"Hier kämpfen wir auch für Euch in Europa"

Impression aus Telskuf. Bild: Ramon Schack

Eine Reise in die umstrittenen Gebiete des Nordirak

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Der Flughafen von Erbil, der Hauptstadt der "Autonomen Region Kurdistan", erscheint geräumig und modern, als Ausdruck der wirtschaftlichen Dynamik, welche die Boomtown Irakisch-Kurdistans prägt.

"Wo ist denn Ihr Visum für den Irak?" fragte einige Stunden zuvor die Mitarbeiterin von Turkish Airlines am Gate kurz vor dem Abflug von Istanbul - und blättert hektisch durch meinen Reisepass.

Mein Hinweis, deutsche Staatsbürger benötigten kein Visum für die Einreise in die Autonome Region Kurdistan, entgegnete sie mit der Frage: "Wo ist Kiel?", mein Geburtsort, wie sie dem amtlichen Dokument entnommen hat. Dieses Geplänkel löste sich schnell in Wohlgefallen auf, obwohl die Dame Recht hatte. Selbstverständlich benötigen Deutsche für die Einreise in den Irak ein Visum, aber die Behörden von Irakisch-Kurdistan verzichten gerne darauf, wenn man über deren Hauptstadt Erbil einreist.

Es ist Dezember 2018, kurz vor Weihnachten, was auch erklären mag, dass im Flugzeug viele Sitze frei bleiben. In der Sitzreihe neben mir hatte Sylvia Wähling vom Menschenrechtszentrum Cottbus Platz genommen, die in Begleitung von Vasilis Diamantis reiste, einem griechischen Juwelier, der in der libanesischen Hauptstadt Beirut aufwuchs und daher neben Griechisch, Französisch und Englisch auch fließend Arabisch spricht.

Für Sylvia Wähling, die in den frühen 1980er Jahren aus Griechenland zum Studium in die Bundesrepublik kam, ist es schon die elfte Reise in den Nordirak. Unser gemeinsames Ziel ist die Stadt Telskuf, im sogenannten umstrittenen Gebiet des Nordiraks. Diese Territorien werden von den kurdischen Kämpfern der Peschmerga kontrolliert, aber sowohl von Bagdad als auch von Erbil beansprucht.

Das Flugzeug ist gestartet und hat gerade seinen Kurs in Richtung Südost aufgenommen. Der Blick aus dem Bordfenster gleitet über die gigantischen Ausmaße der Megalopolis von Istanbul, welche jetzt - es ist spät am Abend - im hellen Lichterglanz erstrahlen.

Die Fluggesellschaft Turkish Airlines beeindruckt mich immer wieder durch ihren exzellenten Service und Komfort. Dadurch unterscheidet sie sich vorteilhaft, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, von den inneramerikanischen Airlines. Die Vorgaben, dass auf den Flügen im türkischen Luftraum kein Alkohol serviert werden darf und den Stewardessen das Auftragen eines allzu auffälligen Makeups untersagt werden soll, hat auf diesen Flug in die kurdischen Autonomiegebiete des Nordirak keine Gültigkeit. Bier und Wein wird ebenso ausgeschenkt wie Softdrinks. Die Flugbegleiterin tragen Lippenstift der Marke Jungelrot.

Ich versuche meine Gedanken mit den geopolitischen Realitäten vor Ort in Einklang zu bringen.

"Ich weiß, dass die anstehende Reise nicht Ihre erste Reise in die Region ist, dennoch möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass Telskuf zwar aktuell von Peschmerga kontrolliert wird, aber zu einem umstrittenen Gebiet gehört. Das Konsulat bittet daher die gesamte Gruppe, größtmögliche Vorsicht gerade auch bei Fahrten über Land walten zu lassen, insbesondere sollte selbstverständlich die Nähe zum zentralirakischen Checkpoint vermieden werden." So formulierte es eine Mitarbeiterin des deutschen Konsulats in Erbil in einer Mail an die Reisegruppe. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in den Nordirak, einschließlich der kurdischen Autonomiegebiete.

Impressionen aus dem Nord-Irak (15 Bilder)

Einfahrt nach Alqosh. Bild: Ramon Schack

Die Stewardess unterbricht meine Gedanken, serviert Kaffee und Tee. Ich greife zu den Informationen, die Silvia Wähling über Telskuf zusammengestellt hat.

"Vor dem Angriff durch den sogenannten "Islamischen Staat" im Sommer 2014 lebten ca. 10.000 Menschen in diesem rein christlichen Ort. Die Bevölkerung flüchtete vor den Terroristen in die Nachbarstadt Alqosh, in die kurdische Umgebung oder ins Ausland." Ich klappe das Papier wieder zu. Inzwischen ist die Hälfte der Einwohner wieder zurückgekehrt, Telskuf wurde endgültig 2016 vom IS befreit.

Das Menschenrechtszentrum Cottbus unterstützt finanziell die Sanierung der 800 Jahre alten St-Jakob-Kirche, welche von den IS-Kämpfern geschändet und schwer beschädigt wurde. Das ist unter anderem der Grund für Sylvia Wählings Reise, der ich mich angeschlossen habe, um vor Ort die geopolitischen Gegebenheiten zu studieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Bei den Christen in unserem Reiseziel handelt es sich um chaldäische Christen, die mit der katholischen Kirche in Rom uniert sind. Einer ihrer prominenten Vertreter war Tarek Aziz, der irakische Außenminister unter Saddam Hussein. Dieser warnte kurz vor der Invasion der Amerikaner den Journalisten Peter Scholl-Latour: "Die Amerikaner können eines Tages wieder hinter ihren Ozean zurückkehren, aber die Europäer bleiben Nachbarn des Orients."

Peter Scholl-Latour hatte in den folgenden Jahren sehr deutlich darauf hingewiesen, dass der "Krieg gegen den Terror" für die Christen in der Region zu einer Katastrophe wurde. Wie oft hatte er während unserer Begegnungen dieses traurige Thema angeschnitten, welches ihn sichtlich bewegte. Nach neuesten Zahlen leben nur noch knapp 250.000 Christen im Irak, 2003 waren es noch über eine Million. Das Anschnallzeichen erscheint - wir befinden uns im Landeanflug auf Erbil.

Transitzone zwischen Anatolien und dem Zweistromland

Am folgenden Tag, nach der Übernachtung in einem Hotel im christlichen Viertel von Erbil, fahren wir durch die Irakisch-Kurdistan. Zwei Stunden sind seit unserer Abfahrt aus der Hauptstadt der Autonomen Region vergangen.

Scheikh Zedo Baedri, unser Begleiter, ein jesidischer Würdenträger der längere Zeit in Deutschland verbracht hat, macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns den sogenannten "umstrittenen Gebieten" nähern - also jenen Territorien, welche sowohl von Kurden wie auch von Arabern beansprucht werden. Grund genug, ein wenig über die staatliche Verfasstheit des Irak zu spekulieren.

Bei meiner gestrigen Einreise habe ich einen irakischen Stempel in meinem Reisepass erhalten, aber niemand verlangte das obligatorische Visum für den Irak. Auch sind hier in den Kurdischen Autonomiegebieten nirgendwo die Symbole des irakischen Staates zu sehen, der nach dem Ersten Weltkrieg von der reisenden britischen Jungfer Gertrude Bell - einer Orientalistin von beträchtlichem Niveau, die höchstwahrscheinlich im Auftrag des Geheimdienstes ihrer Majestät agierte - erfunden wurde.

Dafür lächelt Masud Barzani milde von den Hauswänden und Checkpoints der vorbeiziehenden Dörfer und Stützpunkte. Der Präsident von Irakisch-Kurdistan hatte nach einem Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 einen eigenen Staat ausrufen wollen, musste aber nach politisch-militärischem Druck aus Bagdad zurücktreten.

Dennoch ist der Vorsitzende der Regierungspartei PDK der starke Mann der Kurden im Irak geblieben und hält die Zügel in der Autonomen Region fest in seiner Hand. Während seiner Amtszeit gelang es ihm, die innerkurdischen Spannungen abzumildern, und sogar mit seinem Gegenspieler Dschalal Talabani einen Burgfrieden zu vereinbaren.

Barzanis Herrschaftsgebiet entwickelte sich so zu einer lebenswichtigen Transitzone zwischen Anatolien und dem Zweistromland, in der die Bevölkerung - auch dank lukrativer Erdölgeschäfte - einen bescheidenen Wohlstand genießt. Es besteht sogar ein für die Region ungewöhnlich hoher Grad an Meinungsfreiheit, wenn man sich auch nicht zu kritisch mit dem Thema Korruption - von der der Barzani-Clan zweifelsohne befallen ist - beschäftigen oder gar unangenehme Fragen in diese Richtung stellen sollte. Dann sei es nämlich schnell vorbei, mit der politischen Toleranz und der Meinungsfreiheit, bestätigen kritische Intellektuelle in Erbil.

In den Städten und Dörfern, die wir durchfahren, herrscht rege Geschäftigkeit, die Sonne scheint an diesem Wintertag mild vom strahlend blauen Himmel. Ziegenherden streunen über die Wiesen, zahlreiche Stände bieten ihre Waren zum Verkauf an. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Region vor vier, fünf Jahren von den anstürmenden Horrortruppen des Islamischen Staates überrannt wurde, die erst 40 Kilometer vor Erbil gestoppt werden konnten.

Die überraschende Eroberung der nahen Ölmetropole Mossul sowie der sunnitischen Nordprovinzen durch die Fanatiker, schuf eine Schneise aus Tod und Zerstörung, wodurch die ohnehin brüchige Verbindung nach Bagdad weitgehend zerrissen wurde.

Der Traum der Kurden nach einer staatlichen Unabhängigkeit ist alt, aber erst mit dem Eingreifen einer US-geführten Koalition im Zweiten Golfkrieg 1991 rückte dieser in greifbare Nähe. Durch Washingtons Unterstützung konnten sie eine Armee aus ihren Peschmerga aufstellen - jenen legendären Freischärlern, deren Kampfkraft gefürchtet und bewundert wird.

Die Tatsache, dass die Amerikaner die Kurden fallen ließen wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel, nachdem sie sie zuvor zum Aufstand gegen Saddam Hussein angestachelt hatten und dadurch eine beispiellose humanitäre Katastrophe hervorriefen, wurde von den Menschen hier natürlich nie vergessen. Ihre Lehre aus der Geschichte: Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Man darf sich daher nicht darüber wundern, dass über der Ninive-Ebene, durch die unser Wagen jetzt rollt, die rot-weiß-grüne-Flagge mit der Sonne im Mittelpunkt weht - also die kurdische, statt der irakischen.

Jetzt befinden wir uns in "den umstrittenen Gebieten des Nordirak", wie diese Territorien amtlich bezeichnet werden und bedeuten, dass diese von Bagdad und Erbil beansprucht werden.

Neben der Fahrbahn erstrecken sich Peschmerga-Stützpunkte wie Maulwurfshügel in die Landschaft. Die Großstadt Mossul, die erst im Jahr 2017 in blutigen Straßenkämpfen vom IS befreit werden konnte, liegt nur 30 Kilometer entfernt. Die Peschmerga rückten teilweise schon im 3. Golfkrieg, also 2003, in die heutigen Positionen vor, dauerhaft aber erst nach der Zerschlagung und Verdrängung des IS. Das Diktum von Mao Zedong, wonach die Macht aus den Gewehrläufen kommt, scheint bei den kurdischen Kämpfern nichts an Aktualität verloren zu haben.

Alqosh - das Zentrum der Chaldäer

In der Ferne taucht eine Bergkette auf, zu deren Füßen sich eine Stadt schmiegt.

"Das ist Alqosh", sagt der Fahrer und bremst vor dem Peschmerga-Checkpoint ab, der mit der kurdischen Fahne und einem Barzani-Bild geschmückt ist. Der Soldat, bewaffnet mit einem Maschinengewehr, schaut kurz in das Wageninnere und tauscht einige Belanglosigkeiten mit dem Fahrer aus. Unsere Ankunft wurde vorher schon angemeldet, andernfalls hätten wir nicht so einfach passieren können.

"Damit komme ich überall durch", scherzt der Fahrer, ein junger Mann, der in Erbil lebt und sich mit Fahrdiensten sein Chemie-Studium finanziert während er auf das chaldäische Kreuz zeigt, welches an seinem Rückspiegel hängt. Alqosh ist das Zentrum der Chaldäer, auch über dem improvisierten Eingangstor zur Stadt thront ihr Kreuz. Bei dieser Volksgruppe, in früheren Zeiten auch als Assyrer bezeichnet, handelt es sich nicht um Kurden, es wird Arabisch und teilweise Aramäisch - die Sprache Jesu Christi - gesprochen.

Trotzdem sind die Gläubigen dieser mit der römisch-katholischen Kirche unierten Religionsgemeinschaft für den Schutz durch die Peschmerga dankbar - besonders nach den Erfahrungen der letzten Jahre.

Dieses bestätigt auch Mikha Pola Maqdasi, der Bischof von Alqosh, als er uns in seiner Residenz empfängt. Bekleidet mit schwarzer Soutane und dem traditionellen Schulterkragen, der Pellegrina, ist er eine elegante Erscheinung und drückt sich in akzentfreiem Französisch aus.

Der Bischof lobt das Engagement von Sylvia Wähling für die Menschen in der Region, die Leiterin des Menschenrechtszentrums Cottbus ist zu Tränen gerührt. Der Geistliche macht aus seinen politischen Ansichten keinen Hehl. Sollten Alqosh und die Ninive-Ebene auch faktisch wieder unter die Herrschaft Bagdads geraten, unter der sie sich rein staatsrechtlich noch immer befinden, würden die Christen die Region verlassen, betont er und verweist auf die unsichere Lage für Christen im Rest des Landes.

Die Äußerungen des Bischofs rufen mir das statistische Zahlenmaterial ins Gedächtnis, welches ich vor der Reise studiert hatte. Nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003, die angeblich einen "Leuchtturm der Demokratie" (Präsident George W. Bush) errichten wollten, haben die Christen die Flucht ergriffen. Schon vor dem Auftauchen des IS haben Tausende aus Städten wie Mossul und Bagdad in der Autonomen Kurden-Region Schutz gesucht. Lebten 2003 noch über eine Million Christen im Land, sind es heute nur noch knapp über 200.000 - mit abnehmender Tendenz. "Warum betreibt Europa eine so christenfeindliche Politik, weshalb pflegt der Westen eine so enge Komplizenschaft mit Saudi-Arabien, von wo doch die Gelder herstammen, die den Aufstieg des IS begünstigten?", fragt uns ein Mitarbeiter des Bischofs, als wir den Amtssitz verlassen.

Weshalb blieben die Ninive-Ebene und die Stadt Alqosh immer eine christliche Hochburg, was auch der Terror des IS nicht verhindern konnte? Diese Frage wird unter anderem dadurch unterstrichen, dass hier seit dem Sommer 2017 Lara Yussif Zara als Stadtoberhaupt amtiert - die erste christliche Bürgermeisterin im Irak überhaupt.

Die Begrüßung durch die Bürgermeisterin im Rathaus von Alqosh, auf dessen Dächern die Fahnen Kurdistans und des Iraks einträchtig nebeneinander wehen, ist herzlich. In ihrem Büro bewegen sich Peschmerga neben Vertretern des irakischen Militärs. Die überwiegend jungen und männlichen Mitarbeiter tragen teilweise Chaldäer-Kreuze als Tattoo am Hals.

Lara Yussif, eine attraktive Mitdreißigerin, strahlt Lebenslust und Energie aus. Sie trägt ein gutgeschnittenes feuerrotes Kostüm, die braunen Locken fallen ihr spielerisch über die Schultern. Die Bürgermeisterin verfügt über eine Art Heldenstatus: Während des Vormarsches des IS blieb sie als einzige Frau mit zehn Kämpfern vor Ort, während die Bevölkerung panikartig die Stadt verließ. Mit der Waffe in der Hand verteidigte sie Alqosh gegen die Dschihadisten - die Front verlief damals nur einen Steinwurf entfernt.

Nicht nur die Menschen, auch die christlichen Kulturgüter aus der Frühphase unserer Religion waren in höchster Gefahr, wie die Zerstörungswut der sunnitischen Fanatiker andernorts bewies. Nach dem Termin im Rathaus schlägt Sylvia Wähling einen Ausflug ins berühmte Höhlenkloster Raban Hormuzd vor, welches aus dem 7. Jahrhundert stammt und nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt.

Nach der Wanderung durch das Terrain verweile ich einen Augenblick auf der Balustrade und genieße den beeindrucken Blick über Alqosh und die Weiten der Ninive-Ebene. Die Sonne strahlt jetzt kräftig, taucht die Landschaft in ein gleißendes Licht und bietet eine Vorahnung auf die drückende Hitze, die im Sommer alltäglich ist. Bei dieser Gegend handelt es sich um eines der ältesten Siedlungsgebiete der Menschheit.

Scheikh Zedo Baedri hat sich zu mir gesellt. "Von hier unten kamen die Truppen des Islamischen Staates. Und hier brachten wir sie zum Stillstand. Hier kämpfen wir auch für Euch in Europa - warum wird das eigentlich nicht begriffen?", fragt er mich und schaut mir dabei ernst ins Gesicht.

"Vor zwei Jahren konnten wir von hier aus noch die Detonationen hören"

Die Reise geht weiter. Kurze Zeit später erreichen wir Telskuf, das Ziel unserer Reise.

Nachdem wir den Peschmerga-Stützpunkt problemlos passiert haben, sowohl Silvia Wähling als auch Scheikh Zedo Baedri sind im Ort bekannt und gerne gesehen, haben wir unser Quartier bezogen. Unsere Gastgeber sind nicht vor Ort. Das Haus gehört einer Familie, die beim Ansturm des IS die Schlüssel einem Bekannten übergab und nach Australien emigriert ist. Das Anwesen wirkt stattlich, ist von hohen Mauern umgeben. Nachdem ich mich in meinem Zimmer häuslich eingerichtet habe, begebe ich mich auf die Dachterrasse. Mein Blick schweift über die Dächer, in den Gärten blühen Orangenbäume, verströmen ein angenehmes Aroma. Einige Fassaden sind noch von Einschusslöchern überseht, die Stromversorgung wird von knatternden Generatoren gesichert, wobei Stromausfälle zum Alltag gehören.

Telskuf ist nicht nur von den vier Peschmerga-Checkpoints abgesichert, sondern zusätzlich von einer Anzahl Stützpunkte, erkennbar an den kurdischen Fahnen, die in den Weiten der Ninive-Ebene errichtet wurden.

Ich versuche mir zu gegenwärtigen, wieviel Ströme von Blut in der jüngeren Vergangenheit hier geflossen sind. Meine Gedanken werden unterbrochen. Am Himmel wird ein amerikanisches Bombengeschwader sichtbar, wahrscheinlich auf dem Weg in das Innere des Irak, zu einer der US-Basen.

Seit 40 Jahren taumelt der Irak von einem Krieg zum nächsten. Ein wahrer Abgrund tat sich allerdings auf, als im Sommer 2014 aus der Ninive-Ebene eine militante Horde auftauchte, die zunächst einen "islamischen Staat in Irak und Syrien proklamierte, um ihn dann unter der Bezeichnung "Islamischer Staat" auf die ganze islamische Umma auszudehnen. Von nun an erzitterte der gesamte Orient vor einem Prediger, der unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi fungierte, dessen geistige Autorität von Marokko bis nach Indonesien reiche sollte. In kurzer Zeit, in einer Art Blitzkrieg, erwies sich dieser IS seinen militärischen Gegnern als weit überlegen. Bestehend aus jenen "Grünen Legionen", deren Kämpfer ihr blutiges Handwerk, gespeist von Geldern aus Saudi-Arabien, dem engen Verbündeten des Westens, auf den Schlachtfeldern des internationalen Dschihad von der Pike auf erlernt hatten.

Die größten militärischen Erfolge erzielte der IS nicht weit von Telskuf, als die zweitgrößte Stadt des Irak, die Metropole Mossul, nur etwa 30 Kilometer von meinem Aussichtspunkt entfernt, im Sturm erobert wurde. Von Mossul aus etablierte der Pseudo-Kalif al Baghdadi, der ab sofort nur noch im schwarzen Turban des Kalifen auftrat, ein zusammenhängendes Territorium über die geschliffenen Staatsgrenzen hinweg, die einst Irak von Syrien trennten. Sowohl Jesiden als auch Schiiten waren von der Ausrottung bedroht, während Christen ein Leben auf unterster sozialer Stufe und permanenter Diskriminierung drohte. "Vor zwei Jahren konnten wir von hier aus noch die Detonationen hören", bestätigt Peter Chris Bürger, einer der Mitstreiter von Silvia Wähling, der sich nun auf die Terrasse begeben hat. Bürger ist schon einige Tage zuvor aus Deutschland angereist. Der Chemnitzer hat sich eine Zigarette angezündet. "Das war bei der Rückeroberung der Stadt vom IS", fügt er hinzu.

Bürger, der in den letzten Jahren häufig zu Gast in Telskuf war, führt weiter aus. "Vor dem Angriff des IS lebten 10.000 Menschen hier. Fast die gesamte Bevölkerung, die fast nur aus Christen besteht, floh in den Nachbarort Alqosh, den ihr ja gestern besucht habt." Chris Bürger fasst dann zusammen, wie seit der Befreiung der Ninive-Ebene durch die Peschmerga-Truppen im Herbst 2016 knapp die Hälfte der ehemals 10.000 Einwohner wieder zurückgekehrt ist, um in ihrer angestammten Heimat ihr Leben zu bestreiten. Sukzessive werden die Häuser wieder aufgebaut und verdeutlichen dadurch, dass die Christen auch in den muslimisch dominierten Irak gehören. "Die Ninive-Ebene ist seit mehr als zwei Jahrtausenden ein überwiegend von Christen dominiertes Gebiet, das seine ethnische und religiöse Vielfalt von Christen, Jesiden und Muslimen nicht aufgeben darf." äußert Peter Chris Bürger, während er seine Kippe löscht.

Bürger lädt zu einem Besuch der Baustelle an der 800 Jahre alten St.-Jakob-Kirche an.

Zu Fuß geht es durch den Ort in Richtung der alten Kirche. Im kleinen Stadtzentrum herrscht reges Treiben. Die ausländischen Besucher werden von den Einheimischen sehr freundlich aufgenommen. Das Menschenrechtszentrum Cottbus e.V unter der Leitung von Silvia Wähling, ein Verein zu dem vorwiegend ehemalige politische Gefangene der DDR angehören, Peter Chris Bürger zählt auch dazu, hilft finanziell, die St-Jakob Kirche zu sanieren. Es gibt viel zu tun.

Abwandern oder Bleiben?

Drei Freiwillige, zwei junge Männer aus Berlin sowie ein muslimisch-kurdischer Flüchtling, der in NRW lebt, haben dieser Tage ganze Arbeit bei der Restauration geleistet. Patrick, ein junger Mann aus dem Szene-Bezirk Friedrichshain, dessen größter Wunsch es war, sich vor Ort für kurdische Belange zu engagieren, führt mich durch die Baustelle, deren Umgebung einer Trümmerlandschaft gleicht, teils hervorgerufen durch die Kriegshandlungen, teils durch den Zahn der Zeit.

Nur wenige Meter entfernt steht das neue Jugendzentrum kurz vor seiner feierlichen Eröffnung. Silvia Wähling dekoriert die nagelneuen Räumlichkeiten, inklusive Bar und Billiardtische, mit Weihnachtsschmuck. Dieses Gebäude wurde von der chaldäischen Diaspora-Gemeinde, zusammen mit dem Cottbuser Menschenrechtszentrum finanziert.

Am Abend der feierlichen Eröffnung platzt das Jugendzentrum aus allen Nähten. Die gesamten Honoratioren der Stadt sind anwesend, neben feierlichen Reden, werden Tuniere in Billiard und Tischtennis ausgetragen, wobei Vasilis Diamantis, der griechische Juwelier, der in seiner Jugend ein preisgekrönter Billiardmeister war die Geschenke gesponsert hat, welche auf einem Art Gabentisch präsentiert werden und von den Jugendlichen sehnsuchtsvoll begutachtet werden. "Dieser Ort soll eine Anlaufstelle für das soziale Leben in Telskuf werden, denn neben mangelnder Sicherheit und fehlendem Einkommen, sind fehlende soziale Aktivitäten ein häufiger Grund, warum junge Leute in Städte abwandern oder gleich ins Ausland gehen", begründet Silvia Wähling das Engagement vor Ort.

Bezüglich der Restauration der St.-Jakob-Kirche gibt sie zu bedenken: "Kirchen sind für die Christen im Orient identitätsstiftend. Für die Menschen im Irak, die schon so lange von Krieg und Terror heimgesucht werden, ist die Sanierung einer Kirche ein Zeichen von Hoffnung. Unser Traum ist es, nächstes Jahr Weihnachten in der St.-Jakob-Kirche feiern, zu können, so wie wir dieses Jahr in der chaldäisch-katholische Kirche St. Georg die Messe zelebrieren, die im neuen Glanz erstrahlt. Es ist das erste wiederaufgebaute Gotteshaus nach der Zerstörung durch den sogenannten "Islamischen Staat".

Diese Kirche befindet sich gleich gegenüber vom Jugendzentrum und war beim Einmarsch durch den IS schwer zerstört wurden. "Damals waren IS-Parolen unter anderem auf Deutsch an die Wände geschmiert", erinnert sich Chris Bürger. Am Abend sitzen wir im Casino, so nennt sich eines der wenigen Restaurants der Stadt. Ein junger Mann, Zahnarzt aus Telskuf, spricht mich in fließendem Englisch an, erkundigt sich nach Visa für Deutschland, nach den Möglichkeiten zur Auswanderung. "Wir sind hier doch nicht sicher, ich muss an meine Familie, an meine Kinder denken!" Ein Bekannter von ihm, ebenfalls Arzt, fügt hinzu, dass für ihn ein Leben im Westen nicht in Frage käme, so viel könne er sagen, nach einem Aufenthalt in Kanada.

Einige Stunden zuvor, hatte mich im Jugendzentrum ein Informatiker angesprochen, wie es um seine Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bestellt sei, worauf ich ihm keine befriedigende Antwort geben konnte.

Die kurdischen Checkpoints markieren einen Gebietsanspruch

Der Heiligabend beginnt mit einem Wetterwechsel. Es ist kalt geworden, kalt und nass. Auf Anregung und Initiative von Patrick, dem Freiwilligen aus Berlin, macht sich die Gruppe auf, die Peschmerga in den Checkpoint von Telskuf mit Weihnachtsgeschenken zu überraschen. "Diese Männer haben nicht nur den IS vertrieben, sondern beschützen auch seit Jahren die Stadt", sagt Patrick. "Als Dank dafür erhalten Sie von uns die Geschenke, unter anderem Essen und einen Teppich - denn an einem weiteren Checkpoint müssen sie auf dem Boden schlafen."

Die kurdischen Kämpfer reagieren sehr erfreut und bereiten uns in ihren spartanischen Unterkünften einen herzlichen Empfang. Viele dieser Männer standen gegenüber den IS-Truppen in direkten, blutigen Kampfhandlungen. Die meisten Soldaten stammen aus verschiedenen Regionen der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, die flache Landschaft der Ninive-Ebene mit ihren christlich-aramäischen Bewohnern ist ihnen eigentlich fremd.

Die Checkpoints, die mit dem Bild des Präsidenten Barzani und den kurdischen Flaggen ausgestattet sind, stellen auch so etwas wie einen Gebietsanspruch da, gegenüber der Regierung in Badgad, von der man sich in Erbil immer weiter emanzipiert. Vasilis Diamantis ehrt die Peschmerga, von denen viele Muslime sind, mit Kreuzen, die er speziell für diesen Aufenthalt angefertigt hatte. "Die Männer verteidigen nicht nur die chaldäischen Dörfer in der Ninive-Ebene, nicht nur die Kurden im Irak, nein, sie schützen auch uns in Europa!", begründet der Juwelier seine Initiative.

Als der Chef der gemischt religiösen Gruppe auch für sich und seine muslimischen Kollegen ein Kreuz forderte, wird das von allen Seiten mit großer Freude registriert. Der Oberst berichtet, während der obligatorische Tee gereicht wird, dass die IS-Kämpfer mit fanatischer Todesbereitschaft kämpften und dass deren Waffenarsenal von Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten finanziert wurde.

Auch bei diesen Peschmerga, diesen kurdischen Kämpfern, die den Tod immer wieder in die Augen blicken, wird Unverständnis darüber geäußert, weshalb der Westen und der Führung der USA mit diesen Staaten paktiert. Die Peschmerga zeigen mir bereitwillig ihre Waffen, neben den obligatorischen Kalaschnikows auch ein paar Panzerfäuste und Schnellfeuerwaffen. Die schiitische Al-Haschd asch-Schaʿbī t Miliz, die nur 5 Kilometer entfernt stehen soll, aber unsichtbar erscheint, sei auf jeden Fall viel besser bewaffnet, wird betont .Niemand der Anwesenden hat Zweifel daran, dass diese Miliz von der Regierung in Bagdad entsandt wurde, um eines Tages den Kurden die umstrittenen Gebiete des Nordirak abspenstig zu machen.

Wir verabschieden uns. Über der Ninive-Ebene liegt jetzt ein Nebel-Dunst und taucht die Landschaft in eine düstere Agonie.

Der Weihnachtsgottesdienst an diesem Heiligen Abend wird allerdings in jener liturgischen Pracht entfaltet, die dem orientalischen Christentum zu eigen ist und welche in Europa durch den Tanz um das goldene Kalb längst abhanden kam. In der St.-Georg-Kirche werden die Sitzplätze knapp. Die anwesenden Gäste, es scheint der ganze Ort da zu sein, darunter viele ehemalige Bewohner der Stadt, die längst im Ausland leben, sind festlich gekleidet. Eine feierliche Stimmung macht sich breit, der Gottesdienst wird in Aramäisch abgehalten, während draußen vor der Tür die Peschmerga mit entsicherten Gewehren den Schutz der Weihnachtsfeier garantieren, nicht ohne dabei ihren Blick von der in Dunkelheit versunkenen Ninive-Ebene abzuwenden, von dort, wo vor einigen Jahren wie aus dem Nichts die Truppen des IS auftauchten.

Während die Gläubigen in der Kirche wieder in einen ihrer Gesänge einstimmen, fällt mir die Frage des Peschmerga-Oberst von heute Vormittag wieder ein: "Weshalb paktiert der Westen mit Staaten wie Saudi-Arabien und den Emiraten, mit deren Geldern doch die Waffen des IS finanziert wurden und werden?"