Das Märchen vom Gehirn als Computer

Eine Maschine, die von einem Programmierer angewiesen wird, "Ich" zu sagen, hat deshalb noch lange kein tatsächliches Ich.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 17 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Die Analogie, das Gehirn arbeite wie ein Computer, hat weder etwas mit tatsächlichem Wissen über das Gehirn zu tun, noch mit der menschlichen Intelligenz oder einem persönlichen Selbst. Es ist eine moderne Metapher.

Die Versuche, zeitgemäße Vergleiche heranzuziehen, um zu verstehen, was die Funktionsweise des menschlichen Geistes respektive des Gehirns ausmacht, sind schon sehr alt. Erst nahm man an, der Mensch werde aus Lehm geformt und ein Gott hauche ihm seinen Geist ein. Später fand man an einem hydraulischen Modell Gefallen – die Vorstellung, dass der Fluss der "Säfte" im Körper für das körperliche und geistige Geschehen verantwortlich ist. Als im 16. Jahrhundert Automaten aus Federn, Zahnrädern und Getrieben gebaut wurden, kamen Denker wie der französische Philosoph René Descartes auf die Idee, dass Menschen komplexe Maschinen seien.

Die Elektrizität gab der Geistesmetaphorik ganz neuen Schwung. Mitte des 19. Jahrhunderts verglich der deutsche Physiker Hermann von Helmholtz das Gehirn mit einem Telegrafen. Der Mathematiker John von Neumann konstatierte, dass die Funktion des menschlichen Nervensystems digital sei und zog immer neue Parallelen zwischen den Bestandteilen der damaligen Rechenmaschinen und den Komponenten des menschlichen Gehirns.

Aber noch niemand hat eine Speicherbank im Gehirn gefunden, die auch nur annähernd so funktioniert wie der Datenspeicher eines Computers.

Von den Forschern im Bereich der Künstlichen Intelligenz sind heute die wenigsten beunruhigt von der Vorstellung einer machthungrig durchstartenden Superintelligenz. "Die ganze Community ist weit davon entfernt, irgendetwas zu entwickeln, das die Öffentlichkeit beunruhigen könnte", beschwichtigt Dileep George, Mitgründer des KI-Unternehmens Vicarious. "Als Wissenschaftler sind wir verpflichtet, die Öffentlichkeit über den Unterschied zwischen Hollywood und der Realität aufzuklären."

Bei Vicarious, das 50 Millionen Dollar unter anderem von Mark Zuckerberg und Jeff Bezos eingesammelt hat, arbeitet man an einem Algorithmus, der wie das Wahrnehmungssystem des menschlichen Gehirns funktionieren soll – ein überaus ehrgeiziges Ziel. Die größten künstlichen Neuronalen Netze, die heute in Computern in Betrieb sind, haben rund eine Milliarde Querverbindungen, das Tausendfache dessen, was noch vor ein paar Jahren möglich war. Im Vergleich zum Gehirn ist das aber immer noch verschwindend wenig. Es entspricht etwa einem Kubikmillimeter Hirngewebe. Auf einer Tomografie wäre das weniger als ein Voxel, die dreidimensionale Entsprechung eines Pixels.

Das zentrale Problem der KI ist die Komplexität der Welt. Um damit umzugehen, ist ein neugeborener Mensch bereits mit evolutionär weitergereichten Potenzialen ausgestattet – mit seinen Sinnen, einer Handvoll Reflexen, die für sein Überleben wichtig sind, und, vielleicht am wichtigsten, mit leistungsfähigen Lernmechanismen, die es ihm ermöglichen, sich schnell zu verändern, so dass er mit seiner Welt immer besser interagieren kann, auch wenn diese Welt ganz anders ist als die seiner fernen Vorfahren.

Der Computer dagegen kann nicht einmal bis Zwei zählen. Er kennt nur Null und Eins und versucht es mit einer Mischung aus Dummheit und Geschwindigkeit, vielleicht noch mit Faustregeln, sogenannten Heuristiken, und einer Menge anspruchsvoller Mathematik. Um aber auch nur die Grundlagen zu verstehen, wie das Gehirn den menschlichen Intellekt betreibt, müssen wir womöglich nicht nur den aktuellen Zustand aller rund 86 Milliarden Neuronen und ihre 100 Billionen Verbindungen kennen, nicht nur die unterschiedlichen Intensitäten, mit denen sie verbunden sind, und nicht nur die Zustände von mehr als tausend Proteinen, die an jedem Verbindungspunkt existieren, sondern auch, wie die jeweils augenblickliche Aktivität des Gehirns zur Integrität des Gesamtsystems beiträgt.

Hinzu kommt die Einzigartigkeit jedes Gehirns, die auf die Einzigartigkeit der Lebensgeschichte jedes Menschen zurückzuführen ist. Das Gehirn arbeitet nicht wie ein Computer. Den Versuchen, es zu verstehen, steht diese Metapher im Weg.

(bsc)