„Die Politik verspielt Zukunftschancen“

Die Bundesregierung ist 100 Tage im Amt und manövriert auf Sicht. Zukunftsforscher Klaus Burmeister vermisst den großen Entwurf, um den Herausforderungen der nächsten 15 Jahre zu begegnen.

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Von
  • Anton Weste

Abgasskandal, internationale Beziehungen, Flüchtlingsfrage, Rechtspopulismus - die Politik in Deutschland wird von tagesaktuellen Themen getrieben. Zukunftsplanung rückt in weite Ferne. Klaus Burmeister, Initiator des Projekts D2030, hat in "Deutschland neu denken" acht Szenarien für Deutschland im Jahr 2030 entwickelt. Er sieht die Politik in der Pflicht, das Land auf den Wandel vorzubereiten.

TR: Hundert Tage ist die Bundesregierung nun im Amt. Handelt die Regierung ausreichend zukunftsorientiert?

Klaus Burmeister: Es zeigt sich eine große Unentschlossenheit und es fehlt ein klarer Zukunftskurs mit vorausschauender Politikgestaltung. Nehmen wir als Beispiel die Europapolitik: Macron wartet auf deutliche Signale, doch Frau Merkel hat nur vorsichtig reagiert. Erst durch den Druck, den Präsident Trump auf die G7 und Europa ausübt, ist die Bundesregierung auf Frankreich zugegangen.
Ein zweites großes Feld ist das der Migrationspolitik. Der Konflikt dazu ist auch innerhalb der CDU/CSU nicht behoben, sondern spitzt sich zu. Oder etwa die Digitalisierungspolitik, ein wichtiges Areal der Industrie- und Innovationspolitik. Der Bundesrechnungshof hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die momentanen Strategien nicht erkennen lassen, dass ein 5G-Ausbau in der gebotenen Zeit erfolgen wird.

Sie haben als Teil der Initiative D2030 mehrere Zukunftsszenarien für Deutschland im Jahr 2030 entworfen. Wie stark wird sich Deutschland verändern?

Deutschland verändert sich ständig. Wir haben eine Landkarte von mehreren Entwicklungen gezeichnet, die für 2030 denkbar sind. Drei mögliche Szenarien unter dem Sammelbegriff „Neue Horizonte“ haben wir mit den Projektbeteiligten als wünschenswerte Zukünfte identifiziert. Diese Szenarien stehen für einen Aufbruch und setzen auf Eigeninitiative der Zivilgesellschaft, neue Allianzen zwischen Start-ups, Unternehmen, Wissenschaft und auf eine Politik, die gestaltungsoffen ist.
Damit das Modell Deutschland zukunftsresilient bleibt, brauchen wir eine Politik die über Legislaturperioden hinaus weiterdenkt, die ausprobiert, neue experimentelle Formen der Teilhabe entwickelt. Die Quote an Innovatoren, die neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt bringen, geht seit 20 Jahren in Deutschland kontinuierlich zurück. Wir müssen hier aufpassen, existente Chancen nicht zu verspielen. Unsere Kernbotschaft ist: Nicht abwarten, sondern handeln, um dauerhaft als Industrieland innovativ zu bleiben.

Was muss die Bundesregierung im Bereich Mobilität und Verkehr in den nächsten Jahren anstoßen?

Wir brauchen nicht nur einen Verkehrswegeplan 2030, bei dem fast 300 Milliarden in Beton und Asphalt investiert wird. Es fehlt eine klare Strategie in Richtung einer vernetzten, nachhaltigen und intermodalen Mobilität unter Berücksichtigung neuer Antriebssysteme. Wir verschwenden Energie auf die Frage nach Fahrverboten und dem Diesel. Das ist nicht zukunftsgewandt. Wir sollten lieber über Chancen diskutieren, die sich ergeben: Wie können wir die Städte entlasten von schlechter Luft? Wie können wir Stadt neu denken und organisieren, wenn autonome Mobilität kommt? Wie schaffen wir es, Arbeit und Lebensqualität auch in periphere Räume zu bringen? Es ist die Aufgabe der Politik, diese Richtung zu stärken. Es gibt Ansätze, aber die müssen ganz gezielt vorangetrieben werden, man muss zum Beispiel Subventionspolitik wie die Pendlerpauschale neu denken.

Welche Rahmenbedingungen sollte die Regierung für eine zukunftsorientierte Arbeitswelt schaffen?

In der Phase bis 2025, 2030 werden etwa 1,5 Millionen Arbeitsplätze verschwinden, aber ebenso viele neue Arbeitsplätze entstehen, so der aktuelle Forschungsstand. Allein, wenn dieses Analyse stimmt, muss Politik diesen massiven Wandel bewältigen. Sie muss die neuen Qualifikationen identifizieren und die Ausbildung und Weiterbildung organisieren. Nach dieser Phase werden die Umbrüche durch Digitalisierung, Industrie 4.0 und autonome Systeme erst voll zum Tragen kommen – auch mit Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Arbeit ist immer noch der Kern, der der die Gesellschaft zusammenhält. Politik hat jetzt die Chance zu sagen: Wir müssen chancenorientiert die Arbeitswelten im Verein mit Unternehmen, Wissenschaft und den Betroffenen mitgestalten. Wenn die Digitalisierung tatsächlich mehr Arbeitsplätze vernichtet als erwartet, sollten wir darauf vorbereitet sein, zum Beispiel durch angepasste Renten- und Sozialsysteme. Auch die Erprobung von Alternativen wie dem Grundeinkommen sollte kein Tabu sein. Politik hat die verantwortungsvolle Aufgabe genau das zu erkennen und vorzubereiten.

Klaus Burmeister, Alexander Fink, Beate Schulz-Montag, Karlheinz Steinmüller: "Deutschland neu denken", Oekom, 2018


Politik fährt häufig auf Sicht. Was müsste sich strukturell ändern, damit sie in weiteren Horizonten denkt?

Sie müsste umsetzen, was die deutschen Wissenschaftsverbände unisono fordern: Mehr open innovation, mehr co-creation, mehr Experimente. Politik wird zu oft in Kommissionen verlagert, beispielsweise der Kohle-Kommission. Was wir aber brauchen, ist ein Prozess, der durch die Akteure vor Ort begleitet wird – Städte, Gemeinde, Unternehmen. Nur gemeinsam lässt sich der Strukturwandel angehen, etwa durch die Schaffung von Sonderinnovationszonen. Hier könnten Prozesse schöpferischer Zerstörung neue transformative Potenziale eröffnen. Regional verankert könnte Wirtschafts- und Innovationsförderung neu interpretiert werden, die Arbeitsmarkt-, Mobilitäts- und Energiefragen verbindet mit Produkt- und Serviceinnovation der Unternehmen vor Ort, mit neuen Angeboten des ÖPNVs, dem Wohnungsbau und neuen Formen des Handels und der Nahversorgung.

Wo sehen Sie den Bürger und Konsumenten in der Pflicht für ein zukunftsorientiertes Deutschland?

Ich sehe ihn allerorten in der Pflicht. Eine Gesellschaft, die sich in einem Umbruch befindet braucht das Know-how und die Aktivität der Bürger. Sie muss neue Formen entwickeln, wie man einen Konsens findet, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht – so wie damals das Wachstumsversprechen. Sie braucht ein neues Narrativ für eine zukunftsoffene Gesellschaft, die keine Menschen außen vor lässt.
Das geht nur durch Beteiligung. Es gibt jetzt schon viele Initiativen im Bereich Klima und Energie, es gibt Start-ups, Coworking-Center, offene Werkstätten, die auch bereit sind, sich da zu betätigen. Politik hat die Aufgabe über Probehandeln den Menschen die Scheu vor der Zukunft zu nehmen und ihnen Formen der Beteiligung zu eröffnen.

Warum ist es wichtig, gerade jetzt weit in die Zukunft zu planen?

Wir sind in einer Situation, die hat es noch nie gegeben. Wir stehen ökonomisch sehr stark da. Es gab durch Steuereinnahmen noch noch nie so viel Geld wie heute, das eine Bundesregierung ausgeben kann. Dadurch sind wir in einer komfortablen Situation für die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit. Wenn diese komfortable Lage etwa durch eine veränderte Zinspolitik oder andere Einflüsse verschwindet, wird es viel schwieriger werden, die richtigen Weichen zu stellen.

(anwe)