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Was war. Was wird. Big Brother is loving you.

Sicherheits-Paranoiker haben ihr Neusprech gut gelernt. Gut immerhin, dass doch viele den "Sieg über sich selbst" nicht feiern wollen, hofft Hal Faber.

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Was war. Was wird.

Überwachung, ach ja, die ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Nein, eigentlich viel schlimmer als sich die Dystopien früherer Jahre das ausgemalt haben.

(Bild: Gerhard Gellinger, gemeinfrei)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** He gazed up at the enormous face. Forty years it had taken him to learn what kind of smile was hidden beneath the dark moustache. O cruel, needless misunderstanding! O stubborn, self-willed exile from the loving breast! Two gin-scented tears trickled down the sides of his nose. But it was all right, everything was all right, the struggle was finished. He had won the victory over himself. He loved Big Brother.

Vor 70 Jahren, am 15. Dezember 1948, öffnete der Verleger Fred Warburg ein dickes Päckchen, das von der Insel Islay kam und begann mit der Lektüre "des wichtigsten Buches meines Lebens", wie er später schrieb. Der Schriftsteller George Orwell hatte ihm sein letztes Werk "The Last Man in Europe" geschickt. Warburg war sich sofort bewusst, was für ein Werk er da in den Händen hielt und schrieb an seine Kollegen: "Wenn wir es nicht schaffen, 15 - 20.000 Kopien zu verkaufen, gehören wir erschossen." Die Kollegen hatten Einwände. Ein Lektor schrieb, das Buch sei voller unverständlicher Neologismen und müsse erst einmal in korrektes Englisch übertragen werden. Nicht auszudenken, was aus Orwells Werk ohne Worte wie Neusprech/Newspeak oder Deldenk geworden wäre.

*** Die erste Inspiration für sein Neusprech verdankte Orwell einem Buch über die amerikanische Management-Kultur, das der ehemalige Trotzkist James Burnham 1941 veröffentlichte. Orwell besprach das Buch, in dem das "Regime der Manager" seziert wurde, ein universalen System, in dem sich in der westlichen wie in der sowjetischen Welt eine technisch-wissenschaftliche Managerklasse mit eigener Sprache durchgesetzt hat, die die Herrschaft der Manager mit hübschen Begriffen ummantelt. Ob Faschismus oder Stalinismus oder Monopolkapitalismus, in all diesen Totalitarismen sitzen Manager an den Schalthebeln, verdecken aber ihre Funktion mit dem, was Orwell später upsub nennen sollte. Zum Zeitpunkt seiner ersten Buchbesprechung war Orwell von dem Machiavellismus angewidert, den er bei Burnham fand. Erst in den Zweitgedanken über Burnham ging er auf dessen Argumente ein.

*** Heute ist Neusprech und Vernebelung dieser Art tief in unseren Alltag eingesickert. Man denke nur an den "Gefährder", der in einer "Vorfeldmaßnahme" nach den neuen Polizeigesetzen wie dem in Nordrhein-Westfalen in Gewahrsam genommen werden kann, wenn "weder Ort und Zeitpunkt der bevorstehenden Begehung der Straftat noch ihr potenzielles Opfer bekannt sind". Vergessen wir die Habeas Corpus-Rechte, hier muss doch der Sicherheits-Manager handlungsfähig bleiben! Man kann das weiterdenken: Erst dann, wenn alle auch noch mit einer Fußfessel ausgestattet sind, wird so ein Terror-Anschlag wie jetzt in Straßburg schnellstens unterbunden. Oder?

*** Orwells Neusprech wurde glücklicherweise nicht verändert und so entstand mit Nineteen Eighty-Four das wichtigste Buch über das Leben im Überwachungsstaat, bis heute von unverrückbarer Aktualität geprägt. In einer Zeit, wo wieder über Facecrime diskutiert wird, in der die heimliche Gesichtserkennung salonfähig oder bühnenfähig gemacht wird und es ein fürchterlicher Neusprech wie Ankerzentrum auf den dritten Platz beim "Wort des Jahres" bringt, ist "1984" weiterhin aktuell. Übrigens kann auch der Sieger "Heißzeit" im weiten Sinn dazu gerechnet werden, verdrängt das Wort doch die eigentliche Ursache, die langanhaltende Trockenheit, aus dem Kopfe.

*** Nineteen Eighty-Four erschien im Juni 1949 im Verlag Secker & Warburg und wurde aus dem Stand weg ein großer Erfolg. Das dreizehnte und letzte Buch von George Orwell wurde in Großbritannien zum Buch des Monats, später zum Buch des Jahres gewählt, während in der Sowjetunion die Prawda Orwell als "Feind der Menschheit" bezeichnete. Das Lächeln des großen Bruders mit dem dunklen Schnauzbart wurde als Verweis auf Stalin gewertet. Die deutsche Übersetzung erschien – von der CIA finanziert – in der Zeitschrift Der Monat. Die Nutzung als Propaganda im Kalten Krieg verärgerte Orwell. Kurz vor seinem Tod schrieb er: "Mein jüngster Roman ist nicht als Angriff auf den Sozialismus oder die Labour Party gedacht. Er will die Perversionen aufzeigen, die eine Kommandowirtschaft mit sich bringt und die zum Teil im Kommunismus und im Faschismus bereits Wirklichkeit geworden sind. Ich glaube auch, dass sich totalitäres Gedankengut überall in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt hat, und ich habe zu zeigen versucht, wohin dies in letzter Konsequenz führen muss. Das Buch spielt in England, um zu zeigen, dass die Englisch sprechenden Völker von Natur aus nicht besser sind als andere und dass der Totalitarismus, wenn man nicht dagegen kämpft, überall triumphieren kann."

*** Mit einem kleinen neckischen Buchstabendreher ist die deutsche Software Orvell inzwischen eine Do-It-Yourself-Überwachungs-Software für den inner-partnerschaftlichen Heimgebrauch. Wo man sich fremdliebt, ist der Big Brother von Minilieb zur Stelle. Legal, egal. Warum so hoch hängen? Mit seinem Buch unter dem Titel "Jenseits von 1984" plädierte der Wissenschaftler Sandro Gayken 2013 für eine "Versachlichung der Debatte" um Datenschutz und staatliche Überwachung. Dieser Tage hat er einen Artikel zum Paris Call for Cybersecurity veröffentlicht und sich Gedanken über den Mythos vom bösen Hacker gemacht, die auf vertrackte Weise an Orwells Warnungen vor einer Welt der Totalitarismen anschließen. Gerade weil autoritäre Regime keine Skrupel haben, offensive Cybermaßnahmen durchzuführen, müssen Rechtsstaaten offensiv hacken dürfen, um sich zu schützen. Auch den guten Hackern muss es erlaubt sein, Schutzlücken zu nutzen und zu horten. Eine Beschränkung, gar ein Hackback-Verbot würde eine einseitige Maßnahme sein, "die zu stark asymmetrischen Nachteilen gegenüber cybertechnisch aktiveren Staaten oder autoritären Regimen führen würde." Übersetzen wir das Plädoyer des NATO-Beraters: Im Kampf gegen Ozeanien und Ostasien muss auch Eurasien gewappnet sein, dann wird alles gut.

*** Nichts ist übrigens gut geworden beim Digitalpakt in dieser Woche. Die Finanzierung der Schulen ist vorerst gestoppt, ein Vermittlungsausschuss soll vermitteln, ein Wort, das Neusprech-Qualität hat. Vor allem aber soll eine Änderung des Grundgesetzes verhindert werden, die heilige Kuh heißt Kultusministerium. Das wäre ja noch schöner, jetzt, wo das Grundgesetz als schickes Magazin für den weihnachtlichen Gabentisch herauskommt. Der Bund hat keine Ahnung von der Digitalisierung der Schulen und kann nicht einmal Lehrer backen. "Ich sage nur: BAMF, Kraftfahrzeugbundesamt, Eisenbahnbundesamt, Bundeswehr", keulte der grüne Ministerpräsident Kretschmann dieser Tage. Besonders vermittelnd hört sich das nicht an. Nunja, vielleicht reicht der Etat, dass die Schulen sich mit Orwell-Lektüren für den Unterricht eindecken.

*** Wenn wir über "1984" reden, darf die rote Hose nicht fehlen, denn "1984 wird nicht '1984'", wie Apple es in seinem berühmten Werbespot für den Macintosh formulierte. Man mag von Apple halten, was man will (und ich gestehe, dass ich besonders iOS und solch abgestürzte Anwendungen wie iTunes eher, nun, wie soll ich es höflich formulieren, äh... etwas ablehnend gegenüberstehe) - Tim Cooks Warnungen vor Datensammelei sind wohl ernst gemeint und ernst zu nehmen. Apple wusste das aber immer schon auch geschäftstüchtig zu nutzen, nicht nur in solchen Werbespots, die deutlich gegen die grauen (oder eigentlich blaugewandeten) IBM-Typen gerichtet waren. Wie kommentierte ein Nutzer den 1984-Spot: "Looks kinda like people watching the annual Apple Keynote ..." So ändern sich die Zeiten. Und die Aktualität von 1984 ist erschreckenderweise so weit gediehen, dass manches zu kurz gegriffen erscheint. Und anderes wieder schon alltäglich geworden ist: Ein Computer mag auch gegen die Überwacher helfen können, Neusprech gibt's aber nicht nur bei den Sicherheits-Paranoikern, sondern eben auch im Silicon Valley. Apple nicht ausgenommen.

Die anstehende ach so besinnliche Weihnachtszeit inmitten der "Eiszeit" ist eine gute Zeit, sich an die Folter zu erinnern, unter der Winston Smith und Julia zerbrechen, um anschließend umerzogen zu werden. In dieser Woche erhielten alle Bundestagsabgeordneten, auch die Nichthammelspringer der AfD, von Amnesty International ein Exemplar der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. So können alle den Artikel 5 studieren. "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden." Unter Folter, das zählt auch die Antifolterkonvention der UN auf, fallen auch Androhungen wie die einer selbsternannten NSU 2.0, das zweijährige Kind einer Anwältin zu schlachten. Untereinander schickte man sich Hitler-Bilder zu. Da liegt die Frage nahe, ob die Polizei ein Nazi-Problem hat. Aber nicht doch. Alles wird gut.

Er blickte hinauf zu dem riesigen Gesicht. Vierzig Jahre hatte er gebraucht, um zu erfassen, was für ein Lächeln sich unter dem dunklen Schnurrbart verbarg. O grausames, unnötiges Mißverstehen! O eigensinniges, selbstauferlegtes Verbanntsein von der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tränen rannen an den Seiten seiner Nase herab. Aber nun war es gut, war alles gut, der Kampf beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.

(jk)