Ich sehe was, was Du nicht siehst … - und das ist unsichtbar!

Bild: © Netflix / Merrick Morton

Der Netflix-Film "Bird Box - Schließe deine Augen"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Den überraschend erfolgreichen Netflix Film Bird Box zu rezensieren, scheint zunächst entmutigend. Einmal mehr also ein ausgetretene Pfade des Genres folgender, die Apokalypse der Menschheit zelebrierender Horrorfilm. Der Untergang der Zivilisation wird qua des Spiels einer Reise-nach-Jerusalem als Kampf gegen den Schrecken einer selbstverständlich unsanft dahinschwindenden Gruppe Überlebender inszeniert. Wobei die Regisseurin (Susanne Bier) immerhin versucht, der Stereo-Typizität dieser Truppe ein Staraufgebot entgegen zu setzen.

Die nicht erschöpfende Aufzählung der Protagonisten umfasst etwa Sandra Bullock, die sich erst in ihre Hauptrolle als liebende Mutter in spe einzufinden hat. Dramatik erzeugt diese Figur dadurch, dass sie, und später auch ihr heldenhafter Beschützer (Trevante Rhodes), nicht nur um ihre eigenes, sondern auch das Überleben des herzigen Nachwuchses (Vivien Lyra Blair und Julian Edwards) kämpfen muss.

Ein cleverer Misanthrop (John Malkovich) sorgt für eine eher müde Gruppendynamik und bildet den Kontrapunkt zu einer anderen Schwangeren im Bunde (Danielle Macdonald), die in mütterlichem Jammer für Warmherzigkeit zu sorgen hat. Für das übliche sich im Nun-ist’s-eh-egal-Sex ausdrückende, angesichts der Apokalypse allerdings nachvollziehbare, Element menschlicher Unverantwortlichkeit sorgt die Liaison einer weltuntergangshalber nichtsnutzig gewordenen Polizistin (Rosa Salazar) mit einem Nichtsnutz (Colson Baker).

Die Erklärung des Gewöhnlichen

Soweit, so konventionell. Doch auch die Handlung und die Erzählstruktur sind nicht wirklich originell. Ergab sich die Gefahr, die der Menschheit den Garaus machte, im Film A quiet Place durch den extrem ausgeprägten Hörsinn von Aliens, so ist es im hier besprochenen Film der Gesichtssinn der Menschen selbst. Schlicht der Blick auf ein gewissermaßen windiges, immer unsichtbar bleibendes Grauen führt zum - stets suizidalen - Tod der Menschen. Überlebten demzufolge in A quiet Place nur die stillen und lautlosen Zeitgenossen, sind es in Bird Box nur diejenigen, die ihre Blicke vor dem unsichtbar Schrecklichen schützen können, etwa durch Augenbinden oder Sichtblenden vor Fenstern.

Bird Box (13 Bilder)

Bild: © Netflix / Merrick Morton

Nach einer fünfjährigen Odyssee - der Beginn der Katastrophe und der aussichtslose Kampf der dahinschwindenden Gruppe mit der unsichtbaren Medusa wird im Film in einer Rückblende erzählt - gelingt es schließlich nur Sandra Bullocks Figur und den zwei Kleinkindern in ihrer Obhut eine rettende Blindenschule, das Jerusalem des Films, zu erreichen. Dieser Spoiler sei uns erlaubt, ist doch das Finale des Films gar zu naheliegend, ist kaum als überraschende, erlösende Klimax zu verstehen. Die Stärken des Films liegen woanders, wie zu zeigen sein wird, nicht in einem verblüffenden Ende.

Warum also einen offenkundig konventionellen, somit definitionsgemäß uninteressanten Genrefilm, einen Film, mit offenkundig ruinösem, missglücktem intellektuellen Anspruch, überhaupt rezensieren? Ist, entsprechend, der bis hierhin kraftlose Verriss des Films nicht selbst ein ruinöses Unterfangen?

Die Verklärung des Gewöhnlichen

Überlegen wir zunächst, was eine Ruine reizvoll machen kann, was ein Trümmerfeld aus Steinblöcken, die kläglichen Mauerreste eines Gebäudes, einen gewöhnlichen Hügel zu einem Faszinosum werden lässt. - Mit dem entsprechenden archäologischen Wissen kann sich ein langweiliger Steinhaufen in die neugierig machenden Überreste einer uralten aztekischen Pyramide verwandeln, wird ein profaner Hügel in der türkischen Provinz, lokal immerhin Hisarlik Tepe genannt, zu Troja, der schon von Homer beschriebenen sagenumwobenen Stadt.

Wir werden im Folgenden, zwar nicht mit Hilfe archäologischen Wissens, aber mittels Beobachtungen der Gegenwart, gewissermaßen Wahrnehmungen des Zeitgeistes, versuchen, das einstweilen konventionelle Filmgebäude Bird Box in ein architektonisch interessantes, sinnvoll-schlüssiges Bauwerk zu verwandeln. Der Film kann so gleich einem Schlüsselroman gelesen werden, liefert Einsichten, die seine vorderhand stromlinienförmige, gewöhnliche Oberfläche transzendieren.

Entscheidend ist, zu entschlüsseln, was mit der gesichts- und namenlosen Gefahr, dem Schrecken einer prinzipiell unsichtbar bleibenden Medusa, deren Anblick tötet, gemeint ist. - Der Film, so behaupten wir, kann als Parabel für die potenziell desaströsen Auswirkungen der sozialen Medien gelesen werden. Dass der Konsum sozialer Medien einem Horror gleichkommen kann, lässt sich leicht mit Blick auf Anwendungen wie Tik Tok (kürzlich fusioniert mit musical.ly) verdeutlichen. Hier setzen sich zumeist kindliche bzw. jugendliche Nutzer mit selbstständig produzierten Kurzvideos (Karaoke- und Tanzeinlagen, Pranks, Minitutorials u.ä.) der sich in Likes und Kommentaren ausdrückenden Bewertung eines Millionenpublikums aus. Tik Tok verfügt über monatlich etwa 500 Millionen Nutzer.

Es ist augenfällig, dass die von Kindern oft mit Herzblut produzierten, hoffnungsfroh ins Netz gestellten Kurzvideos praktisch systematisch - von den notwendig wenigen Internetstars abgesehen, die den Maßstab für Popularität und Anerkennung setzen - mit Enttäuschungen einhergehen.

Dabei ist es vielleicht weniger die unter den Erwartungen der Nutzer bleibende Anzahl der Likes, die besonders schmerzen, sondern die Vielzahl der verletzenden, gehässigen Kommentare einer unüberschaubaren, unkontrollierbaren Masse von Personen. Nicht abwegig ist wohl, zu vermuten, dass gerade in der Altersgruppe der Teenager die Hemmschwelle für Mobbing, zumal in Verbindung mit weitgehender Anonymität, eine eher niedrige ist.