Das Gestern ist wieder da

Altes in neuem Gewand ist in der digitalen Welt keine Seltenheit. Aber es ist ein wenig wie mit einem Porsche im Stau – schneller stehen geht nicht.

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Von
  • Peter Glaser

Als die Entwickler beim britischen "Guardian" über künftige Formen des journalistischen Geschichtenerzählens, des Storytelling, berichteten, gab es eine interessante Randbemerkung. "Wir beobachten, dass ein beträchtlicher Prozentsatz mobiler User unsere Videos ohne Ton anschaut." Der Stummfilm ist wieder da. In kurzen Streifen, ganz wie am Anfang der Kinematographie auf dem Rummelplatz – nur dass das Kino inzwischen in eine Jackentasche paßt. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich den Fernseher immer eingeschaltet hatte, allerdings ohne Ton, das war in der Hochphase der Musiksender. Nicht gerade ein Kompliment für die Musik, wenn man sie tonlos hört, aber fernsehen ohne Ton ist eine der letzten intellektuellen Herausforderungen, die das Medium noch zu bieten hat. Nur die Bilder zu sehen, ohne Erläuterndes, und schon daran möglichst zu erkennen, worum es geht.

Das Phänomen, dass sich Altes in neuem Gewande präsentiert, ist in der digitalen Welt keine Seltenheit. In den Anfängen, als man noch mit sogenannten Homecomputern hantierte, galt die Computergrafik als spektakuläre Möglichkeit dieser Zukunftsmaschinen. Mathematische Tiefbohrungen in psychedelisch geformte Fraktale wie Benoit B. Mandelbrots berühmtes Apfelmännchen ("Was bedeutet das B. in Benoit B. Mandelbrots? Benoit B. Mandelbrot.) oder schwebende, spiegelnde Kugeln zeigten anstatt der erwarteten Augenblicksgeschwindigkeit jedoch noch wesentlich längere Ergebniswartezeiten als die alten Plattenkameras der Photographie-Pioniere aus der Zeit, in der es in Aufnahmestudios noch Rücken- und Nackenstützen gab, damit während der oft minutenlangen Belichtungszeiten kein verwackeltes Menschenbild entstand.

Auch die Wahrnehmung, dass Rechner beim Einschalten seit Jahren immer langsamer werden – da sie mit immer mehr Software-Ballast beladen werden, der beim Start erst mühsam aus dem tiefen Speicherbrunnen hochgekurbelt werden muß –, ist Nutzern nicht fremd. Knipste man in den Achtzigerjahren einen C-64 an, den VW-Käfer unter den Homecomputern, meldete der sich augenblicklich bereit, indes man sich heute während des Bootens erstmal einen Kaffee holen kann. Zwar werden die Rechner durchaus auch schneller, aber oft auf eine Weise, die an einen Porsche im Stau erinnert: Schneller stehen geht nicht.

Es ist die Geschwindigkeitsverheißung, die wir aus der Fernsehwerbung von Gemüsehobeln und Kombinationskochgeräten kennen: Spart Zeit! E-Mails, Tweeta und Facebook-Statuszeilen zu verschicken bedeutet: kein Weg zum Briefkasten mehr, zack! und weg. Aber der Mensch, der Mails beantworten soll, wird durch Computer auch nicht schneller, es wird nur schwieriger, sich auszureden, warum man nicht gleich geantwortet habe.

Ein Entwicklungshelfer berichtete von einem Dorf in Afrika, dem der Fortschritt gebracht werden sollte, indem die Frauen nicht mehr eine Stunde hin und eine zurück unterwegs sein sollten, um Wasser nach Hause zu bringen. Ein Brunnen wurde erfolgreich mitten im Dorf gebohrt – und die Helfer wunderten sich über den Unmut der Frauen. Wie sich herausstellte, war ihnen die Zeit, die sie gemeinsam auf dem Weg zum Wasser miteinander verbracht hatten, genommen worden. Zeit, die nur ihnen gehört hatte.

Das Inbild der modernen Zeitparadoxien aber ist der Programmierer. Oft Monate oder Jahre tüftelt er an seinem Code-Konvolut – das alles für einen Sekundenbruchteil, in dem der Algorithmus schließlich abläuft.

(bsc)