Vision Zero im Straßenverkehr – eine Illusion?

Ab 2050 sollte in Europa kein Mensch mehr bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen – so die Vision Zero der EU-Kommission. Ist das erreichbar?

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Die Zahl der Verkehrstoten ist so niedrig wie nie. ABS, EPS, Airbags, Bremsassistenten, Sollbruchstellen in Karosserien – diese technischen Lösungen für mehr Verkehrssicherheit scheinen zu greifen. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt, denn auch wenn die Zahl der Verkehrstoten über die letzten Jahre betrachtet auf einem historischen Tiefststand ist: Seit einigen Jahren stagnieren die Zahlen. Im letzten Jahr sind 3275 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Im Schnitt sind das jeden Tag des Jahres neun Tote. Das Ziel der EU ist: Keine Verkehrstoten mehr ab dem Jahr 2050.

Mehr als die Hälfte der Verkehrstoten sind Radfahrer und Fußgänger. Die Zahl der getöteten Radfahrer stieg sogar um 13,6 Prozent und passt sehr gut zu den häufigsten Unfallursachen, die das Statistische Bundesamt ermittelt hat: Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren sowie Nichtbeachten der Vorfahrt. Ein Radfahrer ist schnell übersehen. Da nützt dann offenbar auch die ganze Sicherheitstechnologie, die derzeit schon in Autos steckt, herzlich wenig – die Assistenzsysteme, die zunehmend verbaut werden, zeigen zumindest derzeit noch keine Wirkung.

Man kann viel über die Ursachen für die vielen Toten lamentieren, letztlich ist das System Verkehr, in dem wir uns bewegen, ein Auto- und kein Radfahrer- oder Fußgänger-System. Technische Assistenten und die Geborgenheits-Glocke, die ein modernes Auto über die Insassen stülpt, wiegen die Fahrenden in so große Sicherheit, dass hohes Tempo kein Gefühl der Unsicherheit mehr hervorruft. Und auch der Blick auf Telefon oder Navigationsgerät, das Fummeln am Radio, das Ticken einer schnellen Nachricht – geht doch nebenbei, das Auto kennt ja den Weg …

Aber der Trend zum Fahrrad macht das Leben auf den Straßen zunehmend komplizierter; die Beliebtheit des Pedelec verschärft die Lage nochmal. Besonders Senioren, die mit den E-Rädern wieder mobiler werden, verunglücken mit Pedelecs überproportional häufig im Straßenverkehr.

Das wird gerne darauf geschoben, dass Senioren unsicherer seien, mit dem hohen Tempo der ungewohnten Räder nicht klarkämen, ihre Reaktionsfähigkeit nachgelassen habe, sie generell eigentlich ein Verkehrshindernis seien, das dann auch noch über die Radwege pese. Die Schuldigen sind schnell gefunden – im Auto sitzen sie natürlich nicht.

Aber sind Sie schon mal als Fahrzeugführer im Stadtverkehr Senioren mit Pedelecs begegnet? Ich schon. Und die Einzige, die bei diesen Treffen gewisse Unsicherheiten an den Tag legte, war ich – weil mein Gehirn mir gemeldet hat: Fahrrad von hinten-rechts, graue Haare, Habitus eines älteren Menschen. Und noch während mein Gehirn damit beschäftigt war, meinen Füßen zu signalisieren, dass mehr als ausreichend Zeit ist, um ganz in Ruhe rechts abzubiegen, war das Gespann aus Senior und Pedelec schon rechts an mir vorbei. Vielleicht liegt es daran, dass Geschwindigkeit stabilisiert, aber wackelig war an den Gespannen nichts.

Technik hilft nur bedingt weiter, wenn die Vision Zero keine Vision bleiben soll. Vor allem, wenn zukünftig mehr Menschen auf Räder, E-Bikes und öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, denn damit steigt die Zahl derjenigen, die sich in die toten Winkel der Autos trauen, ungewohnt schnell sind oder sogar – auch wenn so viel Wagemut kaum vorstellbar ist – einfach über eine grüne Ampel gehen oder fahren. Damit das mit der Vision Zero noch etwas werden kann, muss unsere Vorstellung von Verkehr neu überdacht werden und wir müssen nicht nur Autos immer sicherer machen, sondern auch die Menschen darin und darum berücksichtigen.

(jsc)