Starkes Statement für die sexuelle Selbstbestimmung

Bild: © Mathias Bothor / NFP

Der Film "Nur eine Frau" thematisiert den Ehrenmord an Hatun Sürücü - und ist dennoch eine Hommage an das selbstbestimmte Leben

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Alles in allem lässt sich der Film "Nur eine Frau" mit nur einem Adjektiv zusammenfassen: Gnadenlos. Gnadenlos wird das Publikum mit dem Mord an Hatun Sürücü konfrontiert; bis hin zur Einspielung von Originalfotos des Tatorts - inklusive Blick auf die mit weißem Tuch bedeckte Leiche der jungen Frau. Gnadenlos wird die dahinterstehende Motivation - in dem Fall religiöse Verblendung - aufgezeigt und das Ganze wird gnadenlos durch eine Riege mehr oder weniger bekannter Schauspielerinnen und Schauspieler brillant in Szene gesetzt.

Genau deswegen ist der Film gnadenlos gut; er hat eine hohe künstlerische Qualität, weshalb ihm, den Darstellern und der Protagonistin alle Filmpreise zu wünschen währen. Vor allem aber hat er einen aufklärerischen Charakter und sollte zum Pflichtprogramm an allen Schulen, im Grunde für uns alle werden. Völlig unaufgeregt, ohne erhobenen Zeigefinger, dafür aber umso eindrücklicher, wird eine Lebenswelt geschildert, die der Mehrheit der Menschen in unserem Land verschlossen ist, die aber zunehmend und ganz subtil mehr und mehr an Einfluss gewinnt. Ein Umstand, dessen Tragweite für Frauen und Mädchen in muslimischen Communities, aber auch für Jungen und Männer, die aus der Reihe tanzen, aber letztlich für unsere gesamte Gesellschaft, die wenigsten erfassen.

Das Problem ist heute aktueller denn je

Hatun Sürücü, von allen Aynur genannt, wurde von ihrem Bruder Ayhan (im Film Nuri) erschossen, weil sie sich aus dem engen Korsett ihrer streng religiösen Familie befreite und sich ein eigenständiges Leben erkämpft hatte: Sie lebte, sie lachte, sie liebte, sie ging tanzen, hatte einen großen Freundeskreis, eine feste Beziehung, machte eine Ausbildung in einer Männerdomäne, sie wollte Elektro-Installateurin werden, und erzog ihren Sohn Can zu einem offenen, fröhlichen kleinen Kerl.

Nur eine Frau (8 Bilder)

Bild: © Mathias Bothor / NFP

Ihr "westlicher" Lebensstil sowie die fixe Idee ihrer Brüder, den Sohn vor dieser "verwahrlosten" Mutter, der "Hure", retten zu müssen, führten schließlich zu der Tat. Drei Wochen, bevor sie Berlin verlassen hätte. Ausgeführt wurde der Ehrenmord - entsprechend der Tradition - von dem jüngsten Bruder. Es ließ sich vor Gericht nicht beweisen, vielleicht konnten die Richter sich das auch einfach nur nicht vorstellen, aber die Ermordung Hatun Sürücüs wurde vermutlich von ihrer gesamten Familie beschlossen; in jedem Fall wurde er von der gesamten Familie getragen und der Täter und seine Hintermänner geschützt.

Genau das ist der Unterschied zwischen einem Ehrenmord und einem Mord an Frau und/oder Kind/er in der Mehrheitsgesellschaft: Mord ist gesellschaftlich geächtet, Mörder werden verfolgt, juristisch belangt und verurteilt. Zumindest in aller Regel. Ehrenmorde finden statt in zutiefst patriarchal strukturierten Gesellschaften, in denen nicht individuelle Lebensentwürfe , sondern die strengen Regeln des Kollektivs, der Familie, der Sippe, des Clans, der Community, des jeweiligen Landes gelten, gegen die nicht verstoßen werden darf. Diese Strukturen sind nicht nur - aber auch - in der islamischen Welt zu finden.

In islamischen Ländern ersetzt die Scharia ein weltliches Justizwesen. Die Scharia ist ein umfassende Normen-, Werte- und Rechtssystem, dessen Kernstück die Ehre ist. Unter dem Stichwort "Ehre" wird Recht privatisiert, Männer werden zum Richter - und im Zweifelsfall auch zum Henker - aller Frauen und Mädchen, aber auch aller Jungen und Männer, die sich dem Diktat der Scharia nicht unterwerfen. Männer MÜSSEN die Ehre der Familie beschützen. Diese liegt zwischen den Beinen der Frauen und Mädchen. Verletzen diese die Ehre der Familie, bleibt den männlichen Mitgliedern nichts anderes übrig, als die Familienehre wieder herzustellen.

Das wird von ihnen erwartet, sonst fällt die gesamte Familie in der Community in Ungnade. Im schlimmsten Falle durch den Mord an der Person, die meistens weiblich ist, die die Familienehre beschmutzt hat. In aller Regel obliegt die Durchführung des Mordes dem jüngsten männlichen Mitglied der Familie. So werden die männlichen Mitglieder schon in jungen Jahren auf Gedeih und Verderb - und nicht selten buchstäblich mit einer Leiche im Keller - in die Community eingebunden. Dort haben sie sich dadurch zwar Ansehen verschafft, üblich ist z. B. zur Belohnung eine Uhr geschenkt zu bekommen, aber sie können nicht mehr ausbrechen. Sonst droht ihnen dasselbe Schicksal wie vorher ihrem Opfer.

Dass Jungen oder auch Männer Opfer von Ehrenmorden werden, ist gar nicht so selten. Einer Studie des BKA von 2011 zufolge sind rund ein Drittel der Opfer von Ehrenmorden in Deutschland Männer. Sie wurden umgebracht, weil sie schwul waren, fremd gingen oder sich weigerten, einen Ehrenmord an einem Familienmitglied zu begehen.

In einer von der damaligen LINKEN Europa-Abgeordneten Feleknas Uca in Auftrag gegebenen Studie, kommt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes (TdF) zu dem Schluss:

Verbrechen, die im Namen der Ehre verübt werden, sind im hohen Maße gesellschaftlich legitimiert. Die Ehre der Familie wiederherzustellen wird als "Familiensache" angesehen, in die sich kein Außenstehender einzumischen hat. Nachbarn, Freunde und Bekannte schauen weg, die Polizei greift oft nicht ein.

Terre des Femmes

TdF sieht einen Zusammenhang mit Zwangsehen, die wiederum mit dem Phänomen Kinderehen eng verknüpft sind. Auch das kein Alleinstellungsmerkmal des Islams, das offizielle Heiratsalter der katholischen Kirche liegt bei 14 Jahren. Allerdings hält die katholische Kirche sich in Deutschland an die Gesetze, Kinder-Ehen, sprich Verheiratung vor Vollendung des 18. Lebensjahres, sind hierzulande außer aus den islamischen Communities bei Jesiden und Sinti und Roma bekannt.

Fabian Goldmann schreibt in einer Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung:

Dennoch ist "Ehrenmord" nicht nur ein medialer Kampfbegriff, um Migranten zu stigmatisieren. Er bezeichnet ein reales Phänomen, das sich klar von "Eifersuchtsdramen" oder der "Blutrache" abgrenzen lässt. Die wichtigste Unterscheidung: Anders als bei den meisten "Familiendramen" resultiert die Tat nicht aus dem individuellen gekränkten Stolz des Täters, sondern zielt auf die Wiederherstellung der "Ehre" einer ganzen Gemeinschaft, meistens seiner Familie. Nicht nur das Motiv zielt auf ein Kollektiv, auch Legitimation und Beauftragung geschieht im Familienkreis. Die Hamburger Kultursoziologin Ursula Mihçiyazgan definiert Ehrenmorde als "Tötungsdelikte, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde." Der Täter kann, aber muss aber nicht einen besonderen Bezug zum Opfer haben. Dass Brüder, Väter oder Ehemänner morden, ist zwar die Regel, aber auch entfernte Cousins oder bezahlte Mörder sind üblich. Eines hat der Ehrenmord aber dennoch mit "Familiendramen" gemein: Die Opfer sind meistens Frauen. (…) Fast alle "Ehrenmorde" in Deutschland gehen auf das Konto von Migranten.

Fabian Goldmann, Fünf Fakten über Ehrenmorde

In erster Linie gehen sie auf das Konto - und zu Lasten - türkischer Migranten und Migrantinnen, bzw. kurdischer, auch Hatun Sürücü war Kurdin.

Ehrenmorde sind nicht nur, aber eben auch ein Merkmal fundamental-islamischer Communities und Gesellschaften. Wie z. B. in der Familie Sürücü, und auch in dem Falle führte der jüngste Bruder die Tat aus, Bruder Mutlu (im Film Tarek) besorgte die Waffe und Bruder Alpaslan (im Film Sinan) stand Schmiere. Aynurs Schwester Arzu (im Film Şirin) trat vor Gericht als Nebenklägerin auf, so bekam die Familie über ihre Anwälte Akteneinsicht. Das bedeutet u.a. Zugang zu den Adressen der Zeuginnen und Zeugen der Anklage.

Der Film indes klagt nicht an, sondern schildert, mit schlichten Worten, gesprochen von Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık z. T. mit Schautafeln untermalt, z. T. eben mit besagtem Blick auf die Leiche der Hatun Sürücü, eindrucksvoll den Alltag von Musliminnen in streng religiösen Familien in Deutschland.

Um authentisch zu wirken, ließ sich Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık von ihrem Film-Bruder Aram Arami (Tarek) tatsächlich ohrfeigen, um, wie sie sagte, den Schmerz der Hatun Sürücü fühlen zu können.

Im wahren Leben sind die Darstellerinnen und Darsteller der gelebte Gegenentwurf zu den im Film geschilderten Verhältnissen. Der - auch das ist ein Qualitätsmerkmal - nicht nur eine, die streng orthodoxe, islamische Lebenswelt darstellt, sondern verschiedene Facetten islamischen Lebens aufscheinen lässt, in denen Religiosität allerdings keine Rolle spielt.

Für den Film wurde das Leben der Hatun Sürücü so weit als möglich rekonstruiert. Beratend tätig war dabei die Soziologin Necla Kelek, die den Prozess gegen Ayhan Sürücü, der damals 18jährig seine Schwester erschoss, beobachtete. Auch das Spiel Rauand Talebs, der im Film den Ayhan (Nuri)Sürücü darstellt, ist nicht anders als gnadenlos zu bezeichnen. Aram Arami und Rauand Taleb verkörpern die Rollen der verblendeten Familientyrannen im Film so überzeugend, dass bei der Premiere in Hamburg dem erst einmal in sozialen Netzwerken gepostete Hundefotos gezeigt wurden, um zu demonstrieren, dass sie "eigentlich ganz lieb" seien. In Natura kommen die beiden, ebenso wie Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık, so erfrischend rüber, dass das unbesehen geglaubt und mit großem Applaus bedacht wurde.

Der Film lief am 11. Mai in verschiedenen Kinos an, in vier Lichtspielhäusern unter - leider sehr kurzer - Anwesenheit von Sandra Maischberger, Almila Bağrıaçık, Aram Arami und Rauand Taleb. Die junge Schauspielerin stellte sich als Türkin und Muslimin vor. Das veranlasste eine Zuschauerin, bei den beiden Filmbrüdern nachzufragen, welcher Nationalität diese denn seien. Die stutzten zunächst, ganz offensichtlich konnten sie mit der Frage nichts anfangen.

"Deutsch" sagte dann Rauand Taleb und Aram Arami nickt zustimmend. Aus dem Publikum gab es Beifall für diese Antwort, die Fragerin indes war damit nicht zufrieden gestellt: "Ja, aber Eure Wurzeln?" Wie jetzt, Wurzeln? Dachten die beiden. Sagten es zwar nicht, aber es war ihnen anzusehen. Sie seien Deutsche, wiedeholten sie, aber die Familien seien in Kurdistan verwurzelt. "Und meine Religion ist die Kunst", stellte Rauand Taleb klar; wieder zustimmendes Nicken von Aram Arami.

Bei der Entwicklung des Drehbuchs standen zudem u.a. die Anwältin Seyran Ateş und der Psychologe Ahamd Mansour beratend zur Seite. Regie führte Sherry Hormann, die mit "Wüstenblume" das Leben von Waris Dirie auf die Leinwand brachte - und somit das Thema Genitalverstümmelung. Produziert wurde der Film von Sandra Maischberger, die sich für das Thema "Ehrenmord" entschied, weil es ihrer Ansicht nach "heute gegenwärtiger ist" als zu dem Zeitpunkt des Mords an Hatun Sürücü.