Der tödliche Winkel

Bundesrat und EU-Kommission wollen einen Abbiegeassistenten für LKW verbindlich einführen, um Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern zu verhindern. Doch was kann die Technik überhaupt?

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Von
  • Jörn Iken
  • Karsten Schäfer
Inhaltsverzeichnis

Das Kind war chancenlos: Ein Elfjähriger ist Mitte April in Hannover von einem Lastwagen überrollt worden und war sofort tot. Nach ersten Angaben der Polizei hat sich der Junge korrekt verhalten: Die Radfahrerampel zeigte grün, als er losfuhr. Aber auch der rechtsabbiegende Sattelschlepper hatte grün, der in die Straße einbiegen wollte, die der Junge überquerte. Mitte Mai geriet in Hamburg eine 33-jährige Frau ebenfalls beim Rechtsabbiegen eines LKW unter die Räder der Hinterachse. Auch sie war sofort tot. In Hamburg war das schon der dritte Unfalltod beim Rechtsabbiegen eines LKW in diesem Jahr. Bundesweit sind es schon 17.

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Nach einer Untersuchung des Berliner ADFC kommen im Durchschnitt 23 Radfahrer jedes Jahr durch einen abbiegenden LKW ums Leben. 95 Prozent der Fälle gehen laut Unfallforschung des ADAC mit schweren bis tödlichen Verletzungen einher. Und bei über 90 Prozent aller Abbiege-Unfälle sind LKW-Fahrer die Hauptschuldigen, weil sie im toten Winkel rechts neben dem LKW nichts einsehen.

Die gute Nachricht: Im Mai gab die EU-Kommission bekannt, dass sie sich EU-weit für die Einführung von Abbiegeassistenten für LKW einsetzen will. Im Juni zog der Deutsche Bundesrat nach und forderte ebenfalls eine EU-weite Pflicht für Abbiegeassistenten, einschließlich der Nachrüstung älterer LKW ab 7,5 Tonnen. "Die Vorschriften sollten technologieneutral gestaltet werden, damit sowohl sensorbasierte Systeme als auch kamerabasierte Systeme zum Einsatz kommen können", sagt Oliver Wittke, CDU-Verkehrsexperte im Bundestag.

Die nötigen Geräte wären prinzipiell vorhanden. "Am Markt existiert derzeit eine Vielzahl an verschiedenen Nachrüstlösungen, die oftmals Ultraschallsensoren, teilweise auch Kamerasysteme verwenden", sagt Patrick Seiniger vom Referat "Aktive Fahrzeugsicherheit und Fahrerassistenzsysteme" bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Für große LKW bietet etwa Dometic WAECO ein System, das im Grunde einer herkömmlichen Einparkhilfe für PKW entspricht. Die vier Sensoren werden an der rechten Seite des LKW-Fahrerhauses installiert. Befindet sich ein Hindernis in ihrem Erfassungsbereich, wird der Fahrer optisch und akustisch gewarnt.

MAN dagegen setzt auf ein Kamera-Monitor-System. Es zeigt dem Fahrer beim Abbiegen den Bereich an, der sonst nur schwer oder gar nicht einsehbar ist. Die Supermarktkette Edeka in Südbayern entwickelte sogar selbst einen Abbiegeassistenten, der mit einem Kamerasystem und den Sensoren einer Einparkhilfe arbeitet. Dafür gab es 2015 den DEKRA Award. Seitdem wird jeder neue Edeka-LKW damit ausgerüstet.

TR 07/2018

Technology Review Juli 2018

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 07/2018 der Technology Review. Das Heft ist ab 21.06.2018 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

BASt-Experte Seiniger geht allerdings davon aus, dass der Nutzen dieser Systeme begrenzt ist: "Es wird erwartet, dass die bisherigen Nachrüstlösungen überwiegend die derzeit diskutierten Anforderungen nicht erfüllen." Schon seit 2016 untersucht die Bundesanstalt für Straßenwesen, wie eine Vorschrift für einen gesetzlich vorgeschriebenen Abbiegeassistenten aussehen könnte.

"Geklärt werden muss insbesondere die Erkennung von gefährdeten Radfahrern in allen Situationen, und das über die Lebensdauer eines LKW sowie Vermeidung von Fehlwarnungen", sagt BASt-Mann Seiniger. Kritisch ist vor allem die Zahl der Fehlwarnungen. Sind es zu viele, beachtet der Fahrer sie nicht mehr oder schaltet den Abbiegeassistenten einfach ab. Beim Edeka-System etwa könnte der Anteil der Fehlalarme durchaus bei zehn Prozent liegen, schätzt Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).

Vielversprechender scheint daher ein Mercedes-System zu sein – das allerdings von vornherein im LKW verbaut sein muss. Es gibt nur in rund zwei Prozent der Fälle Fehlalarm. Das System wurde erstmals 2016 auf der IAA vorgestellt und arbeitet mit Radar. Es überwacht die komplette rechte Seite und einen weiten Bereich vor dem LKW. Dabei detektiert das Radar nicht nur Radfahrer, sondern auch Fußgänger. Droht eine Kollision, blinkt eine dreieckige Lampe in der rechten A-Säule erst gelb und dann rot. Gleichzeitig piept ein Warnton.

Das System funktioniert unabhängig von Witterung und Lichtverhältnissen – hat jedoch den Nachteil, dass der Fahrer selbst nicht sieht, was sich abspielt. Deshalb gehört neben dem Radar auch ein Kamerasystem zum Ausstattungspaket. Sogar ein Notbremsassistent ist inbegriffen. Ausgerechnet beim Abbiegen greift er allerdings nicht ein – sondern nur, wenn der Fahrer vor dem LKW liegende Gefahren übersieht, etwa ein Stauende.

Alle Unfälle zwischen LKW und Fußgängern oder Radfahrern werden sich auch damit nicht verhindern lassen. Das Institut für Unfallforschung des GDV geht von einer Halbierung aus. Die Zahl der damit verbundenen Todesfälle könne sich um rund ein Drittel reduzieren, die Zahl der Schwerverletzten immerhin um mehr als 40 Prozent. Allerdings sind in dieser Zahl nicht nur Unfälle beim Rechtsabbiegen enthalten, sondern auch solche, bei denen ein Radler beispielsweise in die Spur eines LKW gefahren ist. Und damit wäre wohl jedes noch so gute Assistenzsystem überfordert.

(bsc)