Analyse: Stadia & Co. werden Games verändern – aber anders als viele denken

Mit Googles Stadia ist ein gewaltiger Schritt in Richtung Game-Streaming zumindest angekündigt. Die weitreichenden Konsequenzen werden aber noch kaum bedacht.

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Analyse: Stadia & Co. werden Games verändern – aber anders als viele denken

Wie schwer werden Spiele für Streaming-Portale?

(Bild: Ubisoft)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Rainer Sigl
Inhaltsverzeichnis

Mit “Assassin’s Creed Odyssey” ins grafisch prachtvolle Griechenland der Antike eintauchen, und das ganz ohne aktuelle Konsole oder mächtigen Highend-PC: Was Google mit seiner Ankündigung von Google Stadia versprochen hat, ist für viele Spielerinnen und Spieler verlockend. Seit es Spiele gibt, sind die an ihre mal mehr, mal weniger teuren Hardware-Plattformen gebunden. Wer aktuelle Hochglanztitel spielen will, muss Geld in die Hand nehmen und/oder sich Know-how aneignen – so war das schon immer.

Eine Analyse von Rainer Sigl

Rainer Sigl schreibt und spricht seit über zehn Jahren über Videospiele, unter anderem für den österreichischen Radiosender FM4, die Tageszeitung Der Standard und sein eigenes Blog:

Streaming-Angebote wie das nun bei der GDC vorgestellte Google Stadia könnten das radikal ändern. Einen genügend schnellen Breitbandanschluss vorausgesetzt, bedeutet diese Vision der Games-Zukunft etwas Revolutionäres: Erstmals steht keine technische oder bedeutende finanzielle Hürde vor dem Eintauchen in die Welt der Videospiele. Das bedeutet jedoch nicht nur, dass sich Hardcore-Gamer die regelmäßige Aufrüstung ihrer Hardware oder die Investition in die neue Konsolengeneration sparen können. Es bedeutet vielmehr – und viel relevanter – die Öffnung eines durch traditionell hohe Einstiegshürden abgeschotteten Mediums für ein gewaltiges, neues und vor allem kaum mit Videospielen vertrautes Publikum.

Eine derartige Öffnung geschieht nicht zum ersten Mal. Als sich vor mehr als einem Jahrzehnt Smartphones und Tablets als globales Alltagsgerät durchsetzten, freute das zunächst alle Spielefreunde: Die zunehmend potenter werdenden Minicomputer in der Hosentasche waren perfekte Plattformen fürs Spielen. Der anfänglichen Genugtuung, sein Lieblingsmedium mit bedeutend mehr Menschen teilen zu können, folgten aber rasch Ernüchterung und zunehmend Groll vonseiten all jener, die sich schon bedeutend länger als Zielgruppe der Videospielindustrie verstanden: “Candy Crush” & Co, Social Games auf Facebook? Keine “echten” Spiele, so die empörte Abwehrreaktion.

Mehr noch: Was die Millionen neuer “Casuals” spielen, bedrohe den Rest der Industrie – die stürzte sich nämlich verstärkt auf die verpönten, aber lukrativen Konzepte aus dem neuen Riesenmarkt. Angesichts des Siegeszugs von Free-to-Play-Mechanismen auch auf Konsolen und PCs kann man diesen Warnungen gewisse Richtigkeit nicht absprechen.

Wenn es Google Stadia tatsächlich gelingt, Videospiele dank Streaming auf jedem noch so klapprigen Endgerät zu ermöglichen, vom Subnotebook bis zum Smart-TV, wird sich diese Geschichte in gewisser Weise wiederholen. Mit einer nochmals extremen Verbreiterung des Publikums wird mit großer Sicherheit auch eine Vereinfachung von Spielen in Sachen Zugänglichkeit und Mechanik einhergehen müssen. Und die Bedienung dieses neuen, globalen Riesenmarktes wird die Videospielindustrie noch weitaus mehr prägen (und ihr mehr Geld einbringen) als der Mobile-Games-Boom. Keine guten Aussichten für all jene, die sich schon jetzt über die “Casualisierung” ihres Mediums beschwert haben.

Doch nicht nur das größere Publikum wird die Spiele dieser schönen, neuen Streaming-Zukunft beeinflussen, auch die Art und Weise, wie diese verkauft werden, wird ihre Spuren hinterlassen. Die zentrale Technik, das latenzfreie Streaming selbst, ist dafür weniger relevant als die mit diesem Service verbundenen Geschäftsmodelle. Kommt das vielzitierte “Netflix für Spiele”-Modell, wird sich das auch direkt in den Spielen niederschlagen: Ein pauschales Abomodell, wie bei den bekannten Video- und Musik-Streamingdiensten, vergütet die Contentlieferanten nach gespielten Minuten.

Das würde naturgemäß hauptsächlich Spiele hervorbringen, die ihr Publikum möglichst lange am Bildschirm halten – ein Trend, den dominante Games-as-a-Service wie “The Division”, “Destiny” & Co längst vormachen. (Übrigens: Dass sich diese “Riesenspiele” trotz Streaming-Pauschale die höchst lukrativen In-Game-Verkäufe freiwillig verkneifen werden, ist eher unwahrscheinlich.)

Das sind schlechte Nachrichten für narrative (Singleplayer-)Spiele, die dramaturgisch dicht und “klassisch” eine durchinszenierte Geschichte erzählen. Blockbuster wie “God of War”, “Red Dead Redemption 2”, “The Witcher 3”, aber auch das von Google stolz als Showcase vorgestellte “Assassin’s Creed Odyssey” wären in einem derartigen Modell weitaus weniger lukrativ als MMO-Sandbox-Crafting-Shooter, in denen Grind und Interaktion mit menschlichen MitspielerInnen für möglichst lange Beschäftigung sorgen. All jene, die schon beim Schwenk von “Fallout 76” in Richtung MMO der guten, alten Zeit nachtrauerten, müssten sich auf den Abschied von vielen liebgewonnenen Genres und Franchises einstellen.

Kurzum: Ein pauschales Abomodell bedeutet noch mehr Games-as-a-Service mit zusätzlicher Free-to-Play-Monetisierung und maximaler Konzentration auf Langzeit-Engagement sowie Breitenappeal. Und zwar für das erwähnte riesige neues Publikum, für das klassische Komplexität in Bedienung und Gameplay vermutlich überfordernd ist. Das heißt simplere, auf lange Spieldauer designte Multiplayerspiele und weniger Einzelspieler-Titel mit aufwendiger Erzählung.

Mag sein, dass wer auch immer sich als Platzhirsch mit diesem Modell behaupten kann, seine Gewinne – wie Netflix – in prominente Eigenproduktionen steckt, die diesen Markt diversifizieren und auch weniger lukrative Nischen bedienen. Für eine Vielzahl an mittelgroßen Studios, die in den letzten Jahren schon an der Blockbusterfixierung der großen Publisher zu leiden hatten, bedeutet diese Entwicklung aber nichts Gutes.

Natürlich ist längst nicht ausgemacht, dass Games-Streaming zum Pauschalpreis, also das “Netflix für Videospiele” auf genau dieselbe Weise wie für Video und Musik realisierbar ist. Wahrscheinlicher ist, dass sich, zumindest in absehbarer Zeit, das Geschäftsmodell der Verkaufsplattformen Steam, PSN & Co einfach um Streaming erweitert: Statt die Spiele zu kaufen und lokal zu installieren, könnte man die Titel seiner Spielesammlung dann einfach streamen. Im Unterschied zu einem Pauschalmodell würde das das grundlegende Verhältnis zwischen Kunden und Herstellern weniger berühren.

Wie überhaupt, trotz Googles Marktmacht, mittelfristig eher mit einer weiteren Diversifizierung und Zersplitterung des Games-Marktes zu rechnen ist als mit der von Google implizierten Spielezukunft, in der man “einfach so” jedes beliebige Spiel streamen kann. Es wird wohl Streaming-Abomodelle mit vermutlich riesigen, zusätzlich auf In-Game-Transaktionen setzenden Games-as-a-Service geben; Verkaufsplattformen, die ihre Titel nicht nur zum Download, sondern gleich direkt zum Streaming anbieten; und ein Angebot für Hardware-Traditionalisten, die aus technischen Gründen, etwa im E-Sport oder wegen zu geringer Bandbreite, weiterhin auf lokale Rechenkraft setzen.

Alles ist offen; klar ist nur eines: Spielerinnen und Spielern stehen grundlegende Änderungen in Hinblick auf die Art von Spielen bevor, die die Industrie künftig als lukrativ erkennt und vermarktet. Ein derart weitreichender Umbau der Technik, die Öffnung des potenziellen Kundenkreises und die unterschiedlichen Anreize, wie sie die möglichen neuen Vertriebsmodelle nahelegen, werden dafür sorgen, dass sich der Markt des umsatzstärksten Unterhaltungsmediums merkbar verändert. (mho)