand bessere Ergebnisse erzielen.“

Fischerinnen im Kongo beispielsweise könnten Mobiltelefone dazu nutzen, um den Fisch erst dann aus dem Wasser zu holen, wenn er tatsächlich bestellt wird. „Sie benötigen keine teuren Kühlschränke, niemand muss nachts auf das Gerät aufpassen, der Fisch verdirbt nicht – und vergiftet damit auch keine Kunden mehr“, heißt es bei Schmidt und Cohen. „Außerdem wird auf diese Weise die Gefahr der sinnlosen Überfischung gebannt. Die Fischerinnen können ihren Markt außerdem ausbauen, wenn sie andere Fischer in der Umgebung einbeziehen und sich mit ihnen per Telefon absprechen.“

Die Argumentation klingt bestechend: Für eine Fischerin im Kongo sind effizientere Märkte ohne Zweifel ein Segen. Und es gibt ganz bestimmt auf dieser Welt einen großen Haufen ineffizienter Organisationen, ineffizienter Märkte und ineffizienter Prozesse, deren Optimierung für sehr viele Menschen das Leben ein ganzes Stück besser machen würde. Inzwischen aber droht Effizienz zu einem Wert an sich zu werden, zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Antriebsmechanismus. Die wesentliche Frage, was eigentlich warum optimiert werden soll, entfällt. Damit steht die wichtigste Grundlage unserer Wirtschaft auf dem Spiel: neue Ideen. Zu viel Effizienz tötet Innovation.

„Unsere Gesellschaft wird immer stärker durch Algorithmen gesteuert“ sagt Dirk Helbing von der ETH Zürich. „Google, Apple und Facebook arbeiten an einem Betriebssystem für die Gesellschaft.“ Aber die grundsätzlichere Frage, welche Funktion dieses System erfüllen soll, werde weder aktiv gestellt noch beantwortet. Die Internationale der Solutionisten verspreche zwar ein besseres, effizienteres, optimiertes Zusammenleben. „Aber was genau soll optimiert werden?“, fragt Helbing. „Das Bruttosozialprodukt? Die Lebenserwartung? Das allgemeine Glück?“ Und selbst wenn die Digitalkonzerne dieses Versprechen einlösen könnten, bliebe eine fatale Abhängigkeit. „Wenn man mit den Zielen einer Firma nicht einverstanden ist, dann beauftragt man eben eine andere. Aber wenn es nur einen Weg gibt, den der Optimierung, dann gibt es keine Alternativen mehr“, sagt Helbing. „Diese Art der Steuerung macht uns alle zu Robotern.“

Kaum einer kann davon so kundig sprechen wie Bill Janeway. Der Wirtschaftswissenschaftler hat 35 Jahre im Silicon Valley bei einer privaten Beteiligungsgesellschaft gearbeitet, die 40 Milliarden Dollar Kapital verwaltet. 2006 kehrte er wieder an die Universität zurück. „Just zu einer Zeit, als die Wirtschaftswissenschaften wieder interessant geworden sind“, sagt Janeway. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch zusammengefasst, das ihm nicht nur Freunde gemacht hat. In „Doing Capitalism in the Innovation Economy“ bricht Janeway mit diversen ökonomischen Lehrsätzen. Seine erste Kernthese lautet: Bahnbrechende technische Entwicklungen, echte disruptive Innovationen, sind ohne Verschwendung nicht möglich. „Innovation bedeutet Versuch und Irrtum, Irrtum und Irrtum.“ Forschungsvorhaben, die scheitern, Zeitpläne, die nicht eingehalten werden, Ideen, die sich als nutzlos herausstellen – all die Verschwendung, die klassische Ökonomen schaudern lässt, eröffnet am Ende neue Möglichkeiten.

(wst)