Virtueller Patient: Nebenwirkungen sind digital

Der Genetiker Hans Lehrach setzt sich für virtuelle Patienten ein, um die Behandlung realer Personen zu verbessern. Damit könnten Ärzte das wirksamste Medikament für den jeweiligen Patienten herausfinden.

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Von
  • Susanne Donner
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Bei Zahnbürsten und Autos ist die Simulation vor der Produktion längst selbstverständlich. Nicht so bei Medikamenten. Ein fataler Missstand und ein Auslaufmodell, findet Hans Lehrach, Genetiker und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin. Künftig werden Pharmaunternehmen ihre potenziellen Arzneien zunächst an digitalen Patienten testen, schilderte er beim "Innovators Summit Digital Health" in Berlin am 30. November 2016. Ärzte werden den virtuellen Kranken auf Knopfdruck verschiedene Tabletten einverleiben, damit sie ihrem Patienten anschließend die wirksamste und schonendste Therapie geben können. Das wäre freilich eine Kernsanierung der Pharmabranche und der Gesundheitsversorgung.

Bei Krebs hat Lehrach seinerzeit am Max-Planck-Institut und heute in einer Ausgründung namens Alacris Theranostics vorgemacht, wie die digitalen Medikamententests funktionieren. Einer Patientin mit Hautkrebs etwa, die bereits Metastasen hatte, konnte er helfen. Dazu speiste er das Netzwerk ihrer Krebszellen samt 21.000 Krebsgenen und Tausenden Proteinen, die sein Unternehmen zuvor dechiffrierte, in ein Computermodell ein. Die Technik dafür ist längst da. Dauerte die Entzifferung des ersten menschlichen Genoms noch dreizehn Jahre, können die Wissenschaftler heute auf einem Gerät 18 Genome gleichzeitig zu rund Tausend US-Dollar auslesen. Bis zu 200 Medikamente kann Lehrach dann in seinem Simulationsprogramm am individuellen Krebs testen. Zwei Arzneien versprachen der Frau zu helfen. Eines davon war für Rheuma zugelassen. Über acht Monate lang schwanden damit tatsächlich die Metastasen bei der Patientin, berichtet Lehrach auf dem Kongress. Leider erlag die Frau dann aber den Folgen der vorausgegangenen aggressiven Behandlung.

Der Fall macht eines deutlich. Wenn Ärzte und Firmen Medikamente zuerst dem digitalen Patienten geben, können sie sofort die wirksamste Arznei heraussuchen. Und wenn sie die Computermodelle nutzen, ehe sie Tierversuche oder klinische Studien auflegen, können sie schneller zu besseren Medikamenten kommen. Bis zu zwölf Milliarden US-Dollar geben Pharmafirmen heute pro klinische Studie aus, errechnete Lehrach: "Das erwartete Ergebnis ist dann auch noch das Scheitern. Nur ganz wenige Arzneikandidaten kommen tatsächlich auf den Markt." Ein erfolgreiches Medikament bringt dann – zumindest bei Krebs – oft nur ein paar Lebenstage mehr.

Wer seine Tabletten zuerst im Computer testet, kann die Auswirkungen wie beim Wetter vorher wissen. Die Ineffizienz der Gesundheitsversorgung ließe sich damit laut Lehrach an der Wurzel packen: Die zehn meistverkauften Medikamente in den USA helfen derzeit beispielsweise nur bei vier bis fünfundzwanzig Prozent der behandelten Patienten, beschrieb der Genetiker in einer Veröffentlichung im Fachblatt Nature im vergangenen Jahr. Schlimmer noch, einige erleiden schwere Nebenwirkungen. Rund 200.000 Menschen sterben daran jährlich. Diese Kollateralschäden der derzeitigen Medikamentenversorgung summieren sich alleine in der EU zu 4,5 Milliarden Euro pro Tag und steigen drastischer als das Bruttosozialprodukt, mahnt Lehrach. Die Modellierung des Menschen und digitale Medikamententests sind für ihn deshalb der zwingende und logische Ausweg.

(jle)