"Es wirkte wie blinde Raserei"

Bild: Medienkollektiv Wendland

Die Lüneburger Polizei meldet vor dem Pfingstwochenende einen "Angriff" auf einen Polizisten und seine Familie und fordert, dieser Heimsuchung "gesamtgesellschaftlich entgegenzutreten". Die Geschichte ist in weiten Teilen erfunden

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Rund 60 Teilnehmer einer unangemeldeten Kundgebung wurden am 18. Mai in Hitzacker von vermummter Polizei ohne Vorwarnung geschlagen, schikaniert und über fünf Stunden in einem Polizeikessel festgehalten. Zur Begründung schrieb die Polizeiinspektion Lüneburg, die Aktivisten hätten das Wohnhaus eines Polizeibeamten "heimgesucht".

Tatsächlich handelte es sich um ein musikalisches Stelldichein vor dem Haus des Polizisten Olaf H, dem obersten Staatsschutzbeamten der Region Lüchow-Dannenberg. Seit vielen Jahren ist H. für Repressalien gegen örtliche Aktivisten bekannt, sein Vorgehen wirkt manchmal wie eine persönliche Abrechung. In vielen Medien wurde der Protest vor seinem Haus unter Berufung auf die Polizei als "neue Qualität der Gewalt" berichtet, die Tageszeitung "Welt" bebilderte ihren Artikel mit einem alten Symbolbild steinewerfender Vermummter. Gegen die Betroffenen wird jetzt wegen Landfriedensbruch, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Hausfriedensbruch, Bedrohung, Beleidigung, Diebstahl und Widerstand ermittelt. Wir haben dazu mit einem Teilnehmer der Aktion gesprochen. Seine Identität ist uns bekannt.

Einen "Angriff" auf das Haus eines Polizisten in Hitzacker meldete die Lüneburger Polizei am vergangenen Samstagmorgen. Die Meldung setzte eine Kaskade von Falschmeldungen in Gang, die in zahlreichen Medien und rechten Internetportalen kursierten. Was genau ist denn passiert?

Aktionsteilnehmer: In einer Gruppe von rund 60 Personen spazierten wir gegen 20 Uhr vor das Wohnhaus des obersten Staatsschutzbeamten Olaf H. in Hitzacker. Der war anscheinend nicht zu Hause, dass seine Familie sich dort aufhalten könnte, war uns bewusst. Vor dem Haus wurde eine Flagge der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ gehisst und zwei Wimpel (einer der Volksverteidigungseinheiten YPG und einer in anarchistischem schwarz-rot) an die Garage getackert. Eine halbe Stunde lang spielte der Zusammenschluss "Rotzfreche Asphaltkultur" ein paar Lieder, Menschen sangen und tanzten, einige vermummten ihr Gesicht. Diese Szenen sind auch auf dem nun veröffentlichten Video zu sehen. Zwischendurch riefen die Anwesenden Parolen.

Die Aktion dürfte auch Leute aus der Nachbarschaft aufgeschreckt haben. Wie haben die reagiert?

Aktionsteilnehmer: Die einzigen Unbeteiligten, die sichtbar waren, waren Anwohner eines Hauses nebenan. Sie begrüßten die Aktion, deren Kinder tanzten mit uns und fragten, ob wir nicht nächstes Mal zu ihnen kommen könnten.

Wann hat sich die Polizei blicken lassen?

Aktionsteilnehmer: Ein Streifenwagen kam nach etwa einer Viertelstunde. Zwei Beamte gingen erst in das Haus und postierten sich dann davor. Es gab keinerlei Kommunikation mit uns, auch nicht seitens der Familie, die Situation wirkte auch nicht bedrohlich. Nach einer halben Stunde war die Aktion zu Ende, alle gingen zurück in Richtung ihrer Autos.

Die Elbe-Jeetzel-Zeitung meinte zu wissen, die "maskierten Angreifer" hätten das Grundstück des Beamten gestürmt. In dem nun veröffentlichten Video der Aktion ist davon nichts zu sehen.

Aktionsteilnehmer: Nein, das Gelände, das übrigens nicht eingezäunt ist, war uns egal. Es ist auch nichts kaputt gegangen, außer vielleicht Tackernadeln im Carport.

Die Polizei schreibt, es sei zu "Handgreiflichkeiten und Widerstandshandlungen" gekommen. Das ging dann von den Beamten aus? Wie genau lief der Übergriff ab? Es heißt, auch am Boden liegende Personen seien getreten worden ...

Aktionsteilnehmer: Auf dem Rückweg zu den Autos wurden wir von einer Oldenburger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) gestoppt. Ein halbes Dutzend Wannen hielten abrupt, heraus sprangen Beamte mit Helmen, vermummt und teilweise mit gezogenen Schlagstöcken. Ohne Vorwarnung wurden wir so heftig zu Boden geschubst und angeschrien, dass sich kaum jemand traute wieder aufzustehen.

Vielen von uns ist Polizeigewalt nicht unbekannt, trotzdem waren die meisten überrascht von der Brutalität und Aggressivität. Alle wurden unter Gewalteinwirkung oder Androhungen gezwungen, auf dem Bauch zu liegen. Es gab Schmerzgriffe, Schläge und zahlreiche verbale Drohungen. Wer aufstand, wurde umgeworfen und auf dem Boden liegend getreten und geschlagen. Es wirkte wie blinde Raserei. Auf diese Weise gelang es den Einsatzkräften (ich habe 36 Beamte gezählt), eine in etwa doppelt so große Anzahl von uns unter Kontrolle zu bringen. Der einzige nicht vermummte und behelmte Polizist war übrigens der besagte Staatsschützer H., der Menschen drohte, sie einschüchterte und am Boden liegende Menschen wahllos trat.

Anschließend gab es einen mehrstündigen Polizeikessel …

Aktionsteilnehmer: Einige Personen wurden mit Handfesseln fixiert, nach und nach alle in einen Kessel gebracht. Aufstehen war verboten, Getränke kamen erst nach rund drei Stunden. Aufs Klo durfte man nach Vorzeigen des Personalausweises nur in Begleitung und auch das erst nach drei Stunden. Von dem Übergriff gibt es soweit wir wissen übrigens keine Aufnahmen. Seitens der Polizei wurde aber gefilmt.

Gab es auch im Kessel Polizeigewalt?

Unser Anwalt wies die Polizei erfolglos auf die Rechtswidrigkeit des Kessels hin, denn es gab keine richterliche Anordnung. Erst nach etwa einer Stunde meldete sich eine Einsatzleiterin, die wir vorher noch nirgends gesehen hatten, und informierte uns, warum wir festgehalten werden. Nach und nach wurden wir aus dem Kessel geführt und fotografiert, durchsucht und unsere Personalien aufgenommen. Das dauerte bis drei Uhr nachts. Während der ganzen Zeit wurden wir von der Polizei schikaniert und provoziert.

Auch die Rettungssanitäter, die kurz nach der Einkesselung eintrafen und die Verletzten versorgen sollten, haben uns anfänglich herablassend behandelt. Als es dunkel wurde, kam die Freiwillige Feuerwehr Hitzacker und leistete der Polizei Amtshilfe mit Flutscheinwerfern. Viele von uns haben den Kessel trotz allem als sehr widerständig erlebt. Nach ein paar Stunden wurden wir auch von Unterstützern mit Getränken und musikalischen Ständchen versorgt.

Die Presse war aber nicht vor Ort? Schließlich wurde ja nur aus der Pressemitteilung der Polizei zitiert …

Aktionsteilnehmer: Es war nur ein Journalist der Elbe-Jeetzel-Zeitung zugegen. Das war jener, der am Morgen von einem "Großeinsatz nach Angriff auf Polizisten" schrieb und behauptete, wir hätten das Grundstück des Beamten "gestürmt" und den Mann und seine Familie "bedroht und eingeschüchtert". Unter Berufung auf einen Polizeisprecher setzte er auch die Falschmeldung von "Sachbeschädigungen" in die Welt.

Übrigens wurden die Oldenburger BFE-Einheiten später von anderen Beamten abgelöst. Die waren deutlich entspannter und ärgerten sich laut über den nach ihren Worten "Schwachsinnseinsatz", bei dem am Ende sowieso nichts herauskomme, weil die Vorwürfe gegen uns haltlos seien.

Die Polizei ermittelt auch wegen Beleidigung und Bedrohung. Was ist der Vorwurf?

Aktionsteilnehmer: Das mit der Bedrohung ist haltlos, das zeigt sich auch ganz deutlich im Video von der Situation vor dem Haus des Polizisten. Die Ermittlungen wegen Beleidigung beziehen sich auf den Polizeikessel. Eine Person soll gegenüber den Polizisten angekündigt haben, am nächsten Tag wieder zu kommen. Obwohl er von uns am schwersten verletzt war, wurde er für 24 Stunden in Gewahrsam genommen. Vermutlich soll der Beleidigungsvorwurf dafür sorgen, seine Verletzung nicht zu hinterfragen.

Womit rechnet ihr jetzt? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Polizei in Lüchow-Danneberg den Vorfall nutzt, um abermals Durchsuchungen zu beantragen.

Aktionsteilnehmer: Es kann schon sein, dass da jetzt nochmal nachgelegt wird. Vermutlich wird das Ganze aber juristisch in sich zusammen fallen. Die Vorwürfe sind nicht haltbar, der Polizeieinsatz überzogen. Aber alles ist möglich, auch aus Motiven wie "Rache". Wir warten jetzt erstmal ab.

Wer ist überhaupt dieser Staatsschützer Olaf H., dem die Proteste galten? Im Wendland wird kritisiert, dass er die Repression gegen linke Bewegungen persönlich in die Hand nimmt.

Aktionsteilnehmer: Er war schon zu Castor-Widerstandszeiten hier eingesetzt, damals noch in der Bereitschaftspolizei. Viele beschreiben ihn als aggressiv. Er wurde dann versetzt und ist seit bestimmt 15 Jahren Staatsschutzbeamter, irgendwann wurde er dann Leiter der Abteilung.

Er ist eigentlich bei jeder linken Demonstration, bei jeder öffentlichen Aktion am Rande dabei oder spricht Leute auf der Straße mit Namen an. Er ist irgendwie immer und überall, beobachtet Leute und macht Fotos. Er verantwortet praktisch alle Ermittlungsverfahren gegen linke Aktivisten. Zuletzt hat er eine Razzia im Gasthof Meuchefitz wegen einem Soli-Plakat für die YPJ/YPG initiiert, bei der auch Kinder von schwer bewaffneten Polizisten eingeschüchtert wurden. Das war für einige vielleicht der Auslöser für die Aktion vor seinem Haus.