Ein Terroranschlag, ein Video und die Frage, wer eigentlich die Ermittlungen führt

Untersuchungsausschuss Amri. Bild: DBT/Thomas Imo

Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestages - Spielt die Bundesanwaltschaft nur eine Nebenrolle?

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Dass die Bundeskanzlerin wie im NSU-Skandal auch im Falle des Terroranschlages auf dem Breitscheidplatz in Berlin eine rückhaltlose Aufklärung versprochen hat, mag man inzwischen gar nicht mehr zitieren. Zu grundlegend und hartnäckig sind die tatsächlichen Aufklärungsblockaden dieser Bundesregierung. Zweidreiviertel Jahre hat es gedauert, bis herauskam, was jetzt den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages in seiner jüngsten Sitzung beschäftigte und empörte: Ein Video, das den späteren mutmaßlichen Attentäter Anis Amri mit der Tatpistole zeigen soll, mit der der polnische LKW-Fahrer erschossen wurde.

Den Abgeordneten und der Öffentlichkeit war das 11 Sekunden lange Filmstückchen bisher nicht bekannt, der Bundesregierung und mehreren Sicherheitsbehörden aber sehr wohl. Der öffentliche Kenntnisstand, der der Gleichung folgt "eine Frage beantwortet - zwei neue Fragen aufgeworfen", ist zur Zeit folgender:

Das Handyvideo mit Amri, einer Pistole in der Hand und einer Kopf-ab-Geste, das heute unter dem Begriff "Drohvideo" firmiert und nicht mit dem IS-Bekenntnisvideo Amris zu verwechseln ist, entstand am 29. November 2016. Bei der Pistole soll es sich um die spätere Tatwaffe Marke Erma gehandelt haben. Von der Existenz des Videos soll der Bundesnachrichtendienst (BND) am 27. Dezember 2016, acht Tage nach dem Anschlag, durch einen ausländischen Nachrichtendienst, einen Partnerdienst wie es heißt, erfahren haben. Am 30. Dezember 2016 wurde das Video dann an den BND sowie an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) übermittelt. Am 9. März 2017 soll auch das Bundeskriminalamt (BKA) davon erfahren und das Video zur kriminalistischen Auswertung erhalten haben. Auf den beiden Handys von Amri, die nach dem Anschlag sichergestellt wurden, soll sich das Drohvideo nicht befunden haben.

Außen vor ist bisher die Bundesanwaltschaft. Sie hatte das Video zumindest bis letzten Donnerstag nicht vorliegen. Das ist umso bemerkenswerter, als die Karlsruher Behörde als nominell höchste Strafverfolgungsinstanz eigentlich die Herrin des Verfahrens zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz sein soll. Ihr wurde das Video mit der Begründung vorenthalten, es gebe dafür keine Freigabe durch den ausländischen Partnerdienst. Kurios ist das, weil die dem Generalbundesanwalt (GBA) untergeordnete Behörde BKA das Material ja vorliegen hat.

Irene Mihalic, Bundestagsabgeordnete der Bündnisgrünen und Mitglied im Amri-Untersuchungsausschuss (UA), meinte, damit könne die ermittlungsführende Behörde gar nicht selber darüber befinden, ob das Videomaterial beweiserheblich sei, sondern sei auf das Goodwill anderer Behörden angewiesen. Ihr Kollege Benjamin Strasser (FDP) wählte den Vergleich, es sei offen, wer in der Beziehung GBA - BKA "Koch" und wer "Kellner" sei. Immerhin könnten sich an das Video wichtige Erkenntnisse über Tat und Täter knüpfen. Gab es weitere Tatbeteiligte, Hinweise auf Täterstrukturen, auf die Herkunft der Waffe?

Architektur von Sicherheitsapparat und Rechtsstaat

Der Sachverhalt wirft aber auch ein besonderes Licht auf die Architektur von Sicherheitsapparat und Rechtsstaat. Auch im Falle der Abschiebung des Amri-Komplizen Bilel Ben Ammar, die im Verlauf der UA-Sitzung ausgiebig Thema war, kam der Bundesanwaltschaft eine eher untergeordnete Rolle zu. Das Amri-Drohvideo soll der GBA inzwischen angefordert haben. Unklar ist, seit wann er überhaupt von dessen Existenz weiß. Dasselbe gilt selbst für die Bundesregierung.

Die Öffentlichkeit erfuhr Anfang Oktober 2019 davon. Im Amri-Ausschuss bestätigte die Bundesregierung jetzt die Existenz des Videos. Selber in Augenschein nehmen konnten die Abgeordneten es bisher nicht. Auch dafür sei es von besagtem Partnerdienst nicht freigeben. Dabei erfuhren sie in der nicht-öffentlichen Sitzung quasi nebenbei, dass es noch zwei weitere Handyvideos geben soll, die einen Tag vor dem Drohvideo, am 28. November 2016, aufgenommen worden sein sollen. Laut Ausschussmitglied Strasser habe die Bundesregierung die weiteren Videos nicht bestätigen wollen. Wörtlich sagte er: "Es ist eine Unverschämtheit, wie die Bundesregierung mit uns als Parlament umgegangen ist."

Vielzahl von Fragen

Es ist eine Vielzahl von Fragen, die sich die nun stellen und die der Bundestagsausschuss von der Bundesregierung beantwortet haben möchte: Handelt es sich bei dem Drohvideo um ein Selfie Amris oder wurde es von einer anderen Person gemacht? Besaß Amri also noch ein drittes Handy und wo befindet sich das? Welcher ausländische Nachrichtendienst war im Besitz des Videos, seit wann und wie ist er in diesen Besitz gekommen? Um welchen Dienst handelt es sich? Warum hat er das Material nicht früher, vor dem Anschlag, an die deutschen Behörden übermittelt? Handelt es sich tatsächlich um die Pistole, mit der der polnische Speditionsfahrer ermordet wurde und die Amri dabei hatte, als er in Italien erschossen wurde? Wie viele Videos gibt es tatsächlich?

Aber auch die Frage stellt sich, warum die Bundesregierung sich nicht schon längst um die Klärung dieser Fragen bemüht hat. Die Vertreter der Bundesregierung sollen in der Sitzung gegenüber dem Ausschuss erklärt haben, wie mehrere Abgeordneten gegenüber der Presse ausführten, es sei "unüblich, bei einem Partnerdienst nachzufragen". Diese Haltung könnte darauf hindeuten, dass es sich möglicherweise um einen US-amerikanischen Dienst handelt.

Die Abgeordneten wollen die Entschuldigung jedenfalls nicht gelten lassen. "Unsäglich" nannte Irene Mihalic diese Verweigerung angesichts eines Terroranschlages mit 12 Toten. Und Benjamin Strasser meinte, wenn sich nach den Anschlägen von "9/11" herausgestellt hätte, dass Deutschland ein Video vom späteren Attentäter besitze, hätten es die USA sicher nicht unüblich gefunden, bei den Deutschen nach dem Video nachzufragen.

In Frage gestellt ist durch den Gesamtvorgang aber auch das "übliche" Verfahren in der internationalen Zusammenarbeit bei der Verhinderung von Terroranschlägen - vorausgesetzt die Entschuldigung der Bundesregierung, Rücksicht auf einen Partnerdienst nehmen zu müssen, ist echt und nicht etwa eine Legende, um einen anderen Hintergrund zu kaschieren. Beispielsweise, dass der Tunesier Anis Amri doch kein Einzeltäter gewesen ist.

Um diese Version aufrecht zu erhalten, müssen Mittäter ausgeschlossen werden. Also auch der mutmaßliche Mittäter oder Mitwisser Bilel Ben Ammar. Damit wären wir bei Teil 2 des Bundestagsuntersuchungsausschusses. Sind Amri und Ben Ammar in Wahrheit die zwei Seiten ein und derselben Medaille?

Wer hat bei der Abschiebung wen gesteuert und beeinflusst?

Vor Monaten war der Ausschuss darauf gestoßen, dass die überschnelle Abschiebung des Amri-Freundes Ben Ammar nach Tunesien am 1. Februar 2017 auf höchster politischer Ebene, unter anderem im Bundesinnenministerium, entschieden worden war. Am 29. Dezember 2016 hatte die Bundesanwaltschaft das Mordverfahren Breitscheidplatz auch auf Ben Ammar erstreckt und ihn neben Amri zum zweiten Mordverdächtigen gemacht.

Jetzt hatte das Bundestagsgremium zum ersten Mal Zeugen aus dieser politischen Ebene vorgeladen: Die damalige Staatssekretärin Emily Haber, heute Botschafterin der Bundesrepublik in den USA, die extra aus Washington angereist kam, ihr damaliger Büroleiter und persönlicher Referent Regierungsdirektor Günter Drange sowie der für Terrorfragen und öffentliche Sicherheit zuständige Abteilungsleiter Ministerialrat Jens Koch. Die drei bestätigten im Grundsatz die politische Motivation und Verantwortung für die Ben Ammar-Abschiebung. Unklar blieben die genauen zeitlichen Abläufe, von wem die Initiative ausging und wer letztlich die Entscheidung getroffen hatte.

Das mündete in die nicht ganz unwesentliche Frage, wer bei dem Vorgang wen gesteuert und beeinflusst hat: Die politische Administration die Sicherheitsbehörden - oder umgekehrt: Sicherheitsbehörden die Politik? Vor allem das BKA scheint in der Causa Ben Ammar eine besondere Rolle zu spielen. Vielleicht war es aber auch ein gut eingeübtes Wechselspiel.

Die drei, Drange, Koch und Haber, erzählten die Abschiebungsgeschichte Ben Ammar einigermaßen einheitlich so: Am 10. Januar 2017, drei Wochen nach dem Anschlag, kam es zu einem entscheidenden politischen Treffen zwischen Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Bundesjustizminister Heiko Maas, den jeweiligen Staatssekretärinnen Emily Haber (BMI) und Christiane Wirtz (BMJ) sowie den Leitungsstäben - "Kleeblatt-Runde" genannt. Dort wurde eine neue politische Linie im Umgang mit islamistischen Gefährdern vereinbart - Rückführung sollte Vorrang vor Strafverfolgung bekommen. Konkret um Ben Ammar sei es in dieser Runde aber nicht gegangen.

Dafür sorgte dann die BMI-Arbeitsebene. Der erste Fall, auf den das neue Verfahren angewandt wurde, war ausgerechnet der damalige Mordbeschuldigte Ben Ammar. Der Vorschlag soll vom Abteilungsleiter für Öffentliche Sicherheit, Ministerialrat Koch, gekommen sein, Staatssekretärin Haber stimmte zu. Sie verfügte jedenfalls über die nötige politische Prokura.

Weil es rechtsstaatskonform zugehen sollte, wirkte der Bund auf das Land Sachsen ein, wo der Tunesier als Asylsuchender registriert war, der Abschiebung zuzustimmen und Abschiebehaft zu beantragen. Das BMI habe Sachsen "unterstützt" - formulierte es der Zeuge Drange. Parallel wurde das Justizministerium gegenüber der Bundesanwaltschaft (BAW) initiativ. Auch sie stimmte danach einer Abschiebung zu. Und schließlich wurde auch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin auf diese Linie gebracht. Das Manöver spielte sich im Laufe des Januar 2017 ab. Am 13. Januar willigte die BAW ein, wenige Tage später spielte Sachsen mit.

Als das BKA am 19. Januar 2017 mit der zweiten Vernehmung Ben Ammars begann, war klar, dass alle Stellen ihn außer Landes bringen wollten. Entsprechend fiel die Vernehmung aus. Nach übereinstimmender Bewertung der Ausschussmitglieder kam sie eher einer Pro-Forma-Vernehmung gleich, die gerade mal drei Seiten umfasst. Das Ausschussmitglied Martina Renner (Linke) formulierte den Verdacht, dass das BKA gar nicht mehr wollte, Ben Ammar einer Mittäterschaft zu überführen.

Dabei war noch gar nicht sicher, dass die Faktenlage eine Abschiebung und den Verzicht auf Strafverfolgung erlaubt. Am 20. Januar 2017 hielt das BKA in einem Vermerk fest: "Die bisherigen Erkenntnisse können eine Tatbeteiligung und/oder ein Mitwissen von Bilel Ben Ammar weder bestätigen noch ausschließen." In den Tagen danach bemühten sich BKA und GBA "massiv" weiter, einer "gerichtsfesten" Abschiebung den Weg zu ebnen.

Das BKA war nach den Aussagen aller drei Zeugen - Haber, Drange, Koch - der entscheidende Player beim Abschiebevorgang Ben Ammar. Die oberste Polizeibehörde der BRD gab wiederholt die Bewertung ab, der Tatverdacht gegen Ben Ammar werde sich nicht erhärten lassen. Auf dieses Urteil habe sich die Politik verlassen.

In der Person des BKA-Vizepräsidenten Peter Henzler agierte die Polizeibehörde sogar politisch. Noch bevor die Staatssekretärin Haber mit dem tunesischen Botschafter über Ben Ammar offiziell verhandelte, am 25. Januar 2017, soll Henzler gegenüber Tunesien in der Sache interveniert und erreicht haben, dass man sich dort regt - so der Zeuge Koch.

Die kriminalistische Einschätzung im Falle Ben Ammar war mutwillig und offensichtlich politisch motiviert, denn es gibt eine Reihe widersprechender Bewertungen. Am 3. Januar 2017 hatte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Haftbefehl gegen Ben Ammar beantragt, war der Meinung, er werde mit einer Bewährung nicht mehr davon kommen und begründete den Antrag auch mit Fluchtgefahr.

"Sicherheitsrisiko für Deutschland"

Ben Ammar war nach dem Anschlag zehn Tage untergetaucht. Das Amtsgericht Tiergarten gab dem Antrag statt und erließ Haftbefehl. Es teilte die Bedenken der Fluchtgefahr. Am 13. Januar teilte die Bundesanwaltschaft dem Bundesjustizministerium mit, es lägen "zureichende tatsächliche Anhaltpunkte vor, dass Ben Ammar in die Anschlagspläne eingeweiht und zumindest hilfeleistend beteiligt" gewesen sei. Noch am 16. Februar 2017, als Ben Ammar bereits außer Landes war, teilte ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH), der über einen anderen Haftbefehl zu entscheiden hatte, die Einschätzung bezüglich des Amri-Freundes und schrieb wörtlich: "Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand besteht der Verdacht, dass der Beschuldigte Ben Ammar und weitere Personen an der Planung der Tat beteiligt waren."

Die Abschiebung Ben Ammars sei eine Abwägungsfrage gewesen, so die drei politischen Zeugen jetzt gegenüber dem U-Ausschuss, der Mann sei ein "Sicherheitsrisiko für Deutschland" (Haber) gewesen und die Ausweisung die einzige Möglichkeit, ihn von der Straße zu holen - zumindest damals. Dass man das heute, retrograd, vielleicht anders sehen könne, sei verständlich.

Die Alternative zur Abschiebung hieß aber nicht, Ben Ammar auf freiem Fuß zu belassen, sondern: U-Haft und professionelle Ermittlungen. Die damalige Staatssekretärin will, wie sie erklärte, nicht gewusst haben, dass zum Zeitpunkt der Abschiebung noch gar nicht alle Asservate ausgewertet waren. Beispielsweise fanden sich auf dem Handy Ben Ammars Fotos vom Breitscheidplatz, die im Februar 2016 (!), also zehn Monate vor der Tat gemacht worden waren, die Straßen, Poller, Zufahrtswege zeigen und als "Ausspähfotos" (eine BKA-Sachbearbeiterin) gewertet werden können.

Neu ist auch die Information, dass der Wirt des Imbisses, in dem sich Amri und Ben Ammar am Vorabend des Anschlages trafen, Zeuge des Gespräches zwischen beiden wurde. Ihr Verhalten erschien ihm konspirativ, und er will den Eindruck gewonnen haben, es sei um einen "Anschlag" gegangen - so der Zeuge Drange.

Die Darstellungen der BMI-Zeugen über die Abschiebeoperation sind nicht überzeugend, auch weil es Hinweise gibt, dass die tatsächliche Entscheidung schon früher als Mitte Januar 2017 gefallen war. Und diese Hinweise führen erneut zum Player BKA. So sagte eine Vertreterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einer der letzten UA-Sitzungen aus, bereits am 30. Dezember 2016 habe das BKA bei einer Besprechung mitgeteilt, der Nachweis, dass Ben Ammar "Mittäter oder Mitwisser" sei, könne nicht geführt werden, seine Inhaftierung sei nicht möglich.

Zu diesem Zeitpunkt war noch keine Vernehmung mit Ben Ammar durch das BKA durchgeführt worden. Die geschah erstmals am 4. Januar 2017. Das Magazin Focus will gar eine Email vom 28. Dezember 2016 kennen, in der davon die Rede sein soll, Ben Ammar solle abgeschoben werden.

Emily Haber betonte, für sie sei klar gewesen, dass bis zum letzten Tag vor der Abschiebung gegen Ben Ammar weiter ermittelt werde. Das wegen einer geplanten Abschiebung zu unterlassen, wäre nicht zulässig und rechtsstaatswidrig. Ein interessantes Statement, das vielleicht auch ihrer Stellung als öffentliche Person geschuldet ist, die sie als Botschafterin einnimmt. Es ist aber auch ein Urteil, das sie selber treffen könnte. Denn den damaligen Abschiebevorgang trägt sie unverändert mit.

Wo Ben Ammar zehn Tage lang nach dem Anschlag war, kann keiner der drei Zeugen sagen. Die Abgeordnete Mihalic bezweifelt, dass das Motiv für seine Abschiebung dessen Gefährlichkeit war: "Da steckt etwas anderes dahinter." Regierungsdirektor Drange weist das zurück: "Ich sage die Wahrheit." Sie seien davon ausgegangen, dass der Haftrichter die Haft nicht verlängern werde. Auch der Abgeordnete von Notz sagt später zur Botschafterin Haber, er glaube ihrer Grundthese nicht: "Den Richter möchte ich sehen, der Ben Ammar damals auf freien Fuß gesetzt hätte." Ben Ammar wäre ein ganz wichtiger Zeuge gewesen, vielleicht sogar ein Drahtzieher.

Was sind die wirklichen Gründe für seine Abschiebung? Wenn es für die Aufrechterhaltung der Einzeltäter-Theorie keinen Mittäter geben darf, stellt sich trotzdem die Frage: Warum nicht? War Ben Ammar vielleicht doch Quelle eines Geheimdienstes? - fragt die Abgeordnete Renner. Sie nennt aber noch ein zweites mögliches Motiv: Sollte es keinen Strafprozess geben, keine Wiederholung des NSU-Prozesses mit etlichen Nebenklägern, wo Vieles nach oben gekehrt wird, was nicht erwünscht ist? Der Zeuge Drange antwortet: "Das kann ich ausschließen."

Was aus Ben Ammar nach der Abschiebung wurde, ist nicht ganz klar. BMI-Vertreter Koch interessiert es nicht: "Für mich endet die Geschichte beim Besteigen des Flugzeugs." In Tunesien sei er, so Haber, damals auf freiem Fuß geblieben. Heute soll Ben Ammar in einem Gefängnis sitzen.

Ist mit der Abschiebung eines Terroristen die Terrorgefahr gebannt? Das ist sowohl mit Blick auf die internationale Dimension von Terrorismus als auch im Anspruch internationaler Terrorabwehr zu kurz gedacht. Eine "Nationalisierung" von Terroristen reduziert die Terrorgefahr nicht, sondern "exportiert" bzw. "reexportiert" sie.

Anschläge können auch im Heimatland verübt werden, wie beispielsweise 2002 auf der tunesischen Insel Djerba mit 21 Toten. Und wenn Vertreter Deutschlands sich nur für "deutsche" Opfer interessieren und nicht auch für dortige, tunesische, dann könnte man daran erinnern, dass es auch im Ausland "deutsche" Opfer geben kann. In Djerba waren es 14. Auf dem "deutschen" Weihnachtsmarkt wiederum wurden auch Ausländer zu Opfern. Eine rein nationale Verantwortung gibt es nicht.

Die Abschiebung Ben Ammars Anfang 2017 wurde zu einer Angelegenheit der "nationalen Sicherheit" gemacht. Dabei spielten auch Medien und Journalisten ihre Rolle mit. Beispielsweise Hans Leyendecker und Georg Mascolo von der Süddeutschen Zeitung (SZ). Mascolo ist zugleich Chef des Rechercheverbundes von SZ und - interessanterweise - der beiden ARD-Anstalten NDR und WDR.

Ganz im Sinne der Bundesregierung wurde die Information von der bevorstehenden Abschiebung Ben Ammars bereitwillig aufgegriffen und die "neue Zeit" begrüßt. Ben Ammar, schrieben sie, könnte der erste Islamist sein, der für die Zeit nach Amri steht, in der Behörden nicht zaudern und lange abwägen. "Der Staat will Härte zeigen. Konsequent sei" - heißt es im PR-Duktus. Man könnte auch sagen: die Abschiebung wurde via SZ, NDR und WDR publizistisch vorbereitet.

Dass ein ARD-Fremder ARD-Redaktionen vorsteht, ist allerdings eine fragwürdige Konstruktion. Vor allem, weil Mascolo im Amri-Komplex eine eigene Agenda verfolgt, die den Sicherheitsapparat schonen soll. Das wirkt sich bis heute aus, die ARD ist quasi vom Feld genommen. Ihr journalistischer Beitrag an der Aufklärung des Anschlages vom Breitscheidplatz ist bescheiden und zum Teil sogar kontrainvestigativ. Das schreibe ich gerade als jemand, der seit über 30 Jahren mit der ARD beruflich verbunden ist, die journalistischen Möglichkeiten eines öffentlich-rechtlich verfassten Mediums schätzt und deshalb dessen Entwicklung mit Sorge verfolgt. Seine Ressourcen scheinen gefesselt.

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