Anklage gegen Netanjahu: Neue Chance für den Friedensprozess?

Benjamin Netanjahu. Foto: Matty Stern / U.S. Embassy Tel Aviv/ CC BY 2.0

Israels Regierungschef wird Korruption und Betrug vorgeworfen, er selbst spricht von einem Putschversuch

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Mehrheiten sind in Israel seit vielen Jahren eine komplizierte Angelegenheit. Netanjahu war ein großer politischer Könner darin, Koalitionen zusammenzustellen; meistens waren sie rechts ausgerichtet. Mit Verweis auf die prekäre Stabilität seiner Regierungskoalitionen setzte er einen Kurs durch, der nach innen eine deutliche neoliberale Ausrichtung hatte und im Verhältnis zu den Vertretern der Palästinenser dazu führte, dass die Friedensverhandlungen eingestellt wurden.

Netanjahu in Schwierigkeiten

Nun steckt Netanjahu in großen Schwierigkeiten. Der israelische Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hat gestern gegen den amtierenden Premierminister in drei Fällen Anklage erhoben wegen Betrug, Korruption und Missbrauch des Vertrauens. Drei Jahre Vorlauf hatte die Anklageerhebung, es wurde viel darüber berichtet. Jetzt erfolgt sie zu einem Zeitpunkt, an dem Neuwahlen sehr wahrscheinlich werden und die Aussichten Netanjahus, noch einmal Premierminister zu werden, schwinden.

Dabei geht es weniger um die juristischen Voraussetzungen als um die politische Wucht der Anklage: Kann es sich die Likud-Partei erlauben, mit einem derart desavouierten Spitzenkandidaten für Stimmen zu werben?

Netanjahu kann, wie es verschiedene Berichten in israelischen und deutschen Medien ausführen, wahrscheinlich damit rechnen, dass eine endgültige Entscheidung über seine Immunität erst später fällt. Bis dahin wird er weiter amtieren, rein theoretisch "in letzter Minute" vielleicht doch eine Mehrheit zusammenstellen, auch wenn es nicht danach aussieht, und sich, wenn er genug politische Unterstützung hat, auch zur Wahl stellen. Für seine Partei ist das aber ein Risiko.

Nachdem sich weder Netanjahu noch sein Rivale Gantz, Kandidat der Blockpartei Kachol-Lawan (Weiss-Blau), auf eine gemeinsame Koalition einigen konnten, und Gantz ebenfalls die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung verwehrt blieb, gibt es nun eine Frist von 21 Tagen, innerhalb der die Knesset einen Kandidaten finden muss, der von 61 der 120 Abgeordneten unterstützt wird. Das gilt als unwahrscheinlich. Als wahrscheinlicher wird eingeschätzt, dass es zu den dritten Neuwahlen binnen eines Jahres kommt.

Es ist eine ungewöhnliche Situation, vor die die Knesset damit gestellt wird - sie gilt als Premiere - wie auch die Anklageerhebung des Generalstaatsanwalts, die zum ersten Mal in der Geschichte des Landes einem amtierenden Ministerpräsidenten gilt und das zu einem Zeitpunkt, wo politisch einiges auf der Kippe steht.

Politik mit großer Härte

Die politischen Kämpfe werden mit Härte ausgetragen. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit war früher Netanjahus Kabinettssekretär und wurde "vom Premier für den Posten handverlesen". Jetzt gilt er, wie Gil Yaron in der Welt berichtet, in Regierungskreisen als "linker Verräter", der Personenschutz braucht, "aus Angst davor, ein Anhänger Netanjahus könne ihm Schaden zufügen".

Mandelblit sprach von einem für ihn "schwierigen und traurigen Tag", er habe seine Entscheidung schweren Herzens getroffen, aber im öffentlichen Interesse, das verlange, dass niemand über dem Gesetz stehe. Er war von den Grundlagen der Anklage überzeugt.

Der Premierminister sieht in der Anklage dagegen eine Hexenjagd und gar einen "Putsch" mit erfundenen Vorwürfen. Er macht dafür Linke, Medien und eine Art tiefen Staat hinter den Ermittlungen dafür verantwortlich. Netanjahu wetterte in einer für einen Regierungschef waghalsig-zornigen Weise über eine "verdorbene Vorgehensweise" der ermittelnden Instanzen: "Man muss schon blind sein, um nicht zu sehen, dass etwas Schlimmes bei den Polizei-Ermittlern und der Staatsanwaltschaft passiert. Wir sehen einen Putschversuch der Polizei mit falschen Anklagen."

Wegen Korruption angeklagt, aber "für den freien Markt und die freie Presse"

Das ganze Verfahren sei darauf ausgerichtet, den amtierenden Premierminister, der politisch rechts sei, zu stürzen. "Es war so konzipiert, dass es mich zur Strecke bringt. Anders als meine Opponenten und die Medien, bin ich für einen freien Markt, nicht nur, was die Wirtschaft betrifft, sondern auch die Medien", so eine weitere wütende Aussage Netanjahus. Er werde nicht weichen und fordere dazu die Ermittler zu überprüfen ("investigate the investigators").

Tatsächlich sprechen die Anklagen gegen Netanjahu aus der 63-seitigen Schrift eine andere Sprache als die vom Premierminister vorgebrachte Überzeugung vom freien Markt und der freien Presse, für die er einstehe. Es geht um Geschenke von Superreichen an den Regierungschef und seine Frau im Wert von 170.000 Euro, um die Beeinflussung der Medienberichterstattung zugunsten Netanjahus (Akte 2000) und um Bestechung bei Geschäften mit Millionen-Profit, wobei auch hier gute Presse für Netanjahu eine Rolle spielt (Akte 4000 - alle drei Vorwürfe zusammengefasst hier und hier mit weiterführenden Links).

Mit seinen harten Vorwürfen gegen die Justiz, die dem Vorwurf einer Verschwörung gegen ihn gleichkommen, streicht Netanjahu heraus, dass ihm persönliche Interessen - seine Macht - wichtiger ist als das Vertrauen in die Institutionen. Seinen Anhängern wird dieses markige Auftreten gefallen, die Frage ist, welche Mehrheit sich unter den neuen Umständen daraus stricken lässt. Konkurrenten in der Likud warten auf ihre Chancen.

Die große Misere: Der Gewinner bekommt alles

Parallelen zum Verhalten des gegenwärtigen US-Präsidenten sind offensichtlich. Die "witch-hunt"-Vorwürfe hören sich an wie eine Kopie Trumps. In der Freundschaft zwischen Netanjahu und Trump, früher "Bromance" genannt, soll es laut Medienberichten Risse geben. Trump soll angeblich "frustriert" sein und Netanjahu vorwerfen, dass er ein Verlierer sei, weil dieser wenig aus den Gesten gemacht hat, die aus Washington kamen, um ihn im Wahlkampf im April dieses Jahres zu unterstützen.

Interessant ist die politische Begründung, die im Bericht der Times of Israel aufgeführt wird. Demnach ist Trump so enttäuscht, weil er Netanjahu für den großen Nahost-Friedensplan braucht, den sein Schwiegersohn Jared Kushner ausarbeitet.

Allein in dieser Konstellation steckt schon eine große Misere. Dazu passen auch die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu, die von persönlichen Beziehungen gekennzeichnet sind. "The winner takes it all". Sollte Netanjahu durch die Anklageerhebung als Regierungschef abgelöst werden, so keimen Hoffnungen auf, dass Verhandlungen mit den Palästinensern wieder in Gang kommen können.

Auch wenn bis dahin weit ist. Feststellen kann man aber, dass sich die Erwartungen derjenigen nicht eingelöst haben, die meinten, gerade mit einem Hardliner wie Netanjahu seien in der Sache mehr Fortschritte zu machen als mit "soften" Linken. Das Ergebnis unter Netanjahus Regierung lautet: Der Friedensprozess ist bis auf weiteres gestoppt, verhandelt wird nur unter Siegern, die Palästinenser sind die Verlierer.