Der Futurist: Pädagogisch wertvoll

Was wäre, wenn Roboter unsere Kinder erziehen würden?

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Als Mattel 2015 die erste Barbie mit Spracherkennung herausbrachte, schwor sich Inga, ihren künftigen Kindern so etwas nie, nie, nie zu schenken. Elektroschrott! Datenschutz-Desaster! Und überhaupt: Man kann das Reden mit seinem Kind doch nicht an eine Maschine delegieren!

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Sechs Jahre später kam ihre Tochter Wilhelmina zur Welt und schrie und schrie und schrie. Befreundete Eltern empfahlen die Hilfe von "Mary Poppins" – einer kleinen Roboter-Nanny von Vorwerk, die es faustdick hinter den Mikrofonen hatte. Ihre Kameras und Sensoren erfassten sämtliche Lebens-äußerungen des Kindes: Stimmung, Schlaf, Ernährung, Bewegung. Alle Daten flossen in einen selbstlernenden Algorithmus in der Cloud, an dem führende Pädagogen mitgearbeitet hatten. So konnte die Nanny jederzeit pädagogisch wertvoll reagieren oder den Eltern evidenzbasierte Erziehungstipps geben.

Anfangs sträubte sich Inga noch. Doch ein paar durchschrieene Nächte später überließ sie dem digitalen Kindermädchen das Feld. Dieses tat nichts anderes, als Wilhelmina ein Schlaflied vorzusingen, so wie es Inga selbst schon tausendmal vergeblich versucht hatte. Doch diesmal schlief Wilhelmina friedlich bis in den späten Morgen.

Fortan wurde Mary Poppins zur erzieherischen Vielzweckwaffe. Essen, schlafen, spielen, tanzen, singen, aufs Töpfchen gehen – ohne die Nanny lief nichts mehr. Schnell gab Inga es auf, hinter das pädagogische Geheimnis von Mary Poppins kommen zu wollen. Oft waren ihre Tipps völlig rätselhaft – etwa bei Trotzanfällen das Licht um genau 23 Prozent zu dimmen. Doch sie funktionierten, warum auch immer.

Dank regelmäßiger Updates und neuer Klamotten begleitete Mary Poppins Wilhelmina durch die gesamte Kindheit. Sie half bei den Hausaufgaben und informierte die Eltern über die schulischen Leistungen.

Schleichend bemerkten die Eltern irgendwann eine gewisse Entfremdung zwischen Wilhelmina und Mary Poppins. Erstere wurde launisch und reizbar, letztere schien ihr pädagogisches Händchen verloren zu haben. Andere Kunden der ersten Generation berichteten von ähnlichen Problemen.

Dann bekam Inga eine Nachricht vom Hersteller. "Ihr Kind kommt nun in die Pubertät", las sie. "Wegen der damit verbundenen Komplexität …" Inga überflog den Rest. "… anerkanntes Expertenteam … völlig neu konzipierte Interaktionskonzepte … integrierte Mode-, Dating-, Musik- und Shopping-Assistenten … Safer-Sex-Modul …" Endlich kam das Schreiben auf den Punkt: "… sehen uns daher leider gezwungen, für das anstehende Update 20000 Euro in Rechnung zu stellen."

Ingas erste Reaktion: Frechheit! Nie im Leben bezahle ich das! Wir können unser Kind schließlich immer noch selbst erziehen! Doch eines schönen Sonntagnachmittags, kurz nach ihrem 13. Geburtstag, tat Wilhelmina kund, ein Tanzcafé besuchen zu wollen. Ganz allein. Nur in Begleitung ihrer Freundinnen. Und ein paar Jungs, natürlich.

Jungs? Das Stichwort war zu viel für Inga. Wie sollte sie je wieder Ruhe finden? Sie erinnerte sich mit Schaudern an ihre eigene Pubertät – all das ganze Liebesleid, der ganze Weltschmerz. Wollte sie ihre Tochter wirklich ohne technische Unterstützung in dieses Gefühlsgewitter schicken wie alle Generationen zuvor?

Mit zittrigen Fingern gab sie ihre Kreditkartennummer ein, bestellte das Update und gleich noch neue Nanny-Hardware in Form einer stylischen Umhängetasche. Wilhelmina maulte noch etwas, doch dann fügte sie sich. Sie kannte es ja nicht anders. Und Inga konnte abends den Regler für den Gouvernantenfaktor endlich wieder bis zum Anschlag nach rechts ziehen – und beruhigt einschlafen. (grh)