Interview: "Der Wunsch nach Weiterbildung liegt nicht in Genen"

Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Bonn, über die Herausforderung lebenslangen Lernens.

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"Der Wunsch nach Weiterbildung liegt nicht in Genen"

(Bild: BIBB)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Bernd Müller

TR Extra: Wie kann man junge Menschen ausbilden für Berufe, die es heute noch gar nicht gibt?

Friedrich Hubert Esser: Das BIBB führt regelmäßig Berufsfeldstudien, sogenannte Projektionen, durch. Damit versuchen wir, Tendenzen für die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen einzufangen. Dem sind natürlich Grenzen gesetzt. Von daher ist es wichtig, in den Aus- und Fortbildungskonzepten über die antizipierbaren Fachqualifikationen hinaus vor allem auch solche Qualifikationen zu berücksichtigen, die nicht konkret auf bestimmte Fachkompetenzen abstellen, sondern fachübergreifend angelegt und deshalb vom Strukturwandel relativ unberührt bleiben. Die Rede ist von den sogenannten Schlüsselqualifikationen, deren Bedeutung im Kontext der Digitalisierung noch einmal zugenommen hat.

Welche Schlüsselqualifikationen müssen Menschen künftig haben?

Neben Flexibilität, Kreativität, Kommunikations- und Teamfähigkeit oder Prozess- und Systemverständnis ist die Selbstlernfähigkeit immer wichtiger, weil einmal Gelerntes im Zeitablauf durch den Strukturwandel schneller veraltet und unter Umständen sogar irrelevant wird. Ein Beispiel: Die Tätigkeit eines Berufskraftfahrers hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert; allen dürfte jedoch klar sein, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es autonom fahrende LKW gibt. Dieses Beispiel macht deutlich: Jeder Mensch sollte regelmäßig prüfen, ob seine Kompetenzen zukunftsfest sind. Änderungen in den Arbeitsanforderungen oder auch Karriereüberlegungen sind häufig Anlass dafür, weiter lernen zu müssen. Und das funktioniert am besten, wenn man dies selbständig bewerkstelligen kann. Um alle dabei wirkungsvoll zu unterstützen, muss die Förderung der Selbstlernkompetenz Standard in den maßgeblichen Curricula unseres Bildungssystems sein — angefangen vom Kindergarten über Schule und Ausbildung oder Studium bis in das Weiterbildungssystem hinein.

Warum kommt man erst jetzt darauf?

Diese Erkenntnis ist in der Bildungsforschung nicht neu. Sie hat sich allerdings noch nicht auskömmlich in den Bildungsstrukturen niedergeschlagen. Das ändert sich gerade, weil insbesondere die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft fortschreitet und Qualifikationen deshalb immer schneller überholungsbedürftig werden. Um Schlüsselqualifikationen wirkungsvoll unterrichten zu können, müssen sie allerdings präzise formuliert und sichtbar in den Ausbildungs- und Lehrplänen verankert sein.

Wie könnte so etwas in der Schule gelingen?

Der traditionelle Unterricht bei Einführung in ein neues Thema sieht vor, dass Grundlagenwissen im Frontalunterricht doziert wird, was entsprechend von den Schülerinnen und Schülern durch Zuhören oder Mitschreiben aufzunehmen ist. In neueren Unterrichtskonzepten erarbeiten Lerngruppen sich die Einführung in ein Thema eigenständig. Die Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler macht dabei das Lernen effizienter. Lehrende nehmen hier eine andere Rolle ein. Sie moderieren und managen das Arbeiten von Lerngruppen. Generell geht der Trend weg vom Frontalunterricht hin zu dieser Form des selbstständigen und begleiteten Lernens. Das heißt jedoch nicht, dass der Frontalunterricht gänzlich in die Mottenkiste gehört. Welche Unterrichtsform die Beste ist, hängt auch in Zukunft von den Zielgruppen und den Lehr-/Lernthemen ab, die unterrichtet werden sollen.

Welche Rolle spielt Technologie beim Lernen?

Digitale Technologie fördert insbesondere das individuelle und flexible Lernen. Die Verfügbarkeit über Internet und mobile Endgeräte ist fast flächendeckend. Künftig werden Augmented- und Virtual Reality-Möglichkeiten mehr und mehr zum Standard für das Lehren und Lernen werden. All das erleichtert den Zugriff auf Online-Lernangebote mit den Inhalten, die genau den individuellen Ansprüchen genügen. Und es erlaubt dies an beliebigen Orten zu beliebiger Zeit. Im Betrieb kann man beispielsweise Leerzeiten für das Lernen nutzen, genauso wie das virtuelle Lernen zu Hause aufwendige Wege in eine Weiterbildungseinrichtung ersparen kann.

Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich bei der beruflichen Qualifizierung?

Deutschland steht nicht schlecht da. Dass wir zum Beispiel Exportweltmeister sind, ist auch ein Ergebnis von guter Bildung und Qualifizierung in unserem Land. Aber es gibt noch Luft nach oben. Der Digitalpakt ist richtig, die Umsetzung dauert allerdings zu lange. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Weiterentwicklungen im Bildungssystem bei uns oftmals zu lange dauern, bis sie greifen. Hier müssen wir einfach schneller werden. Die Unternehmer müssen auch in Zukunft ihre Mitarbeiter für das lebensbegleitende Lernen sensibilisieren und motivieren. Es gilt, mit transparenten und flexiblen Weiterbildungsangeboten für ein gutes Personalentwicklung-Klima in den Betrieben zu sorgen.

(jle)