Die Qual mit dem Original

Weil alle alles selber sehen wollen und jeder überall hinwill, sieht keiner mehr irgend etwas außer Touristen.

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Von
  • Peter Glaser

"Das Internet hat mir gezeigt, dass ich in meinem ganzen Leben noch keine Originalidee hatte", schreibt ein enttäuschter Zeitgenosse auf Twitter. Die Weltwissensmasse liegt nun unter der Google-Lupe, und immer mehr von allem seit Jahrtausenden Gedachten und Geschriebenen tritt gedankenblitzschnell an, um mich, das Individuum, außer Konkurrenz zu stellen. Wozu mir gleich wieder etwas einfällt, zwar auch keine Originalidee, aber eine vormalige Aktivversion des Wissensweltverdrusses, nämlich, dass nur die schlechten Musiker dort klauen, wo man's gleich hört, die guten jedoch bei Bands, die keiner kennt. Mit einer App wie Shazam, monatlich von mehr als 100 Millionen Menschen genutzt, lassen sich inzwischen aber auch musikalische Ideen im Handumdrehen identifizieren.

Das mit dem Original und seinem Kontrapunkt, der Kopie, hat sich im digitalen Zeitalter bereits auf bedeutende Weise verändert, denn digital gibt es nur noch Originale. Der Kopie aus der analogen Ära haftete stets eine Abschwächung an, eine Qualitätsminderung, ein Verblassen. Eine digitale Vervielfältigung dagegen ist entweder identisch mit dem Original oder defekt. Das einzig Vorrangige, worauf sich so etwas wie ein Original noch berufen kann, ist der Zeitpunkt seines Entstehens.

Dabei ist das Kopieren eine außerordentlich erfolgreiche Evolutionsstrategie. Der Frühmensch hat den Bären imitiert, der wusste, wie man an den Honig kommt. Der Jetztmensch setzt das mit technischer Hilfe fort und nennt es Bionik. Wobei man fast den Eindruck haben könnte, als ob es eine speziell europäische Angst gibt, unoriginell zu sein. Sie verwechselt Eitelkeit mit Individualität und verschwendet viel Schaffenskraft, um zu verbergen, wo ihre Ideen wurzeln. Am liebsten sollen sie aus dem Nichts erschienen sein. Ein Japaner wird – aus Höflichkeit nur innerlich – den Kopf schütteln, wenn ein Europäer ihm das gründlichstmögliche Kopieren als Originalitätsdefizit unterstellt, statt zu erkennen, dass er eine Sache so gut es nur geht zu verstehen versucht. "Alle wissen immer schon alles", beschreibt der Fotograf Sebastian Kusenberg die gläsernen Sphären, in die viele sich einschließen und trotzdem meinen, sie wären offen für Neues. Da ist diese Hoffnung auf etwas, das noch keine Geschichte hat. Das noch nicht mit dieser Welt in Berührung gekommen ist. Philosophen nennen es "Emergenz", etwas, das sich aus nichts Bekanntem herleiten lässt. Aber wer plündert die Erde? Es sind die Gegner der Kopie, die wegen einer Originalanmutung alles überrennen. Weil alle alles selber sehen wollen und jeder überall hinwill, sieht keiner mehr irgend etwas außer Touristen.

Das Internet ist der umfassende Beweis dafür, dass Originalität keine Idee allein bedeutet, sondern dass nicht nur die Geräte, sondern auch die Ideen miteinander verbunden sind. Die Entwicklung der Welt beruht nicht auf ehernen Originalen, sondern auf dem Kopierprinzip. Evolution ist nur möglich durch kleine und kleinste Veränderungen an der jeweils nachfolgenden Generation. Ohne Fehler, die keine sind, geriete der ganze Artenreichtum in eine Sackgasse. Und wenn Entwicklung abhängig ist von den kleinen Unterschieden beim Kopieren, dann kann die digitale Kopie in ihrer Perfektion vielleicht zu einem gefährlichen Stillstand führen. (bsc)