Bolivien: Staatsstreich und Widerstand

Jeanine Añez wird einen Tag nach ihrer Selbsternennung als Präsidentin vom Militär gehuldigt. Bild: JulioEstebanJi/CC BY-SA-4.0

In Bolivien kehrt auch über eine Woche durch eine neue, von Militär und Polizei gestützte Junta keine Ruhe ein

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Bolivien kehrt auch über eine Woche nach Machtübernahme durch eine neue, von Militär und Polizei gestützte Junta keine Ruhe ein. Evo Morales, der erste indigene Präsident Lateinamerikas, war auf Druck des Militärs zurückgetreten, um Blutvergießen zu vermeiden. Auch der seiner Regierung nahestehende Verband der Gewerkschaften der Bergarbeiter Boliviens (FSTMB) hatte ihn darum gebeten.

Präsident Evo, Du hast bereits viel für Bolivien getan, Du hast die Bildung und Gesundheit verbessert, Du hast vielen armen Leuten ihre Würde wiedergegeben. Präsident, lass es nicht zu, dass sich die Gemüter des Volkes erhitzen und dass es zu noch mehr Todesopfern kommt. Das gesamte Volk wird Dich dafür schätzen, wenn Du jetzt das tust, was Du tun musst, Dein Rücktritt ist inzwischen unvermeidbar geworden, Genosse Präsident. Die nationale Regierung muss jetzt in die Hände des Volkes gelegt werden.

Erklärung des FSTMB

Doch dort befindet sich die Regierungsgewalt nun mitnichten. Nicht nur Morales wurde zum Rücktritt gezwungen. Auch sein verfassungsmäßiger Nachfolger wie der Vizepräsident und die Parlamentsvorsitzende wurden mit Gewalt zur Seite geschoben. Einige von ihnen berichten, dass ihre Häuser angezündet und Familien bedroht wurden.

Unterdessen gießt die deutsche Presse Häme aus. Der Spiegel und andere nennen Morales, 2014 mit 60 Prozent Zustimmung gewählt und bei allem Streit über die Wahlen vom 20. Oktober zumindest noch bis zur Amtseinführung eines Nachfolger rechtmäßig im Amt, einen "Ex-Machthaber". Nach dem Motto, Linke, die eine eigenständige ökonomische Entwicklung für ihr Land anstreben, der Ausplünderung Schranken setzen wollen, sozialen Ausgleich anstreben, zudem Indios sind, können gar nicht demokratisch gewählt sein. Der Berliner Tagesspiegel meinte noch am Dienstag dieser Woche das Wort Staatsstreich in Anführungszeichen setzen zu müssen.

Auch nach mehreren Dutzend Toten - zumeist Indigene - haben deutsche Journalisten es schwer, einen Staatsstreich zu sehen. Dabei sitzen sie, anders als ihre bolivianischen Kollegen und die dortigen Korrespondenten, die von der selbsternannten neuen Präsidentin bedroht werden, hierzulande in Sicherheit, müssen nichts von Soldaten oder Polizisten befürchten, denen per Dekret Straffreiheit für alle Handlungen im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Widerstandes zugesichert wurde.

Auf Twitter kursieren Fotos von Erschossenen, einige eingehüllt in die Whippala, die Fahne der Indigenen. Allein in der Stadt Cochabamba wurden Ende letzter Woche neun Menschen erschossen. Die Stadt ist eine Hochburg von Morales und seiner Partei. Um die Jahrtausendwende nahm dort der Aufstieg der bolivianischen Linken mit dem Widerstand gegen die dort durchgeführte Privatisierung der Wasserversorgung, den Verkauf an einen US-amerikanischen Konzern, seinen Anfang.

Morales auch in der Linken umstritten

Einen gewissen Eindruck von der gemischten Stimmungslage in der Bevölkerung vermittelt ein Bericht von Thomas Gutmann im Neuen Deutschland. Von entschlossenen Blockierern ist die Rede, aber auch von Menschen, die über die Blockaden murren. Der Widerstand gegen den Putsch hat Schwierigkeiten zu einer gemeinsamen Stimme zu finden. Eine Analyse von Marco Terruggi auf america21 spricht davon, dass der Widerstand bisher unkoordiniert erfolge, dass sich nicht alle hinter der Forderung nach Morales Rückkehr versammeln könnten, wichtige Organisationen gespalten seien. Offenbar hat sich die Regierung und mit ihr die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) sowie die ihr nahestehenden Gewerkschaften und sozialen Bewegungen abgenutzt.

Eine Einigung sollte schnell erfolgen, denn für die neuen Machthaber geht es um viel mehr als um den Streit um vermeintlichen oder tatsächlichen Wahlbetrug. Das zeigt nicht nur die wichtige Tatsache, dass alle verfassungsmäßigen Institutionen missachtet wurden und die sogenannte Übergangspräsidentin Jeanine Añez, eine ultrarechte Evangelikale, sich dieses Amt mit Unterstützung des Militärs und ohne Zustimmung des Parlaments angeeignet hat.

Es wird auch in wichtigen Kleinigkeiten deutlich. Eine Journalistin von TeleSur berichtet auf Twitter, dass am Wochenende rund 450 der insgesamt 700 kubanischen Mediziner ausgereist sind. Zuvor waren vier von ihnen verhaftet worden, nach Angaben der Journalisten unter Mitwirkung der US-Botschaft. Auch aus Brasilien seien vor einem Jahr nach der Übernahme der Präsidentschaft durch den bekennenden Diktatur-Fan Jair Bolsonaro die kubanischen Ärzte ausgewiesen worden. Es geht offensichtlich um einen weiteren Schlag gegen unabhängige, auf Eigenständigkeit gegenüber dem großen Bruder im Norden bedachte Regierungen.

Unregelmäßigkeiten

Doch vordergründig geht es um einen Streit, ob bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober alles mit rechten Dingen zuging. Zuvor hatte Evo Morales den schweren politischen Fehler begangen, zu einer dritten Kandidatur anzutreten, was eigentlich nach der Landesverfassung nicht vorgesehen ist. Dass er sich damit in der Justiz zunächst durchsetzen konnte, hat seinen Gegnern zweifellos in die Hände gearbeitet.

Im zweiten Akt wurde von der Opposition schon am Wahlabend heftig Wahlbetrug behauptet und die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) auf den Plan gerufen. Diese einigte sich schließlich mit der Regierung darauf, den Wahlprozess zu untersuchen, was in der ersten Novemberwoche geschah. Ihr am 10. November veröffentlichter Bericht fasst das Ergebnis einer Untersuchung des Auszählungsprozesses zusammen.

Darin werden eine ganze Reihe technischer Unregelmäßigkeiten in der Prozesskette benannt und das Ergebnis einer Untersuchungen von 333 "fraglichen" Kontrollzetteln aus Wahlbüros gemacht. Dabei handelte es sich offensichtlich nicht um eine repräsentative Stichprobe, sondern um Büros, über die es Beschwerden gegeben hatte. Bei 23 Prozent dieser zunächst beanstandeten Zettel wurden Unregelmäßigkeiten verschiedener Art festgestellt.

Auf einigen stimmten zum Beispiel die Unterschriften zwischen Kopie und Original nicht überein. Oder sie gaben eine Wahlbeteiligung von 100 Prozent an oder verbuchten 100 Prozent der Stimmen bei der Regierungspartei. Der Bericht macht keine Angaben darüber, bei wie vielen Fällen dies jeweils der Fall war.

Und vor allem: Er macht keinerlei Aussagen darüber, in welchem Umfang die festgestellten Unregelmäßigkeiten das Wahlergebnis beeinflusst haben könnten. Denn zum Beispiel sind "über 250" bei ihr eingegangene Beschwerden, von denen die OAS-Kommission spricht, bei elf Millionen Einwohnern nicht übermäßig viel. Davon abgesehen sind aber die festgestellten Unregelmäßigkeiten auch keine Lappalien.

Das Centro Estratégico Latinoamericano de Geopolitica (CELAG) weist in diesem Zusammenhang außerdem darauf hin, dass die OAS schon vor dem Abschluss der Auszählung auf Wahlwiederholung gedrungen habe. Somit wäre der Bericht nicht unvoreingenommen verfasst worden.

Weiter, so das CELAG, enthalte er, anders als öffentlich dargestellt, zwar Hinweise auf Fehler und Unregelmäßigkeiten aber keinen schlüssigen Beweis für umfangreichen Wahlbetrug. Ein Urteil, dem sich der Autor anschließt, aber jeder Leser kann sich über den oben verlinkten Text selbst ein Bild machen.

Die Wahlen hatten am 20. Oktober stattgefunden und die Auszählung sich danach über eine Woche hingezogen. In einem Land mit unterentwickelter Infrastruktur nichts Ungewöhnliches. Argwohn hatte eine Unterbrechung in der Übermittlung von Einzelergebnissen erregt sowie die Tatsache, dass nach der Wiederaufnahme des Datenflusses Morales Vorsprung deutlich zugenommen hatte.

Das ließe sich aber auch damit erklären, wie es ein Teil der Beobachter macht, dass zunächst die Ergebnisse aus den Städten hereingekommen sind, in denen die Opposition deutlich besser abschnitt, und erst später die Resultate aus den ländlichen Regionen, in denen meist Morales und seine MAS mehr Rückhalt haben.

Neuwahlen?

Unterdessen hat Añez angekündigt schnell neue Wahlen durchführen zu wollen. Zugleich drohte sie aber Morales. Wenn er zurückkäme, werde er wegen Wahlbetrugs und Korruption vor Gericht gestellt.

Ganz offensichtlich soll also der aussichtsreiche Kandidat der Linken ausgeschlossen bleiben, und wie in dem gegenwärtigen Klima der Gewalt und der Usurpation des Staatsapparates freie Wahlen abgehalten werden sollen, ist sowieso mehr als fraglich. Ein Fall für die UNO also, wie Morales meint?

Die Frage stellt sich angesichts des grassierenden Rassismus umso mehr, der sich offenbar gerade gewalttätig entlädt. Als einen der ersten Akte ihrer Revolte haben Polizisten und Soldaten die Whippala, Boliviens zweite offizielle Fahne, von ihren Uniformen geschnitten. Die Whippala ist das Symbol der Indigenen, die gut die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.

Ein Teil des weißen Kleinbürgertums und die politische Rechte haben sich nie mit der neuen Rolle der Indigenen in der bolivianischen Gesellschaft abgefunden. Die Aktivistin Adriana Guzmán spricht in einem Interview (auch interessant für die politischen Hintergründe der Putschisten), wie die Whippala von rechten Milizen nach dem Staatsstreich auf den öffentlichen Plätzen des Landes verbrannt wurde.

"Pachamama wird nie wieder zurückkommen. Heute kehrt Christus in den Regierungspalast zurück." So hatte es Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, verkündet, nachdem er mit Añez in den Präsidentenpalast einzog. Das Bürgerkomitee ist ein Zusammenschluss reicher Geschäftsleute aus dem Südosten des Landes, und Camacho ein bekennender Faschist. Mit Pachamama ist von vielen Indios Lateinamerikas verehrte Erdmutter gemeint.