Pflege im Notstand

Christie Watson. Bild: Lottie Davies

Christie Watson über die Arbeit als Krankenpflegerin und die alarmierende Situation im Pflegebereich

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West- und Mitteleuropas Bevölkerung altert. Auf den ersten Blick eine schöne Sache, denn man hat mehr vom Leben. Doch mit zunehmendem Alter nimmt die Mobilität ab. Der Bedarf an Unterstützung im Alltag wächst. Nicht alle Tätigkeiten können Angehörige oder ungelernte Kräfte übernehmen. Es fehlen in Deutschland Pflegekräfte.

Bundesgesundheitsminister Spahn schlägt Untergrenzen für Krankenhäuser vor, um Unterbesetzungen auszuschließen. Zudem nimmt er die Pflegekräfte in die freiwillige "Pflicht", pro Woche drei bis vier Stunden mehr zu arbeiten. Wie soll das aber gehen, wenn bereits viele Dienste und Krankenhäuser am Limit arbeiten?

Wäre es nicht an der Zeit, die Attraktivität des Pflegeberufs durch eine Bundeskampagne zu erhöhen? Statt viel Geld in die Rekrutierung des Militärnachwuchses zu investieren, wäre es vielleicht eine Idee, die Haltestellen und Bahnhöfe der Republik mit Pfleger-Weiß statt Soldaten-Grün zu beschmücken? Bislang beschränkt sich diese Werbung auf bestimmte Regionen.

Im Vereinigten Königreich sieht es nicht besser aus: Christie Watson arbeitete über zwei Jahrzehnte als Krankenschwester und ist nun freie Autorin. Mit ihrem aktuellen Buch "Die Sprache der Menschlichkeit. Wie wir Kranke wieder als Menschen wahrnehmen und nicht als Patienten" versucht sie, auf Wesentliches aufmerksam zu machen: Wie kann kranken Menschen auf menschliche Weise geholfen werden?

Wie teilen Sie Ihre Arbeit zwischen Schreiben und Krankenpflege auf?

Christie Watson: Ich finde, diese beiden Berufe ergänzen sich hervorragend. Krankenpflege und Schreiben weisen viele Gemeinsamkeiten auf: Beide Tätigkeiten haben mit Geschichten zu tun. Beide Tätigkeiten versuchen, einen tieferen Sinn zu finden. Es geht um das Leben, Verlust, Trauer. Beide Tätigkeiten versuchen, mit diesen Phänomenen des Lebens zurechtzukommen. Ich bin überzeugt, dass meine Tätigkeit als Krankenschwester mein Schreiben beeinflusst hat und dass mein Schreiben wiederum meine Arbeit beeinflusst.

Sie arbeiten nicht mehr in der Pflege?

Christie Watson: Nein. Ich hätte das fortgesetzt, wenn ich gekonnt hätte. Mir fehlte aber die Zeit. Deshalb entschied ich mich, die Krankenpflege aufzugeben. Ich nutze das Schreiben, um weiterhin über Krankenpflege zu sprechen. Ich denke, dass beide sich ähnlicher sind, als viele Menschen denken.

Interessante Beobachtung. Aber ich kann mir vorstellen, dass sich viele Krankenpfleger und -schwestern mehr im Alltagstrott befinden und sich über lebenserhaltende Maßnahmen und verschiedene medizinischen Geräte informieren. Sich nicht so sehr um die tiefere Bedeutung von Leben und Tod kümmern.

Christie Watson: Ich denke, es ist wie bei anderen Jobs auch, dass du im Berufsalltag nicht zu viel nachdenken kannst, sondern die anfallende Arbeit erledigen musst. Ich denke aber, dass es zunehmend Krankenschwestern gibt, die über den Beruf nachdenken.

Inwiefern?

Christie Watson: In den letzten Jahren häufen sich Überlegungen zum Arbeitsstil und zur Methode. Angesprochen sind hierbei die so genannte engagierte Führung und engagierte Pflege ("passionate").

Im Vereinigten Königreich gehört zur Ausbildung einer Krankenschwester dazu, dass man Erfahrungsberichte und Protokolle verfasst. Vielleicht sind manche dieser Texte schlecht. Aber es soll zumindest zeigen, dass das Pflegepersonal in der Lage ist, quasi-akademische oder philosophische Texte zur beruflichen Praxis verfassen zu können.

Ich habe auch bereits in der Pflege-Assistenz gearbeitet. Ich kenne das: Man sollte dokumentieren, was mit dem Patienten geschieht, in welcher Verfassung er an diesem Tag ist etc.

Christie Watson: Hier im UK machen wir das genau so. Aber wir müssen ein regelrechtes Tagebuch mit Berichten verfassen. Darin reflektieren wir, was möglicherweise an diesem einen Tag gar nicht geklappt hat, welche Verbesserungen möglich wären. Das ist für den Job auf jeden Fall wichtig. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ich bin überzeugt, dass es dir die Augen für das tägliche Leben öffnet. Die Kostbarkeit des Lebens wird deutlich. Krankenpfleger oder -schwester zu sein, ermöglicht es dir, ein kritisches Leben zu führen.

"Sprache der Menschlichkeit"

War das Thema Krankenpflege von Beginn an klar?

Christie Watson: Als ich mit dem Schreiben begann, schrieb ich zwei Romane. Mein erster Roman behandelte eine junge Frau, die in Nigeria aufwuchs. Also ein ziemlich anderes Thema. Dieser erste Roman verkaufte sich gut und gewann auch einen Preis ("Tiny Sunbirds Far Away"). Dann schrieb ich noch einen zweiten Roman, der sich viel mit Kindeswohl und -gesundheit auseinandersetzt ("Where Women Are Kings", 2015). Natürlich sind meine Erfahrungen als Krankenschwester in all meine Bücher eingeflossen.

Das neue Buch ist ein Sachbuch und spricht Krankenpflege direkt an. Warum jetzt?

Christie Watson: Ich hatte bis vor kurzem nie mit dem Gedanken gespielt, direkt über Krankenpflege zu schreiben. Ich wollte keine Fiktion schreiben und sagte meiner Agentin, dass ich vielleicht einen Bericht zum Thema schreiben könnte. Sie schlug mir dann vor, einen Rückblick auf meinen früheren Beruf zu wagen. Es gibt bislang nicht viel Literatur von Krankenschwestern, sondern vor allem Bücher von Ärzten, die ich immer sehr gerne lese.

Diese Erfahrungen in einer quasi literarischen Sprache aufzubereiten, habe ich noch nicht so häufig angetroffen.

Christie Watson: Ich denke, der Grund, warum es bislang keine erzählerische Non-Fiction von Krankenschwestern gegeben hat, hängt von der Schwierigkeit ab, Erfahrungen in der Pflege sprachlich zu fassen. Ich frage mich, ob aus diesem Grund Kranken- und Altenpflege so unterschätzt wird, weil es nicht einfach ist, die richtigen Worte zu finden?

In Ihrem Buch nennen Sie es "Sprache der Menschlichkeit". Wieso?

Christie Watson: Ich wählte die "Sprache der Menschlichkeit", weil ich denke, dass dies der Kern des Pflegeberufs ist.

"Der Zeitfaktor ist ein Riesenproblem"

In Deutschland gibt es zumindest in der ambulanten Pflege eine streng eingeteilte Zeitschiene. Da darf das Zähneputzen in der Pflege nicht zu lange dauern. Time is money, könnte man da wirklich denken!

Christie Watson: Zeit ist aber gerade jenes Gut, das die Patienten am meisten schätzen. Es fängt mit kleinen Dingen an: die Temperatur messen, den Blutdruck bestimmen, die Hand eines Patienten halten. Den geistigen Zustand eines Patienten einschätzen, ihren Gesundheitsstatus abfragen, die Lage vor Ort ermitteln, die Entscheidung treffen, ob dieser Patient wirklich nach Hause entlassen werden darf. Das sind alles wichtige Vorgänge, die von außen vielleicht nur wie Kleinigkeiten ausschauen.

Dabei arbeiten die Pflegekräfte die ganze Zeit wie Detektive, versuchen das Gesamtbild einzufangen, und die Krankheit des Patienten ist nur ein kleines Teil eines wirklich großen Puzzles.

Das ist ein ziemlicher Anspruch, der aber nicht ausreichend honoriert wird.

Christie Watson: Der Zeitfaktor ist ein Riesenproblem. Nicht nur in Deutschland oder im UK, überall auf der Welt. Pflegepersonal hat schlicht zu wenig Zeit, um die wirklich wichtigen Dinge zu erledigen. Andere mögen das als vernachlässigbar einschätzen. Aber das stimmt so nicht. Kranken- und Altenpflege ist keine einfache Tätigkeit.

Wie sieht es aber unter Zeitdruck aus?

Christie Watson: Man sieht bedrohliche Entwicklungen, in ganz Europa. In der Privatwirtschaft zeigt sich dieses Problem schon länger. Wir haben einen Personalmangel von 42.000 Menschen. In den Vereinigten Staaten werden im Jahr 2030 1 Million Pflegekräfte fehlen. Ich bin überzeugt, dass das ein allgemeines Problem ist, ein politisches vor allem.

Der Notstand müsste also dort behoben werden?

Christie Watson: Das reicht noch tiefer. Es fehlt an Personal. Als ich im Schichtdienst war, konnte ich es mir häufig nicht leisten, zu essen oder kurz auf Toilette zu gehen, da die Situation im Krankenzimmer das nicht zuließ. Es ist ziemlich üblich, 12-Stunden-Schichten zu arbeiten, ohne Pausen einlegen zu können. Wenn der Patient dich braucht, ist es schwer, sich zu einer wohlverdienten Pause zu entfernen. Du kannst auch keinen Feierabend machen, wenn keine Ablösung kommt. Die Krankenschwestern arbeiten heute noch härter, in einer Zeit, in der wir noch dringlicher Pflegepersonal benötigen.

Woran liegt dieses Problem? Gibt es Auswege?

Christie Watson: Junge Menschen wollen keinen Beruf in der Pflege wählen. Es gehen mehr Pfleger*innen in die Rente, als nachkommen. Das hängt einerseits von den Arbeitsbedingungen ab, andererseits aber auch vom Wertewandel in der westlichen Welt. Die Wertschätzung von Geld, Macht und äußerer Schönheit geht möglicherweise in eine falsche Richtung und die Werte, die der Pflege zugrunde liegen, wie Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen, werden weniger geachtet. So sind diese Werte für weniger Menschen bei der Berufswahl ausschlaggebend.

Der Pflegeberuf vertritt Werte, die von der Politik nicht hoch gehalten werden

In Deutschland fehlen mindestens 80.000 Pfleger*innen. Eine Studie spricht gar von 100.000 Fachkräften. Das Problem ist für manche die Bezahlung, aber vielleicht auch, weil der Beruf als anstrengend und wenig attraktiv gilt.

Christie Watson: Seit zehn Jahren schreibe ich und habe währenddessen zahlreiche Regierungswechsel in Europa mitbekommen. Vor allem im rechtspopulistischen Spektrum tut sich da einiges. Ich denke, dass dies auch unser gemeinsames Wertesystem verändert hat. Das wirkt wie ein Angriff auf den Pflegeberuf, der andere Werte vertritt, die eben von der Politik nicht besonders hoch gehalten werden.

Denken Sie denn, dass die Gesundheitsbranche empathische Menschen als Arbeitskräfte ausnutzt?

Christie Watson: Ja, durchaus. Ich denke, dass sich Menschen, die freundlich und empathisch sind, meist bescheiden und zurückhaltend benehmen. Sie wehren sich nicht so lautstark. Inzwischen befinden wir uns aber in einer Lage, die von uns fordert, sehr laut zu werden. Sonst werden es am Ende die Patienten ausbaden müssen! Es kann jeden von uns treffen, dass wir uns auf Fremde verlassen müssen, die unsere Hand in einer schwierigen medizinischen Situation halten. Ich denke, dass die Pflege zu den am meisten unterschätzten Berufen gehört.

Hat Ihr Buch in der Branche etwas bewirken können?

Christie Watson: Ja. Das Buch erhielt allgemein gute Reaktionen. Der damalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt schrieb mir zum Beispiel einen Brief, wie sehr er das Buch geliebt habe. Das war eine ziemliche Überraschung, weil die Politik ganz anders ausschaut. Aber er schrieb einen wirklich enthusiastischen Brief. Ich arbeite jetzt mit einigen Abgeordneten vom House of Lords zusammen.

Um was geht es dabei?

Christie Watson: Es findet gerade eine globale Kampagne unter dem Titel "Nursing Now!" statt. Sie arbeitet in verschiedenen Ländern und versucht, das Ansehen der Pflege wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Ich bin glücklich, dass ich Unterstützung aus verschiedenen politischen Lagern erhalte. Ich dachte erst, das würde ein ziemlich kleines Buch bleiben.

Viele Menschen verdrängen Pflege als nicht notwendig. Erst, wenn man alt, gebrechlich und/oder krank ist, spielt die Pflege eine Rolle.

Christie Watson: Das trifft auch auf mich zu, obwohl ich seit Jahren als Krankenschwester arbeite. Erst als mein Vater starb, habe ich mich auf der anderen Seite des Zauns wieder gefunden. Seine Krankenschwester hat mich auf das Thema des Buches gebracht. Indem ich ihr bei der Pflege zuschaute, wurden mir viele Sachen erst deutlich.

Welche konkret?

Christie Watson: Erst ihr Beispiel hat mich den Beruf wirklich schätzen gelehrt. Sie zeigte mir durch ihre Arbeit und ihre ständige Erreichbarkeit, was es heißt, diesen Beruf wirklich auszufüllen. Sie kam auch zu seiner Beerdigung. Alles, was sie leistete, war ein unbeschreiblicher Dienst, aber das gehörte zu ihrem Selbstverständnis als Krankenschwester. Aber erst, wenn du in deinem Leben ein einschneidendes Erlebnis hast, wirst du dir dieser Dienste wirklich bewusst.

Nähe und Distanz

Das stellt die Frage nach Nähe und Distanz zu einem Patienten. Wie sehr sollte die Pflegerin oder der Pflege im Beruf aufgehen?

Christie Watson: Das ist eine sehr interessante Frage. Dazu habe ich mir viel Gedanken gemacht. Früher dachte ich, dass du einen gewissen Abstand einhalten solltest, um den Beruf effizient ausüben zu können und eine gewisse Professionalität zu bewahren. Heute habe ich eine andere Meinung. Das Beste, was du machen kannst, ist, den Patienten zu zeigen, dass du sie begleitest, dass du dich mit ihnen auf einer Reise befindest.

Was heißt das konkret?

Christie Watson: Wenn dir als Krankenschwester zum Weinen zumute ist, dann solltest du diese Tränen nicht zurück halten. Die Patienten nehmen wahr, dass da ein Mensch in ihrer Nähe ist, der auch Gefühle zeigen kann. Ich habe diese Gefühle immer unterdrückt, aber ich denke, es ist für die Pfleger*innen gesünder, sich selbst in die Beziehung mit den Patienten zu geben. Natürlich ist das gefährlich, täglich so viele Gefühle von dir preiszugeben. Aber das macht den Beruf einmal aus!

Es unterscheidet sich von der Stempeluhr, weil man sich auf die Menschen einlassen muss und nicht pünktlich den Schachtdeckel schließen kann.

Christie Watson: Ich denke, dass dich jeder Patient, den du pflegtest, begleiten wird. Du kannst nicht einfach so Zeit mit Menschen verbringen, wenn sie sich in den extremsten Situationen befinden, ohne etwas von dieser "Intensität" zu spüren. Manchmal tauchen Patienten aus der Vergangenheit auf und diese Patienten werden Teil deines Gedächtnisses. Sie werden nie ganz verschwinden. Auf die gleiche Art und Weise werden sie sich ihrer Pflegerin entsinnen, die sich damals um sie kümmerte.

Falls man nicht abschalten kann, wird das auf die Partnerschaft und Familie sicher keinen guten Einfluss nehmen?

Christie Watson: Ich weiß nicht. Auch wenn du mit Abstand an den Beruf gehst, kann das Folgen haben. Ich habe einige Menschen - Ärzt*innen und Pfleger*innen - kennen gelernt, die verschiedene schlechte Bewältigungsstrategien entwickelten: Sei es schwarzer Humor oder eine gewisse Art von emotionaler Abstumpfung.

Wie war das bei Ihnen?

Christie Watson: Ich hatte eine Phase, in der ich gegenüber den Alltagsproblemen meiner Freunde ignorant war. Das Baby einer Freundin weinte die ganze Nacht und ich dachte mir: Solange es weinen kann, wird es keinen Schaden davon tragen. Ich denke, das ist ein Beruf, der dir sehr viel abverlangt, aber auch viel zurückgibt. Wenn du die Sachen, die dir der Beruf zurückgibt, auch verstehst, werden sie dir vielleicht die Augen für bessere Beziehungen öffnen.

Wie genau?

Christie Watson: Man schätzt die Freunde und Familie viel mehr. Ich küsse meine Kinder jeden Abend und danke für jeden schönen Tag, den wir miteinander verbringen können, weil ich weiß, dass nicht jede Familie so viel Glück hat.

"Die Menschen kommen heute mit einer Vielzahl an Problemen in die Klinik"

Das würde ich als soziales Wissen bezeichnen, das neben dem technischen Wissen wichtig für diesen Beruf ist. Wie sehen Sie das?

Christie Watson: Seit ich in dem Beruf bin, hat sich nicht so viel in der Ausbildung verändert. Aber die Patienten haben sich enorm verändert. Sie kommen mit einer Vielzahl an Problemen in die Klinik. Sie kommen nicht einfach mit Diabetes oder Asthma. Das kann leicht mit Medikamenten und entsprechenden Techniken behandelt werden. Aber sie kommen heute mit einer Vielzahl an Problemen zu uns. Es ist ein komplexer Mix aus emotionalen und gesundheitlichen Problemen. Dazu kommt, dass viele Patienten in einem zerrütteten geistigen oder einem miserablen körperlichen Zustand eintreffen.

Wie gehen die Fachkräfte damit um?

Christie Watson: Man kann Menschen nicht mehr in Scheiben schneiden, sondern du musst das Gesamtbild im Blick behalten. Auch in Kindertagesstätten tauchen jetzt Kinder mit acht, neun verschiedenen Krankheiten auf. Die geistige Hygiene befindet sich im UK in einer schweren Krise. Ich bin sicher, das trifft auch auf Deutschland zu? Besonders die geistige Gesundheit von jungen Menschen wurde lange Zeit unterschätzt. Heute sind es meistens Teenager, die selbstverletzende Handlungen vornehmen oder bei denen sich erste Episoden einer Psychose abspielen.

Was kann man tun?

Christie Watson: Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir nach den Menschen schauen. Wir trennen immer noch in verschiedene Disziplinen in der Pflege und die Fachkräfte fühlen sich vor allem für ein spezielles Gebiet zuständig. Aber es kommt darauf an, die verschiedenen Methoden und Therapien zu beherrschen und jeweils in der richtigen Situation anzuwenden.

In Betreff auf die Jugendlichen werden verschiedene Faktoren mitspielen. Technologien sind sicher wichtig bei dieser "Formung" und wenn da Wärme fehlt, kann das auch noch in eine schwierige Ecke drängen.

Christie Watson: Ich nehme die Gegenwart so wahr, dass viele Menschen zunehmend einsamer werden. Ich muss sagen, dass ich noch keinen Weltkrieg durchleben musste, diese schwere Erfahrung fehlt mir also. Viele der alten Menschen, die ich pflegte, erzählten mir davon.

Aber heute sieht das anders aus?

Christie Watson: Die Einsamkeit nimmt zu. Die Kriege hinterließen sicher schwere Spuren, aber heute bereitet die Isolation große Probleme. Uns fehlen immer noch belastbare Zahlen zur geistigen Gesundheit. Wie Sie schon meinten, ist das ein sehr komplexer Mix. Technologie spielt auf jeden Fall eine Rolle. Es ist auf jeden Fall sehr beunruhigend!

Vielleicht liefert Watsons Buch erste Antworten? Was sie im Interview übersieht, ist ihre unausgesprochene Forderung, den Beruf mit nach Hause zu nehmen, stets an das Wohl der anvertrauten kranken Menschen zu denken - aber kann das ein Arbeitnehmer leisten? Muss sie das überhaupt?

Im Interview mit Laura Wiesböck wurde diese Grenzauflösung im Privatleben bereits diskutiert. Für den hohen Zweck - die Gesundheit eines ganzen Landes steht auf dem Spiel! - werden die Mittel der ständigen Bereitschaft und Beschäftigung eingesetzt und wie bekannt heiligen die Mittel den Zweck. Ob das eine gute Lösung ist, ist fraglich.

Die Sprache der Menschlichkeit ist ganz sicher ein Anfang, ein Dialog - zwischen zwei Menschen, wovon beide nehmen und geben. Einfach wird dieses Verhältnis nie werden. Der Verlust der eigenen Körper- und Geisteskraft ist ein Schock, der aber gerade durch Verständnis ein Stück weit aufgefangen werden kann. Ohne qualifiziertes Personal wird das aber schwierig werden. Vielleicht fehlt an den entsprechenden Stellen immer noch der Blick für das Wesentliche? Oder anders formuliert: Wer tut was gegen den Notstand?