Türkei: "Des Sultans bundesrepublikanische Kleider"

Berlins spektakuläre Wende in der deutschen Türkeipolitik, obwohl Ankara Menschenrechtsverletzungen und Verhaftungen fortsetzt und Schritte zur Einführung der Todesstrafe einleitet

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Während Außenminister Heiko Maas und Wirtschaftsminister Peter Altmaier eine spektakuläre Wende in der deutschen Türkeipolitik eingeleitet haben, um die Türkei vor dem Bankrott zu retten, gehen die Menschenrechtsverletzungen und Verhaftungen in der Türkei ungehindert weiter.

Am vergangenen Samstag wurden über 500 Arbeiter verhaftet, weil sie sich an einem Streik für bessere Arbeitsbedingungen auf dem Istanbuler Großflughafen und die Auszahlung ihrer Löhne beteiligt hatten. Immer mehr Europäer werden verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Preis, sie frei zu bekommen, wird immer höher.

Erdogan pokert hoch. Die Wiedereinführung der Todesstrafe steht auf seiner Agenda - eigentlich eine von EU und UNO postulierte "rote Linie". Aber um den Bankrott der Türkei abzuwenden und um neue Flüchtlingsströme zu verhindern, wird an dieser Stelle weggesehen. So kann der Machthaber walten und schalten, wie ihm beliebt - und wird dabei noch von Deutschland unterstützt.

Wird Berlin zum Retter des Autokraten von Ankara?

Das fragte der Spiegel in seiner Printausgabe am 7. September. Keineswegs, meinte Wirtschaftsminister Altmaier demnach. Aber: "Es gehöre zur staatspolitischen Räson Deutschlands, das Brückenland zwischen Europa und dem Orient zu unterstützen", erklärte Altmaier, wie ihn das Magazin wiedergibt. Also doch: "Ja, auf jeden Fall"?

Vor Kurzem meinte Altmaier noch, "die Türkei müsse erst eine Reihe von Reformen auf den Weg bringen, bevor deutsche Wirtschaftshilfe fließen könne". Noch vor einem Jahr verhängte die Bundesregierung Sanktionen gegen die Türkei, das Auswärtige Amt gab aufgrund der Menschenrechtsverletzungen eine Reisewarnung heraus, staatliche Exportbürgschaften wurden eingeschränkt.

Davon ist heute keine Rede mehr. Obwohl sich bis heute nichts zum Positiven geändert hat. Trotzdem spricht man wieder über Hermesbürgschaften, Kredite der staatlichen KfW-Bankengruppe und denkt über eine finanzielle Unterstützung eines neuen Megaprojektes in der Türkei nach: den Ausbau und die Modernisierung des Eisenbahnnetzes mit einem Auftragswert von 35 Milliarden Euro.

Siemens und die Deutsche Bahn sollen neue Strecken bauen, alte elektrifizieren, moderne Signaltechnik installieren. Es soll neue Hochgeschwindigkeitsstrecken mit neuen Tunnel, Oberleitungen und Zügen geben.

Eine Ohrfeige für die Opposition

Das kommt einer Kehrtwende im Umgang mit dem autokratischen Herrscher Erdogan gleich und ist eine Ohrfeige für die Opposition in der Türkei. Und das, obwohl die Menschenrechtslage in der Türkei nicht besser geworden ist als vor einem Jahr, im Gegenteil: Die autoritäre Herrschaft Erdogans entwickelt immer mehr diktatorische Züge.

Das wirtschafts- und geopolitische Agieren des deutschen Außenministers Heiko Maas (SPD) bringt Gülseren Yoleri vom türkischen Menschrechtsverein IHD im Spiegel auf den Punkt: "Wirtschaftliche Interessen zählen offensichtlich mehr als Menschenrechte." Und so gibt es ein emsiges Bemühen, Streit mit Erdogan zu vermeiden und neue Geschäfte schnell auf den Weg zu bringen - ungeachtet dessen, was innenpolitisch in der Türkei passiert.

Schon kurz nach der Bundestagswahl versprach die Bundesregierung als Gegenleistung für die Freilassung inhaftierter Deutscher mehr wirtschaftliches Engagement in der Türkei. Betrachtet man die kontinuierlichen Waffenlieferungen an die Türkei, kann man sagen, dass die Bundesregierung dies auch eingehalten hat. Auch wenn sie, wie das kurdische Medium ANF berichtet, in den vergangenen Jahren zurückgegangen sind.

Waffenlieferungen

2016, als das türkische Militär kurdische Städte mit Panzern und Bombern verwüstete, wurden Lieferungen im Wert von 83,9 Millionen Euro genehmigt. 2017 waren es nur mehr Lieferungen im Wert von 3,2 Millionen Euro; im ersten Quartal 2018 wurden 34 Waffenlieferungen im Wert von 9,7 Millionen Euro in die Türkei genehmigt. Seit Mai dieses Jahres sind fünf neue Anträge zu Waffenexporten in die Türkei im Wert von 418.279 Euro genehmigt worden.

Allerdings, so merkt ANF an: Nicht dazugerechnet sind viele Waffentypen, wie das G3-Gewehr, das per Lizenz in der Türkei produziert wird. Auch die EU subventioniert großzügig die Waffenproduktion in der Türkei im Rahmen der EU-Beitrittshilfen, wie Recherchen des Nachrichtenmagazins des Spiegel und des Netzwerks European Investigative Collaborations (EIC) ergaben: Die EU-Staaten lieferten Überwachungs- und Sicherheitstechnologie zur Überwachung der türkisch-syrischen Grenze im Wert von 80 Millionen Euro.

Recherchen im Rahmen des Regionalentwicklungsprogramm IPA brachten darüber hinaus ans Licht, dass dem türkischen Fahrzeug- und Rüstungskonzern Otokar 35,6 Milliarden Euro zur Herstellung von Cobra-II-Panzerfahrzeugen überwiesen wurden. Diese Panzer kamen in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei und in Afrin zum Einsatz.

Der Besuch Erdogans in Deutschland

Am Rande des Erdogan-Besuchs am 28. September in Berlin wird es auch ein Treffen mit deutschen Unternehmern im Hotel Adlon geben. Am 29. September wird Erdogan in Köln erwartet. Dort hofft er, vor seiner Anhängerschaft reden zu können. Die umstrittene Ditib-Moschee ist als Veranstaltungsort im Gespräch.

Ende September will der parlamentarische Staatssekretär von Altmaier, Thomas Bareiß, zu Gesprächen wegen des Eisenbahnprojekts in die Türkei reisen. Ende Oktober wird Wirtschaftsminister Altmaier mit einer großen Wirtschaftsdelegation in die Türkei reisen, um eine deutsch-türkische Wirtschaftskommission ins Leben zu rufen.