Wer will schon eine Selbstmordwelle?

Prominente Selbstmörder in Kunst und Realität fanden in der Vergangenheit immer wieder viele Nachahmer. Ein transparenterer, zupackenderer Umgang mit psychischen Krisen könnte da Abhilfe schaffen.

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Von
  • Inge Wünnenberg

Seit der Veröffentlichung von Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers" 1774 geht das Gespenst des Werther-Effekts um. Für die damalige Zeit gilt das Phänomen zwar als nicht sonderlich gut dokumentiert. Aber Mitte der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zum Beispiel stellte der US-Soziologe David Philipps einen Zusammenhang zwischen den Selbstmorden prominenter Persönlichkeiten und dem Anstieg der Suizidraten in der Bevölkerung fest. Ein Beispiel war zum Beispiel die Suizidwelle nach dem Tod Marilyn Monroes. Ein ähnlicher Effekt wurde Anfang der Achtziger nach der Ausstrahlung der ZDF-Serie "Tod eines Schülers" auch in Deutschland beobachtet; vom ZDF damals in Auftrag gegebene Studien bestätigten das Phänomen.

Deshalb wird derzeit von den Medien wie etwa dem Ärzteblatt sorgsam beobachtet, welche Auswirkungen die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" (im Original: "13 Reasons Why"), eine Produktion des Streamingdienstes Netflix, auf die jugendlichen Zuschauer zeitigt. Eine in den Vereinigten Staaten in diesem Frühjahr nach der Erstausstrahlung der Produktion durchgeführte und jetzt online veröffentlichte Studie in JAMA Internal Medicine deutet zumindest auf ein gesteigertes Interesse am Thema Suizid hin: John Ayers und sein Team von der San Diego State University stellten fest, dass die Google-Suchen in den 19 Tagen nach der Veröffentlichung der Serie rund um den Begriff "Selbstmord" um 19 Prozent höher lagen als im Zeitraum zuvor.

Als Konsequenz legen die Forscher den Serienmachern und Streamingdienstbetreibern nahe, den Empfehlungen der Weltgesundheitsbehörde zu folgen. Denn die WHO hält es etwa für schädlich, den Suizid selbst zu zeigen. Eine Empfehlung, die bei "Tote Mädchen lügen nicht" bisher keine Berücksichtigung fand. Die Wissenschaftler weisen zudem darauf hin, dass Medienberichte von Selbstmorden bei Prominenten ebenfalls mit erhöhten Suiziraten einhergehen, dem Werther-Effekt also. Gerade in den vergangenen Monaten wurde der Tod des "Soungarden"-Sängers Chris Cornell bekannt, der sich am 17. Mai erhängte, und des "Linkin Park"-Frontmanns Chester Bennington, der es am Geburtstag von Cornell am 20. Juli seinem Freund gleich tat.

Zum Glück aber gibt es auch andere Beispiele. So berichtet die Onlineplattform STAT aus dem Boston Globe Konzern positiv über den Sänger Justin Bieber, der seine Welttournee mit Rücksicht auf sein "Herz" und seine "Seele" abgebrochen hat. Sehr offen ging zum Beispiel auch die inzwischen verstorbene US-Schauspielerin Carrie Fisher mit ihrer bipolaren Störung um. Insgesamt 55 Prominente ließ die Zeitschrift Glamour auf ihrer britischen Webseite in diesem Frühjahr über ihre Depressionen, ihre Ängste und ihre geistige Gesundheit berichten – darunter die Schriftstellerin J.K. Rowling oder die "Girls"-Macherin Lena Dunham.

Diese offene Atmosphäre ist als großer Fortschritt zu begrüßen. Denn sie führt zum einen weg von einer falschen Glorifizierung des Selbstmords, indem sie die (nicht unlösbaren) Probleme der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Zum anderen aber zeigen eine solche Berichterstattung und auch die Statements der Promis selbst, wie sich Menschen ihren Schwierigkeiten stellen können. Damit weisen sie einen anderen Weg. Sich aktiv mit den eigenen Herausforderungen zu beschäftigen, nach außen offen damit umzugehen und sich vor allem Hilfe zu suchen, ist eine gangbare Alternative. (inwu)